5. Dezember 2012

Erlesene Qualität: Dagmar Dusil und Peter Szaunig im Stuttgarter Haus der Heimat

Am 16. November 2012 kamen die Zuhörer in Stuttgart bei der Lesung von Dagmar Dusil und den Klavierstücken von Peter Szaunig in den Genuss von erlesener Qualität. Siegfried Habicher stellte die beiden vor; Dagmar Dusil ist ja – zumindest den Hermannstädtern – schon lange ein Begriff. Ihr „Blick aus dem Küchenfenster“ oder die „Hermannstädter Miniaturen“ sind Kleinode, das an diesem Abend vorgestellte Büchlein „Wie die Jahre verletzen“ stellt allerdings eine Steigerung dar. Auch Peter Szaunig hatte für diesen Abend ein paar „Leckerbissen“ vorbereitet. Zwischen den Leseproben spielte er Stücke von Carl Filtsch, Rudolf Wagner-Régeny und zum Abschluss einen fulminanten Chopin.
Dusil schildert eingangs, dass der Band einen Zeitraum von den 40er Jahren bis in die Gegenwart umfasst. Aber nur vordergründig geht es um Heraufbeschwören und Verarbeiten von geschichtlicher Vergangenheit – die Ereignisse und Erlebnisse ihrer Personen werden ins Poetische überhöht. „Für sie ergießen sich das Geschehene und Erlebte in illo tempore lebendig und bedeutsam, ohne Vorwarnung in die Gegenwart“, so Ioana Jeronim im Vorwort. Das Geschehen wird in sehr knappen, einfachen und auf den ersten Blick eindeutigen Sätzen geschildert – aus der Sicht des Kindes, das sich die Gegenwart zu erklären versucht, die es begreifen und deuten möchte, was zu Phantasien, Tagträumen führt: Wirklichkeit und Phantasie sind ineinander verwoben, es gibt keine klaren Trennlinien. Realität und Transzendenz bestehen gleichzeitig; das sehr gelungene Vorwort zitiert hier Foucault: „Wir leben in einem Zeitalter der Gleichzeitigkeit, des Aneinanderreihens, des Nahen und Fernen, des Nebeneinander und des Zerstreuten.“ Die Kurzgeschichten sind mitnichten Vergangenheitsbewältigung oder Analyse geschichtlicher Ereignisse und nur in geringem Maße Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit, obwohl die Themen des II. Weltkriegs, der Russlandverschleppung und der ersten Jahre danach auch heute noch – insbesondere die Erlebnisgeneration –beschäftigen (wie die Reaktionen und Fragen aus dem Publikum nur zu deutlich gezeigt haben).

Zwei der Kurzgeschichten liest die Autorin vor. Als erste „Mädchen in Moll“, die Geschichte der dramatischen Aushebung eines Mädchens, das seiner Großmutter die Verschleppung erspart, die im russischen Lager ihren – ihr bis dahin unbekannten – Vater antrifft, nach Hause zurückkommt … Der Schluss ist hochdramatisch – frappierend, wie mit sparsamsten Mitteln in höchster Verknappung ein Menschenschicksal hautnah nachzuerleben ist. „Mädchen in Moll“ ist eine stilistische Meisterleistung mit genialen Wortschöpfungen und gewagten Schilderungen. Dusil hat auch hier eine auf den ersten Blick einfach erscheinende Sprache; prägnante, kurze Sätze, klare Aussagen stehen neben sehr bildreichen Metaphern und originellen Personifizierungen („Die Krähe auf dem kahlen Birkenast sang das Schubertlied.“; „Sie blickt auf den Schnee, aus dem die einzelnen Kristalle fliehen wollen.“). Tiefgang bekommt auch „Die Winterreise“, die zur Überschrift von Ellas Deportation mutiert. „Die Mütze“ beginnt mit „Über dem Bett sieht Paul ein blasses Viereck. Hellgelb. Im blassen Viereck hatte Vaters Bild gehangen“.

Ausgehend von diesem nicht mehr am angestammten Platz hängenden Foto werden Erlebnisse, Gedanken, Befindlichkeiten und Empfindlichkeiten des Erstklässlers Paul zum Spiegel einer Atmosphäre, wie sie viele Generationen von Schülern aus ihrer Schulzeit in den 50er Jahren kennen. Die Mütze, die sein Vater im Krieg getragen hatte, die dazugehörige Uniform – und das Schicksal von Pauls neuer Mütze, das alles wird Anlass zur zentralen Frage: Was ist richtig, was falsch? „Trägt der Mann die richtige Uniform?“ Und auf die Frage, ob sein Vater seinerzeit die richtige gewählt hatte, antwortet die Mutter: „Damals dachte Vater, dass es die richtige Uniform ist … Doch er dachte das nicht lange …Und als er feststellte, dass es nicht die richtige Uniform war, da war es zu spät.“ Paul möchte gern alles richtig verstehen und alles richtig machen. Aber er leiht trotzdem seinem kommunistisch-atheistisch gedrillten Klassenkollegen für einen Tag seine neue Mütze – für einen Bissen von dessen Butterbrot. „Später weiß Paul, dass an diesem Tag die Lüge in sein kleines Leben getreten war.“ Auch hier wird ein Weltbild in seinen Grundfesten erschüttert, geben die neuen Umstände Anlass, alles wieder zu hinterfragen.

Weiter liest Dusil Fragmente aus „Bilder einer Kindheit“ und „Verstrickungen“. Letztere schildert die Begegnung einer nicht mehr ganz jungen Frau, Renate, mit einem ca. 20 Jahre älteren Mann anlässlich einer Tagung. Wir erleben einen ewiggestrigen, dem nationalsozialistischen Gedankengut tief verhafteten Mann mit bösen Vorurteilen im Gepäck – und eine aufgeschlossene und zukunftsfreudige Frau, die ob der Erkenntnisse aus den Gesprächen mit dem älteren Mann in tiefe Abgründe (auch ihres eigenen Lebens) blicken muss. Aus dem Kontrast zwischen den beiden erwächst dieser Erzählung ihre Lebendigkeit.

In allen Kurzgeschichten finden sich Schlüsselbegriffe wie Kindheit („Es geht hier um die traumatische Kindheit der kleinen Deutschen im Siebenbürgen nach dem Zweiten Weltkrieg, die die Wahrheiten des Lebens unter dem totalitären Druck jener Jahre buchstabieren …“ – so Ioana Jeronim), Angst (nicht nur allgegenwärtige Bedrohung, sondern fast ein Dauerzustand der Protagonisten: „Zwischen Lüge und Wahrheit saß die Angst …“) und vor allem Wort, Worte, Wörter: „Paul weiß, dass mit Worten nicht zu spaßen ist. Mutter hat ihm erklärt, dass Worte mehr Unglück anrichten können als Waffen“; „Ella hört die Worte. Sie versteht die Worte, doch sie kann sie nicht begreifen“; „Doch die Worte fallen aus den Gedanken heraus. Die Worte sind aus Glas, und wenn sie es schaffen, den Gedanken zu entfliehen, zerbrechen sie. Die Worte wissen, dass sie zu schneidenden Wahrheiten werden.“

„Mit feiner Feder, sparsamen Mitteln und ohne aufdringlich zu werden, schildert und konzipiert Dagmar Dusil eine Welt von außerordentlicher Tragweite und umreißt im weitesten Sinne den Erfahrungshorizont unserer Zeitgenossen.“ (Ioana Jeronim).

Ritta Apfelbach-Kartmann

Schlagwörter: Stuttgarter Vortragsreihe, Carl Filtsch

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