„Ehrenplatz im Jenseits“ – nachrufende Gedanken eines Freundes anlässlich des letzten Lyrikbandes des am 6. Juli verstorbenen Schriftstellers Franz Hodjak
An eines der vielen Gespräche mit Franz Hodjak erinnere ich mich besonders gern. Ich war in den Endneunzehnhundertsiebzigern in meinem Literaturverständnis zeittypischen Irrungen verhaftet. „Engagiert“ habe Literatur zu sein, Geißel der malignen sozialen und politischen Verhältnisse, kritisch bis ins letzte Wort hinein, zweckgebundenes sprachliches Kunstwerk, mitunter mehr aktivistisches Werk als Kunst. Nur unter dieser Voraussetzung sei auch Subjektivität zulässig.
Das Gedicht liebes maß von Franz Hodjak passte vordergründig nicht in diese Schublade. Aber er warb dafür mit seinem typischen, milde-fragenden Lächeln. Der größte Affront gegen den erstarrten real existierenden Sozialismus spätstalinistischer Prägung sei eben die Betonung der Subjektivität – selbst dann, wenn sie als scheinbar biedermeierlich angehauchte Privatheit daherkomme. Recht hatte er, wie so oft! Ich nahm den Text in die staatlich nicht genehmigte Lyrikanthologie „die bewegung der antillen unter der schädeldecke“ (19801, 20222) auf. Es ist für mich eines seiner bezeichnenden Gedichte: Schlicht in der Diktion, in einer brillanten Textur der vermeintlichen Einfachheit gehalten, gleichermaßen erdenschwer wie leicht, illusionslos, in existenzieller Demut geschrieben – bedenkt man den zeithistorischen Kontext. Zwar ist es vordergründig ein Liebesgedicht, aber es weist deutlich darüber hinaus: „liebes maß / ein zimmer nicht zu eng nicht zu weit / ein gefühl wie überdruss / fenster und türen fest zugeschneit / zeit im überfluss / in der ecke ein waschgestell / im ofen ein knistern und prasseln / wie fernes hundegebell / etwas schnaps in den tassen / etwas wein in den krügen / ein paar sorgen so leicht wie schwer / und ein bett wo wir uns zärtlich belügen / was wollen wir mehr“.
Auch in seinem letzten Gedichtband „Ehrenplatz im Jenseits“ tönt es – ich bin versucht zu sagen: vom festen Sockel des Klassikers – aus den Gedichten Franz Hodjaks wie eh und je: sprachgewaltig trocken, sachlich desillusioniert, manchmal im schnoddrigen Parlando, manchmal in aphoristischer Verknappung, dann wieder in zärtlicher Bewegtheit. Die Betrachtungsperspektive ist oft ironisch und selbstironisch, Humor wird mit Skepsis grundiert, Lebenserfahrung mit Weisheit veredelt, Weltsicht mit Beherrschtheit gepaart. Der Drang nach innerer Freiheit ist suchtartig intensiv, der Vereinnahmung durch falsches Bewusstsein – Hoffnungen, Illusionen, Ideale, (literarische) Moden u. Ä. – wird ein eherner Riegel vorgeschoben.
Franz Hodjak ist der Philosoph unter den deutschen Lyrikern. Nicht, dass er ein Adept der wissenschaftlichen Disziplin gewesen wäre. Nichts lag ihm ferner als das. Aber seine lebenslange Suche nach Erkenntnisweite und Erklärungsmustern, nach der Unterscheidung von Gut und Böse, Falsch und Richtig, nach der Natur der Wirklichkeit und den grundlegenden Ordnungsmustern des Seins, nach dem Verhältnis von Sprache und Realität, nach den Möglichkeiten, Bewusstsein künstlerisch präzise zu codieren – dieses unermüdliche lyrische Abhandeln dessen, was man gemeinhin Leben nennt, macht ihn unverkennbar zum poetischen Denker, der nicht nur bohrende Fragen stellt und konfliktreiche oder gar absurde Lebensausschnitte in Bilder bannt, sondern der auch Antworten gibt: Und diese sind meist die des Stoikers. „Was wollen wir mehr?“ – Dasein ist einigermaßen erträglich, wenn wir es nicht allzu ernst nehmen und uns keinerlei Hoffnungen oder Illusionen machen.
Den Buchmuschlag schmückt Franz Hodjaks Porträt von Hubertus Giebe.
