30. Mai 2025
Horst Samsons neuer Gedichtband: Als der Wind keinen Schlaf fand
Horst Samson: „Vom Auftauchen und Verschwinden der Landschaft“. Gedichte. Reihe Lyrik, Bd. 193. Pop Verlag, Ludwigsburg, 2025, 161 Seiten, 19,90 Euro, ISBN 978-3-86356-419-3

In der Hommage auf Richard Strauss „Der Anstieg“ gehen Sprache, Bilder und Musik ineinander über und werden so festgehalten „aufgelöst in der Sprache // Zerfließen, in den Bruchstaben der Musik, / Tönend entlang des Baches wandern die Wiesen / Alpenwärts, dem Gletscher zu. // Im Ohr das heilige Universum.“ Und die Schallmauer ist erneut „Das Nichts, es will nicht mehr, es will mehr // Und mehr aufgeben dem Ende zu. Von Nacht / Eingerahmt erklingt das unbehauste Ich noch im Gebirg, / Ein musisches Gemälde.“ Und danach, nach Marin Heideggers „unbehaustem“ Ich des in die „Welt geworfenen Menschen“, setzen nur noch die Musikinstrumente ein „Ohne mit den Noten zu weinen über so viel Schönheit!“
Die Heimat der Kindheit und Jugend scheint in den Gedichten „Im offenen Gelände“, in den Zeilen „Die Erde in Albrechtsflor / Unter mir gespalten,“ und „Ex Oriente Lux“ auf, in dem daran erinnert wird, dass dieses Dorf an einer einst blutigen Grenze lag „Später entdeckt er / In den Gräben Spuren jener, / Die nachts an der Grenze erschossen wurden // Für einen Fetzen Freiheit,“. Oder in dem Gedicht „Späte Heimkehr“, in dem zu lesen ist „Da kommt Vaters / Schatten über den Hof / In flimmernder / Hitze, ein Dachziegel / Unter dem Arm.“ Zeitlich noch weiter in die früheste Kindheit und in die östliche Ferne geht wohl die Spur der Erinnerung zu der eisigen Kälte der sibirischen Schneestürme in der Bărăgansteppe, in der Horst Samson geboren wurde, im dem Gedicht „Vom nervös gewordenen Schnee“ zurück „Im Hinterhalt der Landschaft lauern / Schatten. Der Schnee wittert / Die Einsamkeit. Der Kopf dreht Filme: // Der Wind heult, weint, hat Angst / Vor sich selbst, vor seiner eigenen Wut / Und dem Schnee. (…) Böse fegt er über die Herdplatte / Durch den Schornstein hinaus. Er ist verrückt geworden, // Flüstert Vater, der hat heute Nacht die Nerven verloren, / Die Orientierung.“
Aus dem zweiten Zyklus „Als der Wind keinen Schlaf fand“ sei das Gedicht „Panta rhei“, das den von Platon überlieferten, antiken philosophischen Gedanken Heraklits der Welt im Fluss und in ewiger Bewegung aufgreift, herausgehoben und vor allem in seiner formalen Besonderheit, die sich auch in anderen Gedichten findet, genauer betrachtet. Es besteht aus acht Zweizeilern, die die Merkwürdigkeit aufweisen, dass sich der Gedanke des vorausgehenden Zweizeilers, in der ersten Zeilen des folgenden Zweizeilers, im Sinne des inhaltlichen in diese „Hineinfließens“ oder Übergreifens fortsetzt, so dass die Zweizeiler auf diese Weise miteinander verkettet oder ineinander fließend erscheinen. So heißt es „Der Erde entfliehen bevor sie stirbt. / Das habe ich mir vorgenommen, ich will // Mich beeilen, (…)“ oder „Zu Hause. Heraklit warnt: Keiner steigt / Zweimal in denselben Fluss – des Lebens // Auch nicht in die gleiche Gegenwart.“ Und gegen Ende des Gedichts „Nicht immer schmerzfrei / In der Ewigkeit – dort begrüßt uns das // Heilige Nichts (…)“. Diese Übergänge von einem Zweizeiler zum anderen sind irgendwie wie kleine Kaskaden: sie setzen den Gedanken zwar inhaltlich fort, geben ihm aber doch mitunter eine überraschende Wendung.
