28. März 2010

Zeitzeugen berichten: "Schwanger in Russland …"

Das große Leid der deportierten Deutschen aus Rumänien liegt weit zurück. Und doch kreisen viele ihrer Gedanken heute noch, nach 65 Jahren, um diese Zeit voller Verzweiflung, Hoffnung, voller Hunger nach Brot, nach Freiheit, nach Recht und Gerechtigkeit. In dem Artikel „Viele Fragen offen geblieben“ in der Siebenbürgischen Zeitung Online vom 7. März 2010 fragten wir nach den schwanger nach Russland ausgehobenen Frauen, den während der Deportation geborenen und gestorbenen Kindern. Drei betroffene Frauen meldeten sich zu Wort. Rose Schmidt, Autorin des erwähnten Artikels und eines Deportationsbuches, hat die drei Zeitzeugenberichte zusammengefasst.
Rose Schmidt schreibt:

Aus den Erzählungen schwangerer Frauen er­ahnen wir den entbehrungsreichen, leidvollen Weg, den sie in der Deportation gehen mussten, bis sie ihr Kind in Armen hielten oder beerdigten, bis sie die Heimfahrt antraten. Die vielen Frauen aber, welchen man gewaltsam ihr Kind abtrieb, schweigen. Vergessen werden sie wohl nie die Drohungen, die Angst, die unmenschliche Behandlung, mit welcher man sie zu der ungewollten Abtreibung schleppte. Viele sind seither unfruchtbar, können sich nie eines Kindes erfreuen. Und die Weltöffentlichkeit schweigt!

Elfriede Buchholzer, geborene Thellmann, erzählt:

Meine Mutter Anna Thellmann war auch schwanger, als sie 1945 nach Russland deportiert wurde. Daheim blieben drei Kinder, im Alter von zwei, vier und sechs Jahren, in der Obhut der Großeltern. Während der Zeit im Lager musste sie in einem Steinbruch schwer arbeiten. Doch sie hatte das Glück, von russischen Frauen mit Essen versorgt zu werden. Anfang Oktober 1945, mit dem ersten Transport, durfte meine Mutter auch nach Hause. Auf der Fahrt in einem Viehwagen bei Kerzenschein wurde ich dann am 13. Oktober bei Lemberg in Polen geboren. Meine Mutter war stark abgemagert und krank. Deshalb ist es ein Wunder, dass sie mit mir im Arm die weite Heimreise geschafft hat. Gelebt haben wir in Henndorf bei Harbachtal, von wo wir dann 1990 nach Deutschland gekommen sind. Meine Eltern lebten zuletzt bei mir in Fürth bei Nürnberg, wo mein Vater 2001 und meine Mutter 2003 verstorben sind. Meine Mutter hat uns sehr viel von dieser Russlandzeit erzählt.

Dagmar Herta Geddert erinnert sich:

Meine Mutter, Ilse Weißkop, geborene Krollowitch, wird schwanger aus Schäßburg nach Russland ausgehoben und lässt ein zweijähriges Kind daheim zurück. Im Lager Mospino waren während ihrer Schwangerschaft der tägliche, unerträgliche Hunger und die seelische Not ihre Begleiter. In ihrer Verzweiflung lernt sie tiefe Menschlichkeit kennen. Eine russische Bäuerin wohnt in der Nähe des Lagers, sieht die hochschwangere deutsche Frau und bringt nach der Geburt des Kindes, am 14. Juli 1945, jeden Tag ein Liter frisch gemolkene Kuhmilch unentgeltlich, für ihr Baby. Das war ihre und des Kindes Rettung. Ihr Kind, entwickelte sich gut und die Mutter überlebte auch. Mit dem ersten Kranken­transport im November 1945, schickte man Mut­ter und Kind mit der Drohung heim: Sollte das Kind während der Heimfahrt sterben, bringt man die Mutter ins Lager zurück. Die Fahrt war ein dreimonatiges Martyrium. Es wurde nur nachts gefahren. Das Kind hatte bei der Ankunft in Hermannstadt nur noch Haut und Knochen und große reflexlose Augen. In Hermannstadt übernahm Dr. Hager das halbtote Kind in seiner Kinderklinik in Pflege und nach monatelangem Ban­gen ging es bergauf. Das Mädchen konnte wieder lächeln, war gerettet. Heute lebt das in Russland geborene Baby, das heißt ich: Dagmar-Herta Geddert, gesund und dankbar in Nürnberg, hat selber eine Tochter, in England lebend. Auch Mutter lebt noch, kann sich aber an die schwere Russlandzeit nicht mehr erinnern.