Literatur kann das erdenschwere Leben zu vermeintlicher Trivialität degradieren. „(…) Du / musst die wildesten Geschichten / erfinden und sie so erzählen, dass / jeder überzeugt ist, dein Leben / hat sich gelohnt.“ (Austausch, 56) Das ist mit der Leichtigkeit des Seins eines Schelms geschrieben. Das erdenschwere Sein ist in Wahrheit nicht trivial, es kann äußerst beschwerlich sein und es ist in letzter Konsequenz zwingend tödlich. Aber der Dichter hat es in der Hand, die Erdenschwere aufzuheben, er kann die Dramatik trivialisieren und ihr das Spektakuläre nehmen, er kann sie entschärfen, indem er sie bagatellisiert, er kann die Tragik des unsinnigen Lebens downsizen, indem er sie nicht wichtig nimmt. Er diskreditiert sie, wenn er existenziellen Ernst antäuscht, aber ihr das Verhängnisvolle durch Humor und Ironie, durch logische Kontrapunktik wegnimmt: „und die Hoffnungen, wenn sie sich / erfüllten, wären / keine Hoffnungen mehr.“ (Sonntage, 14)
Der Stoiker ist ein Lebenskünstler. Umso mehr, wenn er es nicht im realen Leben ist, sondern wenn er den Stoizismus von seinem lyrischen Ich durchdeklinieren lässt. Leben bedeutet Dichten. Keiner hat wie er nach dieser Formel gelebt. Ihr hat er buchstäblich alles untergeordnet. Leben ohne Dichtung ist nichts. Schreiben ist Befreiung. „unsere Lieder sind nichts anderes als Versuche, / uns aus den Fallstricken der Welt zu befreien.“ (Mag sein, 47)
Leben wird vom Zufall regiert, dessen Wirken gemeinhin als Schicksal benannt wird. Die abgegriffene Vokabel „Schicksal“ wird freilich in Franz Hodjaks Gedichten sehr selten bemüht, vielmehr werden die lyrischen Inhalte von Kategorien wie „Zufall“, „Zeit“, „Augenblick“ („Jeder Augenblick ist / ein Jetztodernie.“ Jetzt oder nie, 110) in die beabsichtigte Choreographie gefügt. „Egal, was passiert, // es passiert alles / nach den exakten Berechnungen / des Zufalls. (Triptychon 9, 45) Ringen wir uns dazu durch, dieses existenzielle Axiom zu akzeptieren, dann ist das der Königsweg zu Weisheit und Geläutertheit, zu innerer Ruhe und Gelassenheit. Das ist die Lebens- und Ästhetikformel seines lyrischen Ichs.
Franz Hodjak ist auf weiter Flur einer der wenigen Coolen der neueren deutschen Literatur – aber beileibe nicht im Sinne von Gleichgültigkeit und Unbekümmertheit, sondern vielmehr als Ausdruck von disziplinierter Gefasstheit und erstrebenswerter Unaufgeregtheit. Seine Coolness ist der Schutzschild, den er zwischen die Welt und seine Verletzlichkeit hochstemmt. Sie ist aber auch der Ausdruck von Power und Standfestigkeit. Der Sensible und scheinbar Schwache ist der eigentliche Starke: „Wer hart im Nehmen / ist, ist stärker, wenn / es darum / geht, in Frieden / zu leben.“ (Beruhigend schwach, 16)
Gerade diese Coolness lässt das lyrische Ich Franz Hodjaks emotionsgeladen-stoisch agieren. Ähnlich einem Vulkan, der an der Oberfläche ruht, bestenfalls harmlose Fumarolen ausstößt, aber in der Tiefe rumort und gewaltigen Druck aufbaut. Der Stoiker versucht, das Leben philosophisch zu bewältigen. Sein Rüstzeug ist der distanzierte Blick, sein Standbein ist die Gelassenheit, sein Glaube ist der misstrauische Zweifel, seine Perspektive ist die Abwehr jeglicher Vereinnahmung durch Ideologien und Moden, sein Werkzeug ist das Paradoxon, sein ganzes Streben gilt der geistigen Freiheit. „Und wer an Wunder glaubt, sucht ein Leben lang / nach Türen, die es nicht gibt. (Adams You Tube Kanal, 20)
