11. Mai 2006

Randnotizen zum Baaßner Heimattreffen in Dinkelsbühl

„Was suchst du in Dinkelsbühl? Ich habe mit Baaßen abgeschlossen!“ Kalt und souverän klingt es aus dem Telefonhörer. Ja, was suche ich dort? Die Frage habe ich mir gar nicht gestellt. Ich weiß einfach, dass es mich hinzieht. Das versteht auch mein Mann, obwohl er ein Banater Schwabe ist. Und so verschieben wir unsere Abfahrt ins Burgenland.
Es ist ein heller Morgen, die Fahrt geht zügig, problemlos parken wir unseren Wagen gegenüber der Schranne. Die empfängt uns eingerüstet, mit offenem Portal. Es scheint düster und leer in dem behäbigen Inneren. Nur die Stimmen locken. Sie kommen von oben, sie verleiten uns. Wir steigen die Treppen hoch, das Sächsische wird immer klarer. Dann sehn sie uns. Die Hanni Fleischer kommt lachend auf uns zu, sie hält ein Stück Stretzel in der Hand, von dem sie vorher abgebissen hatte. Der Baron, der Misch, breitet die Arme aus. Er fliegt uns entgegen. Alle kommen sie. Der Heinz, der Umling, die Christa, seine Frau, der Hirling Willi und seine Anneliese. Dem Baron seine Hanni streckt uns einen Teller mit Gebäck entgegen. Junge fröhliche Menschen, einstige Schüler von mir. Sie schmücken den Saal, sie decken die Tische, sie füllen eine unendliche Reihe von Tellern mit Stretzel und umhüllen die prallen Gebilde mit durchsichtiger Folie. Seit dem frühen Morgen stehen sie sicher schon hier. Sie haben alles vorbereitet, sie haben sich große Mühe gegeben. Ich bestaune die geschmückten Tische. Der Baron erklärt meinem Mann die alten Fahnen. Er hat sie von drüben gerettet. Über eine große Leinwand laufen Bilder. Das Baaßner Kirchenportal, die grauen Steine warten. Keiner geht hinein. Die Häuserreihe auf der gegenüberliegenden Seite tanzt vorbei, langsam, ganz langsam. Ein Schleier legt sich über meine Augen. Die Häuser scheinen Riesenfrauen zu sein, in Tracht gekleidet, erstarrt in alle Ewigkeit. Dann schleicht das orthodoxe Kirchlein heran, es steht ganz braun auf seinem Hügel. Warum haben sie es so dunkel gestrichen? Es war doch weiß in meiner Kindheit. Weiß und heiter. Schwebend leicht bin ich mir als Kind da drinnen vorgekommen. Traurig zittert das Kirchlein über die Leinwand hinweg.

Auch wir wollen die Vorstandsmitglieder der Baaßner HOG bei ihrer Arbeit nicht mehr stören. Wir ziehen uns in die Ecke eines nahen Gasthofes zurück. In Dinkelsbühl ist Karpfenzeit und der junge Spargel ist auch schon da. Auch die Mode des Kakaotrunks ist angekommen. In allen Varianten wird die dunkle Bohne angepriesen. Sogar die Meinung des ehrwürdigen Geheimrats von Goethe wird in der Werbung dafür bemüht.

