13. Februar 2022

Jenseits der Klischees? Katalog zur Fotoausstellung „Facing the Balkans“

Die Bayerische Staatsbibliothek München zeigt in ihrer Jahresausstellung „Facing the Balkans“ (Im Angesicht des Balkans) noch bis zum 4. März Südosteuropa-Fotografien von Harald Schmitt, zu sehen im Prachttreppenhaus und im Fürstensaal des Bibliotheksgebäudes in der Ludwigstraße 16. Begleitend zur Ausstellung ist im Kerber Verlag ein großformatiger Katalog erschienen, der nicht nur die Fotografien enthält, sondern den Balkan als Region mit Texten von ausgewiesenen Südosteuropa-Spezialisten auch kontextualisiert.
Die Fotografien entstanden zwischen 2015 und 2019 auf insgesamt fünf Reisen, die der langjährige stern-Fotograf Harald Schmitt mit seiner Frau Annette Stams-Schmitt mit dem erklärten Ziel, eigene Vorurteile zu hinterfragen, unternommen hat. „Ob ein Fotograf auf der Basis von nur wenigen Recherchereisen eigenen Klischees und Stereotypen immer entkommen kann, ist eine Frage, über die die Besucherinnen und Besucher der Ausstellung und Leserinnen und Leser des Katalogs gerne diskutieren sollten“, schreiben Manuel Sarrazin und Hansjörg Brey, Präsident bzw. Geschäftsführer der in München ansässigen Südosteuropa-Gesellschaft, in ihrem Grußwort. Zu dieser Diskussion laden Schmitts Bilder ebenso ein wie zur Einnahme einer neuen Perspektive auf Südosteuropa. „Wie sieht der Balkan jenseits der Klischees aus?“, lautet entsprechend die programmatische Frage des Generaldirektors der Bayerischen Staatsbibliothek, Klaus Ceynowa, in seinem Vorwort zum Katalog.

Gegliedert ist der Band in sieben Abschnitte, deren Titel die Themenbereiche abstecken: Reisen, Flucht, Glauben, Erinnern, Wandel, Landleben, Verbundenheit lauten die Schlagworte, die bereits beim Lesen Bilder evozieren. Was habe ich im Kopf, wenn ich an den Balkan denke? Was ist das überhaupt für ein Konstrukt, dieser Balkan? Welche Menschen leben dort, welche Sprachen werden gesprochen, welche Geschichten erzählt, welche Religionen praktiziert? Eine historische, politische und geografische Einordnung bietet der einleitende Essay von Ulf Brunnbauer, Wissenschaftlicher Direktor des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg (IOS) und Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte Südost- und Osteuropas an der Universität Regensburg. Der Balkan als seit dem 19. Jahrhundert dienende „zumeist negative Folie“, wie ihn 1997 die Historikerin Maria Todorova beschrieb, dient ihm als Ausgangspunkt für Betrachtungen über die jugoslawischen Zerfallskriege von 1991 bis 1999, jüngere und jüngste Literatur und Kunst aus Südosteuropa, die mit dem Begriff „Balkan“ spielt, sowie die EU-Politik bezüglich dieser „Schnittstelle zwischen Orient und Okzident“, einer „Region dazwischen“. Bedeutet das, „den Balkan als nicht ganz, bestenfalls halbeuropäisch zu begreifen – und die andere Hälfte [als] asiatisch und damit fremd“? Die Ausstellung nähere sich der Region mit einem unverstellten Blick, so Brunnbauer. An erster Stelle stehe die Botschaft, dass die Region, wie auch immer sie definiert werden möge, von Menschen gemacht werde. „Den Menschen zu folgen ist noch immer der beste Weg zu verstehen, was einen Ort, eine Region, eine Gesellschaft und ihre Besonderheit ausmacht.“

Mit dem vermeintlich leichten Thema „Reisen“ beginnt der Bilderreigen – als Tourist ist man ja vielleicht selbst schon auf dem Balkan gewesen und kennt die Perspektive. Aber natürlich ist die des früheren Fotojournalisten und sechsmal mit dem „World Press Photo Award“ ausgezeichneten Harald Schmitt eine andere und muss es auch sein, insbesondere, wenn man sich die Entstehungsgeschichte der für Ausstellung und Katalog ausgewählten Fotos vor Augen hält, wie sie die Kuratorinnen Gudrun Wirtz und Caroline Finkeldey in ihrem Geleitwort darstellen: „In seiner Rolle als Reisender hatte er es sich explizit zum Ziel gesetzt, eigene Stereotype zu hinterfragen, doch in seiner Rolle als Fotojournalist musste er überspitzen und vereinfachen, um gute und ,starke‘ Bilder zu produzieren. In einigen Fotografien wird dieses Dilemma sichtbar. Sie offenbaren zugleich, welche Stereotype die visuelle Darstellung des Balkans bestimmen und wie diese zu hinterfragen sind.“ In diesem Sinn sind auch die Bilderserien zu den weiteren Themenbereichen Flucht, Glauben, Erinnern, Wandel, Landleben, Verbundenheit zu betrachten, die nicht alltägliche Aus- und Einblicke ebenso bieten wie die im Katalog viel beschworenen Klischees, mit denen der Balkan behaftet sei, so Wirtz und Finkeldey.

In Albanien, Bosnien und Herzegowina, Bulgarien, Kosovo, Kroatien, Moldau, Montenegro, Nordmazedonien, Rumänien, Serbien, Slowenien und Ungarn ist Harald Schmitt herumgereist, hat beobachtet, Menschen getroffen und fotografiert: Touristen in Ljubljana, Sarajevo und vor dem Rila-Kloster, Polizisten in Röszke und Izačić an den Außengrenzen der EU, Flüchtlinge in Belgrad, Nonnen in Albanien, Jugendliche in Skopje und in Hermannstadt, Trauernde in Botoșani und Brautpaare allerorten. In Măgura bei Kronstadt begegnete er Katharina und Hermann Kurmes, die dort als sogenannte Rückkehrer nachhaltigen Tourismus betreiben, und fotografierte sie in ihrer siebenbürgischen Tracht.

Jeder Sektion im Katalog ist eine zweiseitige Einführung vorangestellt; als Verfasser zeichnen neben Ulf Brunnbauer Heike Karge von der Universität Regensburg und Edvin Pezo vom IOS, alle drei Historiker mit Schwerpunkt Südosteuropa. Analog zu den wie Schlagworte anmutenden Titeln der Sektionen können diese Texte lediglich Schlaglichter auf die Themen der Bilderserien werfen, aber zusammen bieten sie einen fundierten Einblick in den Balkan einst und jetzt, diese so vielfältige „Region des Wandels“. Eine Karte der fotografierten Orte und die Werkliste, die Ort, Zeit und Motiv der Bilder anführt, runden den Band ab. Ob Harald Schmitt mit seinen Fotografien einen Blick auf den „Balkan jenseits der Klischees“ wirft, ist tatsächlich diskussionswürdig – Stoff dafür bietet der Ausstellungskatalog reichlich.

Doris Roth


„Facing the Balkans. Südosteuropa in Fotografien von Harald Schmitt“. Kerber Photo, Bielefeld, 2021, 173 Seiten, 45 Euro, ISBN 978-3-7356-0774-4

Schlagwörter: Ausstellung, München, Katalog, Fotografie, Südosteuropa, Besprechung

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