Annemarie Müller schreibt:

Als 18-jährige Jungverheiratete wurden Anne­marie Müller, geborene Wagner, aus Heldsdorf, und ihr Mann, Simon Müller gebürtig aus Marienburg/Kronstadt, Pfarrervertreter in Heldsdorf, am 13. Januar 1945 nach Russland ins Lager 1204, Par Comuna bei Woroschilovgrad, zwangs­deportiert. Sie wohnten in getrennten Baracken, Männer und Frauen geteilt. Sim arbeitete von Anfang an im Schacht. Er musste schwer arbeiten, doch der Lohn war gering. Annemarie erwartete ihn anfangs, wenn er abends aus der Arbeit kam, mit zwei Schnitten gerösteten Brotes, von ihrer Tagesbrotration, und einem warmen Tee. Bis Sim kam, brach sie ein Krümchen, dann noch ein Krümchen vom Brot, am liebsten hätte sie gleich alles aufgegessen, doch er war auch so sehr hungrig, wenn er aus der Arbeit kam!

Doch dann musste auch sie schwer arbeiten gehen. Auf einem drei Kilometer entfernten Bahnhof verluden sie, eine Gruppe von acht Frauen, schwere, lange Baumstämme. Im Frühjahr merkt Annemarie zutiefst erschrocken, dass sie schwanger ist. Sim schließt sie in seine Arme und tröstet, Gott würde sie schon nicht verlassen, sie soll nicht verzagen. Oft weint sie kraftlos, voller Hunger sich in den Schlaf.

Am 9. Oktober 1945 kam ihre Tochter Rosemarie, im Beisein des Lagerarztes und der Kran­kenschwestern, auf einem Eisenbett auf zwei Brettern mit einem Leintuch bezogen, zur Welt. Ein kleines Würmchen, mit dunkeln Haaren hielt sie am nächsten Tag in Armen. „Ich hatte sie gleich so sehr lieb, unsere kleine Rosemarie“, heißt es. Die Nachgeburt drückten sie ihr am nächsten Tag heraus. Dann kriegte sie drei Wochen lang 40° Kindbettfieber. In der Zeit verlor sie die Muttermilch.

Sie wohnte mit noch neun Frauen und ihren Kindern in einem Raum. Nun kauften drei Mütter, welche mit ihr im Raum wohnten, täglich ein Liter frische Kuhmilch. Dafür verkaufte sie täglich ihre halbe Brotration, manchmal sogar ihrem Mann. Sie hätte das Brot vor Hunger auch gerne gegessen, doch das Kind musste überleben. Die von einer Russin gekaufte Milch trug zum Überleben der Kinder bei. Die Frauen koch­ten die Kuhmilch auf und kühlten sie ständig rührend aus. Einmal war Annemarie dran, doch während sie rührte, leckte sie ab und zu den Löffel ab. „Die Milch schmeckt herrlich“! Da schrie plötzlich eine der Frauen, ich würde den Kindern die Milch wegfressen, der Arzt kam gerade dazu und brüllte sie an, er würde sie in die Kohlengrube arbeiten stecken, wenn sie sich nicht zu beherrschen wisse. „Ich habe ja nur den Löffel abgeleckt“, jammert sie.

Rosemarie wuchs nicht, sie konnte gar nicht weinen. Wenn sie den Mund groß aufriss, gab sie nur ein schwaches Piepsen von sich. Am Hinterkopf erschien das „Eiterbeulchen“.

Abends sprachen sie mit Sim auch darüber, dass sie nur noch für zwei Wochen Lebensmittel für die Nahrung ihres Kindes kaufen kann: Zucker, Gries, Mehl, ohne die das Kind nicht leben könnte. Ihre guten Stiefel hatte sie verkauft, den Mantel für eine Wattejacke umgetauscht. Nun war nichts mehr da, ihr Kind musste verhungern. Dazu nahm die eiterige Entzündung am Kopf zu und aus einem Loch floss Eiter. Der Anfang vom Ende war da!