Die Zeit rückt heran. Wir gehen zum Wagen, ich brauche den Fotoapparat. Ein älterer Herr humpelt über die holprigen Pflastersteine den leichten Hang herunter. Man begrüßt sich, man ist ergriffen. Die Herrn haben sich 30 Jahre nicht gesehen, sie waren früher irgendwie Arbeitsko1llegen. Man wird nachher noch reden, man muss die Riesi begrüßen, eine Studienfreundin, die kommt mit ihrem Mann. Sie trägt Schwarz, sie trauert um ihre Mutter. Man schüttelt Hände, man findet die passenden Worte schwer. Man bedauert die Sofi, sie hat den Coco verloren. Wir haben sie im vergangenen Herbst noch erlebt, im Burgenland, am·Neusiedlersee, auf dem 50-jährigen Klassentreffen der Ackerbauschüler aus Elisabethstadt. Sie waren aus Bistritz gekommen, die Sofi und der Coco. Man war in der gleichen Studentengruppe gewesen, damals in Klausenburg. In Sekunden spulen wir die Vergangenheit ab. Neben unserem Wagen steht plötzlich die Tini. Die Nober Tini aus meiner vierten Klasse. Damals hatten wir unserem Fräulein zum Namenstag einen kleinen Hund geschenkt. Wir lachen über die dumme Geschichte vom mondsüchtigen Brejem ....Die Erinnerung lässt uns noch nicht im Stich. Hinter meiner Schulter erscheint ein Blondschopf. „Kennen Sie mich noch?“ „Ja, du bist die Heidi, die Tochter von der Tini.“ „Ich war ihre Schülerin.“ „Ich weiß.“

Vor der Schranne werden immer mehr und mehr. Wir gehen hinüber. Wir ergreifen Hände. Eine schlanke Dame in Schwarz stellt sich mit glänzenden Augen vor mich. Ich schüttle den Kopf. „Aber kennen Sie mich wirklich nicht mehr?“ Es ist die Stimme. Ich sehe das zarte Mädchen vor mir, ruhig und bescheiden. Sie wusste auf alles eine richtige Antwort. All die Jahre habe ich mich gefragt, wo sie wohl sein könnte und was aus ihr geworden ist. Sie stellt mir ihren Mann vor und ihre beiden Töchter. Schöne Mädchen. Von überall strecken sich uns Hände entgegen, lachende Gesichter rufen meinen Namen. Man freut sich, man begrüßt sich. Man gelangt zur Eingangstür. Dort steht ein kleiner, schmächtiger Herr, im grauen Anzug. Er steht allein. Beherrscht und selbstbewusst blickt er in die Menge. „Das ist der Nelu. Wir haben ihn zum Treffen eingeladen“, erklärt eine Stimme neben mir. Ich habe seinen Vater gut gekannt. Er war der Titu, der Nelu. Die größte Respektsperson und der, der die Geschicke der ganzen Gemeinde lenkte. Leise, aus dem Hintergrund, mit klarem Kopf. Umarmungen, Händeschütteln. „Doar și eu v-am fost elev.“(Auch ich war doch ihr Schüler). Es klingt wie ein leiser Vorwurf. Und plötzlich weiß ich, was ich in Dinkelsbühl suche. Meine ehemaligen Schüler aus dem „Hier" treffe ich täglich, in der S-Bahn, beim Arzt, in den Geschäften, auf dem Markt. Mit ihnen teile ich meinen Alltag. In Dinkelsbühl will ich die Menschen sehn, die einst in Baaßen meine Schüler waren. Ich will ihre Hände schütteln, ich will ihr Lachen hören, ich will ihre Kinder sehn. Ich will erleben, dass sie „Hier“ angekommen sind. Aber auch ihre Seufzer will ich hören, von ihrem Kampf will ich erfahren, dem alltäglichen und dem titanischen, wenn die DNS entgleist, wenn man Chemie und Bestrahlung ertragen muss. Das alles gehört zum Leben, zu meinem Leben. Beim Abschied begleitet uns der Nelu kurz. Er hat Sport studiert und ist jetzt Bürgermeister in Baaßen. Er wird allen erzählen, dass er mich getroffen hat. Er wird ihnen Grüße ausrichten und sie werden sich sicher alle freuen. „Denn Sie haben ja auch uns unterrichtet. Und Sie waren ja auch unsere Direktorin.“ Ich verspreche ihm zu kommen, wenn ich gesund bleibe. Ich will sie sehen, meine vergessenen Schüler, den Titi, den Florin, die Gena, den Nuțu und alle andern.

Christine Franck, Gröbenzell



Schlagwörter: HOG-Treffen, Dinkelsbühl

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