„Der Pfarrer arbeitet ja nur am Sonntag“, haben wir alle schon mal gehört und wissen, dass dies nicht einmal auf ein beschauliches kleines Dorf von 400 Seelen hinter Gottes Angesicht zutrifft, sondern eher als Witz gemeint ist. Stolzenburg jedenfalls war alles andere als ein beschauliches Dorf, und der Pfarrer hatte etwas mehr zu tun als nur die Sonntagspredigt vorzubereiten und Konfirmandenunterricht zu halten.
Bei dieser „stattlichen“ Gemeinde von ca. 1500-1600 Seelen fielen täglich umfangreiche Büroarbeiten an, zumal der Pfarrer keine Sekretärin hatte wie sein Großauer Amtsbruder und Gevatter. An die 35-40 Taufen sowie 15-20 Trauungen waren jedes Jahr zu vollziehen und ungefähr ebenso viele Beerdigungen, außerdem alles sauber und schriftlich in den sog. „Matrikeln“ fortzuschreiben. Obendrein die Prüfung der Finanzen und Weiterleitung der durch die Presbyter eingetriebenen Kirchensteuern, dann Korrespondenz mit dem und Berichterstattung an das Bezirkskonsistorium, Mittelbeschaffungen bei Kirche und Staat sowie Koordination der ständig anfallenden Reparaturen an Kirche, Burg, Kirchendiener- und Predigerwohnung. Der Pfarrer war alles in einer Person: Geistlicher, Prediger, Seelsorger, Lehrender, sein eigener Sekretär, Finanzbuchhalter und Bauherr.
Ein Koffer voller Briefe aus der Stolzenburger Vergangenheit: Briefe aus dem Nachlass des Pfarrers Ernst Otto Schneider. Foto: Astrid K. Thal
Ein alter, brauner „Vulkan“-Koffer mit Briefen aus den 50er, 60er und 70er Jahren, säuberlich und chronologisch gebündelt, lag Jahrzehnte unbeachtet auf meinem Dachboden. Eine Durchsicht fördert nun Interessantes zutage. Was ist da nicht alles dabei: Pfarrerskollegen, die Auskünfte über abgewanderte Personen der Gemeinde wünschten; umfangreiche Korrespondenz mit dem Leiter der Organistenschule in Baaßen, in der es um unseren Organistennachwuchs ging, usw. Aber auch viel „fachfremde“ Korrespondenz: Anfragen von Ärzten, Anwälten, Professoren und Diplomaten aus Bukarest, Neumarkt am Mieresch (Târgu Mureş) und Klausenburg, die ein Kindermädchen oder eine Haushälterin suchten, ein pensionierter Pfarrer, der sein Ornat veräußern wollte, oder jemand, der erfahren wollte, wo man Bockelnadeln erwerben kann. Dann war da noch sehr viel Post von deutschen und Touristen aus aller Welt, die nach ihrem Besuch in Stolzenburg in ihren Briefen überschwänglich dafür dankten, dass der Pfarrer sie in Kirche und auf der Burg herumgeführt und ihnen Einblicke in die Kultur und Geschichte von Stolzenburg und Siebenbürgen gewährt hatte. Manchmal kamen ganze Busse mit Touristen. Auch für die nahm er sich Zeit, dann musste halt die Büroarbeit nachts erledigt werden. Bei einer dieser Gelegenheiten drückte eine dankbare westdeutsche Touristin dem erstaunten Pfarrer eine D-Mark als Trinkgeld in die Hand! Besonders begeistert waren die Urlauber in ihren schönen Westautos, wenn sie dem Sonntagsgottesdienst beiwohnen und die Stolzenburger Tracht bewundern konnten. Und alle staunten, dass sowohl im Gottesdienst als auch bei zufälligen Begegnungen mit Dorfbewohnern auf der Straße reinstes Schriftdeutsch gesprochen wurde. Die Touristen revanchierten sich für das Erlebte, indem sie die Trachtenfotos später an den Pfarrer schickten mit der Bitte, sie den betreffenden Personen auszuhändigen. Auch ausgewanderte oder durch den Krieg im Westen verbliebene Landsleute wandten sich des Öfteren an den Pfarrer wegen Auskünften über ihre Verwandten, etwa wegen Erbschafts- oder Lastenausgleichsangelegenheiten oder weil sie Bestätigungen zu standesamtlichen Daten aus dem Pfarramt benötigten (Ahnenpässe!). Und alles erledigte der Pfarrer, getreulich und gewissenhaft.
Ein nach Österreich ausgewanderter 77-jähriger Stolzenburger, Veteran des Ersten Weltkrieges, schreibt, dass nur die schöne Stadt Wien und seine beiden fürsorglichen Söhne sein Heimweh etwas erträglicher machen konnten.
Ganz besonders beeindruckend ist ein Brief von Ostern 1959 vom anderen Ende der Welt: Es ist ein zweiseitiges Schreiben einer zu ihrer Tochter nach Peru ausgewanderten Stolzenburgerin: „Heute ist Erster Ostertag (= Ostersonntag). Ich war allein, aber im Geist war ich drüben (=daheim) an meinem Platz in der Kirche und bei der Begleitung (sog. „Oisterbegloit“) auf dem Pfarrhof. Alle Osterlieder und das Osterevangelium habe ich gelesen und habe mich satt geweint über die große Gnade, die der liebe Gott den Menschen hat zuteilwerden lassen.“
So viel Dankbarkeit und Gottvertrauen, nachdem der Krieg und die Deportation viele Familien zerstört, auseinandergerissen und in alle Welt verstreut hatten! Unter anderem fragt die Auswanderin nach der neu eingeführten Gasheizung im Heimatdorf und auch nach der Familie des Pfarrers. Sie bedauert, dass er, der Pfarrer, seinen Bruder im Krieg verloren hat. Nach ihrer zweiten Tochter Lisi erkundigt sie sich auch, die noch in Siebenbürgen, aber nicht mehr in Stolzenburg lebt.
Aber lassen wir die Agnetha S. selber in ihren eigenen Worten vom Leben auf der Farm ihrer Tochter in Peru erzählen: „Wir haben 150 kg Kaffee (fertig getrocknet) geerntet. Er wird so lange in der Sonne getrocknet, bis man die Bohne nicht mehr zerbeißen kann.“ Und: „In nächster Zeit ist der Reis reif, der wird geschnitten wie bei uns zu Hause das Korn und auf einer Maschine geschält. Auch ein großes Feld mit Mais haben wir zum Abnehmen. Wir haben viele Hühner, davon wir jede Woche eines schlachten, manchmal auch zwei, wenn’s kein Rindfleisch gibt. Mariechen kocht sehr gut. Und dann jeden Tag am Nachmittag den guten Kaffee. Am Abend Tee mit Zitrone und Konservenfleisch und gekochte Eier. Einen Eisschrank haben wir auch, damit uns nichts verdirbt.“
Und weiter erfährt man: Ihre jüngere Enkeltochter geht in Lima in die deutsche Schule, während die ältere Kindermädchen in New York ist und dort einen Amerikaner heiraten wird. Zum Schluss sendet sie Grüße in die Heimat und findet am seitlichen Rand des engbeschriebenen Briefbogens noch Platz für: „Eine schöne Predigt von Ihnen würde mir wohl tun.“ Wie freut mich diese Wertschätzung vom anderen Ende der Welt für den siebenbürgischen Dorfpfarrer! Ich hüte diesen Brief von 1959 wie einen Schatz, obwohl ich Frau S. nicht gekannt habe.
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