In diesem Zyklus finden sich Gedichte wie „Netzwerk der Stimmlosen“ mit ernüchternden bis verzweifelnden Gegenwartserkenntnissen „Land, es verkohlte in sich. Algorithmen / Zogen die Fäden, Verdächtigungen / Am Ende der Schonzeit, Ovationen / Wie dreckige Fahnen. // Im Fieber taumelte ich durch die Landschaft / Aus Sand, Verrat, gefälschten Gebeten. / In den Adern stockte der Schnee.“ Wir treffen in diesem zweiten Teil des Bandes aber auch auf freundliche, erlebnisgestützte, einfühlsame Gedichte, die Schriftstellern wie Peter Handke oder Dichterinnen und Schriftstellerinnen wie Ilse Hehn oder Barbara Else Zeizinger zugedacht sind. Oder „Für Edda“, der Ehefrau Horst Samsons, die Erinnerungen an die „Bretagne“ festhalten in den Worten, „Als der Wind keinen Schlaf fand / Und das Meer nicht zur Ruhe kam.“ Wie alsdann „Gegen Mitternacht / Schwamm ich immer noch / Mit dir zwischen den Sternen umher / Und wir sprachen leise / Über das Leben (…)“.
Der dritte Zyklus „Geschäfte mit der Zeit“ reflektiert die Grundkategorie der Zeit, nicht nur mit Immanuel Kant in dem Gedicht „Exil“, das die objektive Zeit durch ihre subjektiven Brechungen kontrastiert, sondern auch in verschiedenen anderen Wendungen. Etwa in „Abschied und Entkommen“ werden die demütigende Behandlung im Grenzbahnhof Curtici bei der Ausreise und der erzwungene Verlust der seit Jahren vertrauten Schreibmaschine, gleichsam wie auf einer Zeitklippe, als Gelegenheit zu einem Rückblick auf die immer gefährlicher gewordene Heimat, der man gerade noch entkommen ist, und als Ausblick auf das noch unvertraute Zukünftige genutzt. In dem E.M. Cioran gewidmeten Gedicht „Ein Feuerwerk mit dem Nichts als Hintergrund“ wird die Zeit nihilistisch aus der Perspektive des „Endes“ der „Geschichte“, als Ankunft „an der Rändern“ und schließlich als Blendwerk mit dem Eckpunkt des „Nichts“ reflektiert. Ein eigenwilliges Überschreiten der Grenzen der Lebenszeit wagt das Gedicht „Brief an Rolf B.“, das ein heiteres, spöttisches Gespräch mit dem verstorbenen Freund Rolf Bossert im Jenseits führt, und in dem es heißt: „Da unten wirst du gerade gefeiert. // Mein Gott, nun grins nicht so listig, du bist daran / Nicht unschuldig. Und feiern, das muss auch / Mal sein, formellos. Sicher, besser wäre es wie früher, // In unseren Bukarester Nächten – mit jungen / Dichterinnen, feucht und fröhlich gezecht, längst sind wir / Alle in alle Himmelsrichtungen verstreut“. Auch das letzte Gedicht dieses Teils des Bandes „Über die Zeit“ hinterlässt bei aller scheinbaren Gewissheit eigentlich nur Fragen „Ich bin Zeuge // Einer Welt, die mit mir untergeht / Untergeht. Wohin / Verschwinden wir? // Ins Nichts?“
Der vierte Gedichtzyklus „Träumerei für Cello und Klavier“ wird von einem geradezu verstörenden Gedicht „Zeitwerk“ eröffnet, das düstere, bedrückende Bilder aneinander reiht „Das Treppenleben im Kopf, graues Licht / Im Auge. (…) Im Nebel der Lofoten schreien / Die Dorsche: Es ist Krieg, schreien sie am Spieß, / Krieg! Wind und Regen spielen und spülen / Noch am gleichen Tag die Bedenken davon, / Illusionen, Ideologien entgrenzt / Schnüren dir am Ende der Nervenbahnen / Die Kehle zu.“ Damit wird zugleich das Thema des Krieges aufgenommen und in den Mittelpunkt dieses Teils des Bandes gerückt. Ebenfalls vom Grauen des Krieges handelt das Gedicht „Szenarien für die Jagd“. Es beginnt mit dem, wovon Kriege oft ihren Ausgangspunkt nehmen, nämlich „Gewalt gekeltert / Aus Wörtern, Sätzen, / Gelehrter / Leichen, gestohlen aus / Wörterbüchern,“ und das sodann folgerichtig in den Versen endet „Kaputte / Buchstaben, am Ende / Missbrauch / Für Mord und Totschlag und // Krieg.“ Auch in dem Gedicht „Verschlusssache“ wird das Motiv des Krieges „im Osten“ aufgenommen, wobei sich zwischen den aus jeweils drei Versen bestehenden Strophen, gleichsam wie ein Refrain, die einzelnen Wörter „Verbitterter“, „Verängstigt“, Verunsichert“, „Verschweigen“, „Verteidigend“, „Vernichtet“ und „Verloren“ alliterativ in ein gewisses Crescendo gesteigert finden.