Von den 18 im Lager geborenen Kindern waren 15 uneheliche, elf waren bereits gestorben. Einige starben während oder nach der Geburt, oder nach zwei, drei Monaten an eiterigen Geschwüren am Hinterkopf, am Hals oder schwarzen Flecken am Bauch. Nun starben noch zwei der Kinder, die im gleichen Zimmer wohnten. Da kam die Rettung! Am 23. Dezember 1945, fuhr ein Krankentransport nach Rumänien. Alle Mütter mit ihren Kindern waren dabei. 22 Tage dauerte die Fahrt. Unter größten Schwierigkeiten, mit viel Kraftverlust, großer Angst um das Leben der kranken, wund gelegenen, unterernährten Kinder. Nur ein totes, eingewickeltes Kind drückten sie während der Fahrt einer verblüfften Russin in die Arme. Unter den primitivsten Reiseverhältnissen kamen sie müde, halb verhungert, voller Läuse daheim in Heldsdorf an. Mutter und Schwester erwarteten sie mit einem guten Bad und Essen. Dass sie in der Zeit, als sie sich im Bad erholte, ganz auf ihr Kind vergaß, schmerzte sie unheimlich. Nun nahm sie ihr frisch gebadetes, rein angezogenes und am Kopf verbundenes Kind schluchzend in die Arme: „Wie konnte ich dich vergessen“, jam­mert sie immer wieder.

Im Kronstädter Säuglingsheim wurde dann Rosemarie, drei Monate alt, mit 2,40 Kilo Lebendgewicht, wie bei der Geburt, mit Darmkatarrh, Lungenentzündung und eiterigem Abszess am Hinterkopf eingeliefert. Zweimal wurde sie zwecks Bluttransfusionen ins Krankenhaus gebracht und siebenmal am Kopf operiert. Doch sie überlebte. Nach drei Monate langer Behandlung merkte man eine Besserung. Nach vier Monaten durfte man sie nach Hause nehmen. Mit Tränen in den Augen dankte Annemarie den Schwestern für die vorbildliche, zärtliche, gewissenhafte Pflege ihres Kindes. „Wir haben nur Menschenmögliches getan, „Gott aber hat das Wunder vollbracht“, hieß es.

Zu den drei Zeitzeugen

Von Frau Buchholzer wissen wir: Während der Zeit im Lager musste sie in einem Steinbruch schwer arbeiten. Doch sie hatte Glück, von russischen Frauen mit Essen versorgt zu werden. Im Steinbruch zu arbeiten, ist für eine schwangere Frau eine schwere Belastung. Wahrscheinlich wurde sie von der Arbeit befreit, als man ihre Schwangerschaft feststellen konnte. Doch wie sie den Alltag überlebte, wissen wir nicht, von russischen Frauen wurde sie mit Essen versorgt, heißt es. Die Russen waren im ersten Jahr auch so arm wie die Deportierten. Sie wird wahr­scheinlich ab und zu ein paar Kartoffeln, Zuckerrüben, ein Stückchen Brot oder gar eine Suppe aus Mitleid bekommen haben, als die Rus­sinnen sahen, dass sie schwanger ist. Auf der Fahrt, heißt es weiter: „Sie war so stark abgemagert und krank, deshalb ist es ein Wunder, dass sie mit mir im Arm die weite Heimreise geschafft hat.“ Der Wille zum Überleben des Kindes stärkte sie.

Die Mutter von Frau Geddert kommt schwanger nach Russland, sie erwähnt unerträglichen Hunger und die Angst um das neue Leben in ihrem Leib, für welches sie sorgen will. In ihrer Verzweiflung erbarmt sich eine russische Bäuerin und bringt ihr jeden Tag ein Liter Milch. So konnten sie Mutter und Kind dank der Menschlichkeit einer armen Frau über­leben. Während der Fahrt konnte das Kind nicht gefüttert und gepflegt werden, hatte nur noch Haut und Knochen, es war dem Tode nahe. Bei der Ankunft daheim waren Dr. Hager und seine Krankenhelfer in seiner Kinderklinik in Hermannstadt die Retter des Kindes. Auch das Wunder hatte Gott vollbracht.

Frau Annemarie Müller kann das schwerste Erlebnis ihres Lebens nicht verkraften, bis sie nicht ihre Russland-Leidenszeit aufschreibt. Ihr Mädchen Rosemarie, das in Russland dem Tode so nahe war, hat auch mit 17 Jahren geheiratet, hat selber sechs Kinder geboren, aber das Erste starb nach 24 Stunden. Sie haben sieben Enkelkinder.

Rose Schmidt

Schlagwörter: Deportation, Zeitzeugenberichte

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