Mir will scheinen, dass Franz Hodjak auch durchaus ein Kind des Existenzialismus der 1960er Jahre ist, da dieser dominante geistige Impuls beispielsweise durch die Kafka-, Sartre- und
Camus-Rezeption nicht an ihm vorbeigegangen sein kann: Das Leben ist absurd, Sinnsuche ist vergebens. Hoffnung, Sinnhaftigkeit, Glaube an etwas sind Illusionen und Blendwerk. Viele Gedichte von Franz Hodjak atmen förmlich das „Zur-Freiheit-verurteilt“-Sein Jean-Paul Sartres, zeichnen die „Geworfenheit des Daseins“ von Martin Heidegger nach. Hodjak weiß, dass er Sisyphos ist: So what? Er schreibt dagegen an, das ist das Einzige, was er dem Absurden, der Kälte der Entfremdung, in letzter Instanz selbst dem Tod entgegensetzen kann: nämlich den schöpferischen Akt der lyrischen Sprachverdichtung von Welt- und Icherfahrung. „Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen“, befindet Camus in seinem wegweisenden kulturphilosophischen Essay „Der Mythos des Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde“ (dt. erstmals 1950). Mehrfach tauchen in Franz Hodjaks Ge-dichten existenzialistische Bilder auf: „Zuweilen ist einem auch zumute, / als wäre man gerade vom Himmel gefallen.“ (Wie der blaue Wind, 41)
Biographisches – wie könnte es auch anders sein – scheint in vielen seiner Gedichte durch, so seine Übersiedlung im Jahr 1992 von Rumänien nach Deutschland, die er durchaus als Bruch sieht. In Ballade vom Fliegen versteht Franz Hodjak sein Leben im letzten Abschnitt als Odyssee. Er startet mit hochfliegenden Träumen und endet mit einer fatalen Bruchlandung. Die Odyssee gleicht also mehr dem Absturz des Ikarus als der beherzten Heimkehr des Odysseus. So wird auch in diesem Fall ein Bild kontrapunktisch gebrochen. Ithaka ist keine Heimkehr, „Du / wolltest nie ankommen in Ithaka.“ Mehr noch: Ithaka entpuppt sich als Chiffre für die schmerzhafte Zäsur eines unumkehrbaren Identitätsverlusts: „Seither bist du / nur noch eine Nummer, / die zwischen anderen Nummern / liebt und lebt.“ (Ballade vom Fliegen, 17).
In Deutschland ist Franz Hodjak beachteter Suhrkamp-Autor und wurde mit Preisen und Stipendien überhäuft. Dennoch empfindet er sich nur als „Nummer“ unter anderen Nummern. Dieses Gefühl ist wohl ursächlich auf die Reduzierung des Wirkkreises und den Bedeutungsverlust in Deutschland zurückzuführen. In Rumänien war Franz Hodjak nicht nur anerkannter Autor, der Schule gemacht und junge Autoren beeinflusst hat (etwa: Rolf Bossert, Werner Söllner, Klaus Hensel, Helmut Britz), sondern er war auch Verleger. Als Verantwortlicher der deutschsprachigen Abteilung des Klausenburger Dacia-Verlags war er als Einzelkämpfer ähnlich signifikant wirksam wie die Kollegen des machtpolitisch ungleich einflussreicheren und ressourcenstarken Kriterion-Verlags in Bukarest, der immerhin einem ZK-Mitglied der kommunistischen Partei unterstand. Als Verleger und Gestalter der bestimmenden Prozesse der Blütezeit der Deutschen Literatur Rumäniens in den 1970er, 1980er Jahren war er – anders als sein lyrisches Ich – weder stoisch noch illusionslos, sondern äußerst aktiv, mutig und erfolgreich. Umso befremdlicher wirkt es, dass die bio-bibliographischen Angaben in Ehrenplatz im Jenseits teilweise ausschließlich die Zeit nach 1990 reflektieren, indes die prägenden ersten zwei Jahrzehnte seines Wirkens ausgeblendet werden.
