26. Juni 2012

Ein Modell für Siebenbürgen

Die Bistritzer evangelische Stadtpfarrkirche und der Turm werden für 15 Jahre an die Stadtverwaltung zur Renovierung und Nutzung verpachtet. Vor mehr als zwei Jahren stellte sich nach dem Kirchenbrand 2008 und den damals eingeleiteten Sofortmaßnahmen zur Wiederherstellung des Turms und des Kirchendaches auch die Frage der langfristigen Nutzung des Gotteshauses. Für die kleine evangelische Kirchengemeinde in Bistritz war der finanzielle Aufwand der Wiederherstellung eine nicht zu bewältigende Aufgabe. Mit der Ablehnung der gestellten Anträge an die EU wurde allen deutlich, dass nur die Bürgerschaft der Stadt mit Eigenmitteln aus dem Haushalt der Stadt als treuer Partner übrig geblieben war.
Über zwei Millionen Euro wurden in den letzten vier Jahren von der Stadtverwaltung für die Restaurierung des Turms und des Kirchendaches ausgegeben. Im Turm wurde ein Personenaufzug für Besucher im Wert von 70 000 Euro eingebaut und von Bischof Reinhart Guib kürzlich eingeweiht. Die Renovierung des Turms und des Kirchendaches ist nun abgeschlossen, die Mittel für Sofortmaßnahmen nach dem Brand sind aufgebraucht. Der Turm mit seiner Galerie in 38 m Höhe kann und muss für Besucher freigegeben werden. Die Kirchengemeinde ist nicht in der Lage, das Bedienungs- und Überwachungspersonal für den Lift und den Turm zu stellen. Außerdem ist mit Folgekosten für Strom und Instandhaltung zu rechnen. Anderseits ist diese Kirche mit dem höchsten Turm Siebenbürgens als Gotteshaus das Wahrzeichen der Stadt Bistritz und als solches auch als touristische Attraktion für Besucher aus dem In- und Ausland wichtig.

Die Kirchengemeinde sah sich veranlasst, die Stadtverwaltung als Partner für diese Aufgabe zu gewinnen. Dem Weitblick des Bürgermeisters Teodor Ovidiu Crețu und des Stadtrates ist es zu verdanken, dass die Stadtverwaltung sich in der Pflicht sieht, mittelalterliches sächsisches Kulturgut wiederherzustellen, zu pflegen und zu verwalten. Dafür war ein juristischer Rahmen zu finden, mit dem die Kirchengemeinde und die Stadtverwaltung diese Aufgabe erfüllen können. Von den Juristen der Stadtverwaltung und den Juristen der Landeskirche ist ein Vertrag ausgearbeitet worden, wonach das Nutzungsrecht auf 15 Jahre der Stadt übertragen wurde. Ursprünglich wollte die Kirchengemeinde die Verpachtung auf zehn Jahre beschränken, die Stadt wollte den Vertrag auf 49 Jahre festlegen. Durch Vermittlung des Vorstandes der HOG Bistritz-Nösen einigte man sich auf 15 Jahre, ein überschaubarer Zeitraum. Nachdem das Presbyterium und der Stadtrat dem Vertrag zugestimmt hatten, kam es am 1. Juni 2012 im festlichen Rahmen, unter Beteiligung der Öffentlichkeit und der Medien, zur Vertragsunterzeichnung mit notarieller Beglaubigung. „Ich danke allen Siebenbürger Sachsen, besonders der HOG Bistritz-Nösen, ebenso wie allen orthodoxen Bürgern, die den Wiederaufbau der Kirche tatkräftig unterstützt haben. Wir müssen die besten, korrektesten und ehrlichsten Formen der Verwaltung dieses wertvollen architektonischen Objekts finden“, äußerte Bürgermeister Ovidiu Crețu. Stadtpfarrer Hans Dieter Krauss fügte hinzu: „Wir sind zu wenige, wir sind zu schwach, um das Herz der Stadt, das 2008 brannte, zu erneuern, zu verwalten. Die hiesige Zusammenarbeit zwischen den Konfessionen, zwischen den Ethnien ist ein Modell für Siebenbürgen. Unser Herrgott möge den anderen einen Wink geben, ähnlich zu verfahren.“
Historischer Akt in Bistritz: Bürgermeister ...
Historischer Akt in Bistritz: Bürgermeister Ovidiu Teodor Crețu und Stadtpfarrer Johann Dieter Krauss unterzeichnen den Pachtvertrag; dahinter stehend Dr. Hans Georg Franchy. Foto: Horst Göbbel
Die Kirchengemeinde bleibt Eigentümer der Kirche und des Turms und kann diese, sooft sie es möchte, zu religiösen und kulturellen Veranstaltungen nutzen. Die Stadt verpflichtet sich, die Renovierung weiterhin im Einvernehmen mit dem Eigentümer zu betreiben. Die Stadt hat das Recht, die Kirche und den Turm für religiöse und kulturelle Veranstaltungen und auch touristisch zu nutzen, ohne dass dabei der kirchliche Charakter des Baudenkmals beeinträchtigt werden darf. Die Stadt trägt alle Kosten der Nutzung und Instandhaltung und Betreibung des Lifts. Beide Parteien können nach Ablauf der Frist den Vertrag verlängern oder kündigen.

Ab dem 7. Juni 2012 war der Aufzug für zehn Tage kostenlos für Besucher in Betrieb. Seither kann eine Besichtigung der Stadt vom Turm aus zunächst nur am Wochenende kostenpflichtig geschehen. Auch die Kirche soll für Besucher an Wochenenden geöffnet sein. Der Besuch der Kirche war in der Vergangenheit für Touristen nur sehr eingeschränkt möglich.

Diese Vorgangsweise, ein Nutzungsvertrag verbunden mit Renovierung und Instandhaltung, ist einmalig in Siebenbürgen. Das Engagement der Stadt mit über 95% rumänischer Bevölkerung für ein gewichtiges Objekt des sächsischen Kulturerbes ist beachtenswert und vorbildlich. Dies ist dem guten partnerschaftlichen Umgang der Kirchengemeinde, der HOG Bistritz-Nösen mit einem weitsichtigen Bürgermeister und Stadtrat zu verdanken. Es wäre zur Rettung des materiellen Kulturerbes der Siebenbürger Sachsen gut, wenn es noch zahlreiche Nachahmer geben würde.

Dr. Hans Georg Franchy

Schlagwörter: Bistritz, Kirche, Stadt

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Neueste Kommentare

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