29. Juni 2018

„Zeuge der Welt, die sie bewohnt“/Neuer Gedichtband von Ana Blandiana

Wer vermutet, die geschlossenen Kirchen seien ein Szenenausschnitt aus einem rumänischen Dokumentarfilm oder eine Metapher für eine konfessionslose Gesellschaft, wird verblüfft feststellen, dass dieses Gedicht von Ana Blandiana nach einem Spaziergang durch die Kölner Innenstadt entstanden ist. Mit dem Verweis auf den Entstehungsort dieses Gedichtes verbindet die Herausgeberin und Mit-Übersetzerin der rund siebzig Gedichte, Katharina Kilzer, die Aussage, dass die renommierte, europaweit bekannte Lyrikerin und Prosaistin „sich als Zeuge der Welt (sieht), die sie bewohnt“ und ihre Poesie „eine Folge von Visionen evoziert“.
Diese beiden elementaren Prinzipien, die Verbindung von Toponymen und visionären Metaphern, verwendet die Herausgeberin auch bei der aus drei Abschnitten bestehenden inhaltlichen Gliederung des mit zwei Grafiken von Elisabeth Ochsenfeld illustrierten Bandes: Räume, Zeiten, Erkenntnisse. Die Titel der Gedichte aus dem raummetaphorischen Bereich verweisen auf Hügel, Fresken, Fachwerkbauten, Flussufer, den Turm von Joyce, den Nordbahnhof von Bukarest, aber auch auf Einsamkeit, eine Grüne Ikone, Transparenz und Balanceakte „zwischen Leben und Tod“. Es ist bewundernswert, wie das lyrische Ich in Ana Blandianas Poemen zwischen vertrauten heimatlichen Gefilden und erinnerungswürdigen Topoi europäischer Landschaften pendelt und ihre deutschsprachigen Vermittler Horst Samson und Katharina Kilzer wie auch Maria Herlo diesen frei rhythmisierten Versen eine kon-authentische Gestalt verleihen.

Im Abschnitt mit der Überschrift „Zeiten“ häufen sich die poetisch hoch aufgeladenen temporären Metaphern. Da ist es „die Sanduhr,/ in welcher der Sand / hängen blieb“ und der Traum, in dem der Stillstand der Zeit abläuft und dann stehenbleibt „auf dem Weg in den Tod“ und „dem Tod (ähnelt)“; da zählt im Gedicht „Facebook“ nur noch der „Rhythmus des Deliriums; / das hechelnd versucht wiederzukehren, / aber angeschoben wird von hinten / von anderen Nachrichten, / den hysterischen,/ je sinnloser / umso hastiger.“ Und in der 15 Zeilen umfassenden poetischen Reflexion „Linie“ beklagt sich ein lyrisches Ich über die Verschwendung von Zeit: „Wie ich mit Sekunden um mich warf, mit Minuten, / mit Stunden, Tagen, Wochen, Jahren! / Die Passanten drängelten sich, sie in der Luft zu fangen, / sie konnten es gar nicht glauben“.
Schließlich verwischt dieses verschwenderische Ich „die Linie, die / das Erhabene vom / Lächerlichen trennt / und ließ das eine in das andere fließen / Wie Galle sich manchmal ins Blut ergießt“. Und die Erkenntnisse im dritten Teil des Gedichtbandes, in dem die Herausgeberin an 28 ausgewählten Gedichten den Versuch unternimmt, Ana Blandianas vielschichtiges Weltmodell zu erläutern? Auffällig sind in dem einleitenden Gedicht „Wie schwer es ist, zu streicheln“ die Verbindungslinien zwischen der visuellen, taktilen und auditiven Wahrnehmung eines Engels, der stets zurückweicht, wenn ihn jemand streicheln will: „Wie nahe auch immer, er meidet die Berührung / aus Angst, du könntest ihn fangen. / Er dreht sich, kehrt zurück, flattert kaum hörbar, / es ist der einzige Laut, den er hervorbringen kann. / Sie, die Engel, können nicht sprechen.“

Und wie gelingt es einem autokommunikativen Ich in der Projektion eines Du die mühevolle Verbindung zu dem Engel herzustellen? Im Alltagsbewusstsein überhaupt nicht, denn, so Blandiana, „von allen Sinnen bleibt nur der fühlbare Traum, / einen Engel an den Flügeln zu streicheln, ohne ihn zu erschrecken“.

Ana Blandiana, als Otilia Coman in der Familie des orthodoxen Priesters Georghe Coman und Valeria Deacu in Temeswar und Großwardein in den 1940 er Jahren aufgewachsen, wurde früh mit der Willkür des kommunistischen Regimes aufgrund der Verhaftung ihres Vaters und dessen langjährigem Gefängnisaufenthalt konfrontiert. Als Tochter eines „Volksfeindes“ wurde sie, wie die Herausgeberin anmerkt, nicht zum Studium zugelassen. Erst in den späten 1960er Jahren gelang es ihr, ein Studium der Philologie an der Universität Klausenburg abzuschließen. Unter ihrem Pseudonym Blandiana folgten erste Gedichtveröffentlichungen und mehr als ein Dutzend Lyrik-Publikationen neben einer Reihe von Prosabänden bis in die jüngste Gegenwart. Zahlreiche Titel wurden vom Ceauçescu-Regime verboten. Blandiana war vor allem in den 1980er Jahren das Sprachrohr von Studenten und regimekritischen Bürgern geworden. Ihr 1984 in der Zeitschrift Amfiteatru publiziertes Gedicht „Ich glaube“ fand mit den Versen „Ich glaube, wir sind ein Volk von Pflanzen / Woher käme sonst die Ruhe, / Mit der wir auf unsere Entlaubung warten“ (Übersetzung Horst Samson) ein breites Echo in der rumänischen Gesellschaft vor der Revolution von 1989. Mit dem vorliegenden Band, der Texte aus verschiedenen Gedichtbänden enthält, ist der Herausgeberin gemeinsam mit den Übersetzern eine überzeugende Präsentation eines lyrischen Werkes von europäischem Maßstab gelungen. Ein einfühlsames Nachwort, Quellenhinweise und biobibliografische Angaben komplettieren die Publikation mit dem Foto von Ana Blandiana auf dem vorderen Cover.

Wolfgang Schlott


Ana Blandiana: „Geschlossene Kirchen. Biserici închise“. Gedichte Deutsch-Rumänisch. Nach einer Auswahl und mit einem Nachwort von Katharina Kilzer (Hg.). Ludwigsburg, Pop Verlag, 2018, 209 Seiten, 19,90 Euro, ISBN 978-3-86356-185-7.

Schlagwörter: Blandiana, Gedichtband, Lyrik, Deutsch, Rumänisch, Besprechung

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