Die Literatur aus den ehemals deutschsprachigen Regionen Rumäniens – Siebenbürgen und Banat – liegt auf der Matte und ist angezählt. Das letzte Aufgebot einer markanten Sparte der deutschen Literatur ist hochbejahrt. Jährlich, ja monatlich ist mit Neuzugängen im Sterberegister dieses nicht unbedeutenden Zweiges der deutschen Gegenwartsliteratur zu rechnen. Es ist die sogenannte rumäniendeutsche Literatur, die leider bei Vielen aus geistiger Trägheit noch immer so heißt, obwohl nur zwei große Erzähler unverdrossen die Persistenz dieser Literatur in der alten Heimat zelebrieren, indes die meisten ihrer Vertreter seit vielen Jahrzenten einen guten Job in der neuen (fremden?) Heimat Deutschland machen. Hier sind sie in nicht unerheblichem Maße am literarischen Entwicklungsprozess der letzten Jahrzehnte beteiligt gewesen. Sie waren Chefs von bedeutenden Literaturhäusern (Frankfurt a.M., Berlin), sie haben den Büchner- (Oskar Pastior) und den Nobelpreis für Literatur (Herta Müller) gewonnen, um nur die Spitzen des Eisbergs herauszuheben, der bekanntlich zum allergrößten Teil unter der Wasseroberfläche dahintreibt. Aber in den literarischen Feuilletondiskurs wurden sie im Wesentlichen mit zwei reißerischen Themen hochgeladen: Mit dem Thema „Aktionsgruppe Banat“, in Teilen einer späten Mythenbildung durch rührige Lobbyarbeit zu verdanken, sowie mit dem Thema „Securitate-Verstrickungen“. Als das Exotische und Skandalöse der Fakten und Fakes ausgelutscht waren, war auch das Thema rumäniendeutsche Literatur nicht mehr von Interesse. Es konnte zur Tagesordnung übergegangen werden: Nämlich beharrlich die Ränder, das Eigen- und Fremdartige, zu ignorieren! An dieser Malaise hat auch das epochemachende Werk Franz Hodjaks bedauerlicherweise nicht viel geändert.
Sehr berührt haben mich die emotionsstarken elegischen Töne, wenn er Kindheitserinnerungen oder Siebenbürgisch-Heimatliches evoziert. Hier gestattet sich der in der Regel alles scharf Trennende ein hohes Maß an Affektivität und zärtlicher Empirie. Der ansonsten nicht heimatduselnde Lyriker entwickelt bei heimatlichen Themen eine geradezu bezaubernde Feinnervigkeit: „Die Augen an den Rebstöcken // sind die Nachfahren der Augen, die mehr / als nur Unglaubliches gesehen haben.“ (An den Kokeln, 83). Oder: „Im Winter / rieben wir Knoblauch auf / geröstetem Brot gegen Husten und / Schnupfen und freuten uns, wenn / an den Fensterscheiben Narzissen aus Eis / blühten.“ (Die ersten Kraniche, 119). Und auch dies: „Die Blicke der Mutter sind auf dem Rückzug. / Der Papagei fehlt, das Meißner Porzellan, / man ahnt, das große Fehlen hat begonnen.“ (Stillleben, 132)
Dem letzten Gedichtband Franz Hodjaks sind Farbgrafiken seiner Tochter Astrid Hodjak beigegeben, die zum betrachtenden Innehalten auffordern. Meist zeigen sie große zerklüftete grau-blaue Farbflächen, die von Linien, bunten Tupfern, freien Formen und Zäsuren durchfurcht oder gesprengt werden: Die Seelenlandschaften der Künstlerin sind nicht weniger komplex als die des Lyrikers und weisen eine ähnliche Formstrenge auf. Astrid Hodjak meinte dazu, ihre Bilder stünden den Gedichten des Vaters gegenüber und gingen der Hoffnung nach, „in den jeweils anderen hineinzublicken und ihn anzutreffen“. Ein einfühlsames Begleitwort des Freundes und Lyrikers Horst Samson sieht in Hodjak einen „unverkennbaren Solitär“, dessen „schwere Leichtigkeit der Dichtkunst“ Maßstäbe setzt.
Franz Hodjak wurde in den letzten dramatischen und dennoch beeindruckend produktiven Jahren seines Lebens – andere sind zusammengebrochen und verstummt – von mehr als nur einer Ahnung vom Jenseits verfolgt. Aber in den Fängen dieser mystischen Ambiguität wollen wir ihn nicht belassen: Ihm und seinem lyrischen Ich gehört zweifelsfrei einer der raren Ehrenplätze in unserem Diesseits! „Ich wohne in einem / Sowohlalsauch, / und meine Worte werden die / empfangen, die mich suchen, wenn / ich nicht mehr bin.“ (Meine Worte, 10)
Walter Fromm
Franz Hodjak: „Ehrenplatz im Jenseits“. Gedichte. Mit elf Illustrationen von Astrid Hodjak. Pop Verlag, Ludwigsburg, 2025, 146 Seiten, 21,50 Euro, ISBN 978-3-86356-361-5.
Zum Kommentieren loggen Sie sich bitte in dem LogIn-Feld oben ein oder registrieren Sie sich. Die Kommentarfunktion ist
nur für registrierte Premiumbenutzer (Verbandsmitglieder) freigeschaltet.