In dem seinem Vater gewidmeten Gedicht „Weihnachten im Feld“ wird indes an „Briefe von der Front, geschrieben aus // Stalingrad.“ erinnert. Auch hier – wie könnte es anders sein – zeigt sich die Trostlosigkeit des Krieges „Und der Mond über dem Schlachtfeld, / Schreibt er, findet wie wir, keinen Schlaf. / An Weihnachten erinnert hier nichts.“ Im letzten Gedicht des Zyklus „Durchgebrannt. In Memoriam“ kommt sodann „Schuhmann // Als Träumerei für Cello und Klavier“ vor. Doch auch hier bedeutet dies nichts anderes als „Entfesseltes Schweigen jagt durchs Hirn / Wie gehetzte Tiere. Aufruhre, Plakate // Aus Angst und Lärm.“ Und dem folgen weitere, nahezu unaussprechbar schreckliche Bilder des Grauens, der Vernichtung, des Massenmordes.
Der letzte, kürzere Zyklus ist mit „Über Gott, das Ende und die Grammatik“ überschrieben und wird durch ein langes Gedicht „Epitome – ein Breviarium“ eröffnet, das einen bedenkenreichen Überblick auf die Umbrüche und den Niedergang des zurückliegenden Jahrhunderts vermittelt. Von tiefem Pessimismus ist auch der Grundton des Gedichts „Die Entdeckung des Verlierens“ bestimmt, das in der letzten Strophe befindet „Passieren. Ich versuche mich aufzurichten, / Am Fenster, um meine entwurzelte Figur zu spiegeln / Auf Deiner Netzhaut, bevor Blut fließt und filmreif / In den Schnee tropft. Am Ende des Lebens, / Denke ich, dreht sich alles um das Verlieren.“ In einem ähnlichen Tonfall und in geradezu expressionistischen Bildern folgt das Gedicht „Untergangsgelüste“, in dem es heißt, „Jemand zündet Feuer an / In meinen Adern.“ Und sodann „Die Stille friert und frisst / Die vorletzten Gedanken auf, die Sterne / Liegen zerstört am Boden. So wenig Mond / Wie heute war noch nie.“ Um letztlich zu schließen „Verwickelt in Widersprüchen. Gescheiterte / Die misstrauisch ins Bodenlose spähen, zerfressen / Vor Angst, dass an einem ihrer ungelebten Tage / Ihnen Prometheus das Feuer wegnimmt.“
Wie bereits in seinen vorausgegangenen Bänden finden sich auch in dem vorliegenden viele Gedichte und Verse, die eigentümlich faszinierend „bildlich“ zu uns sprechen und dabei große Themen des menschlichen Lebens berühren und dessen tiefgründige Erinnerungen, eindringliche Reflexionen und bestürzende Abgründe nicht aussparen. Wenn man auch etwas auf die Datierung der Gedichte achtet, hat man den Eindruck, dass die neuesten Gedichte, die in ihrer Bildersprache gewagtesten, bewegendsten, scharfkantigsten, eindringlichsten, aber vielleicht auch die düstersten und zugleich abgeklärtesten, illusionslosesten sind.
Anton Sterbling
Schlagwörter: Horst Samson, Lyrik, Buchvorstellung
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