1. März 2022

Einhundert Jahre Siebenbürger Sachsen in Berlin / Aus dem Archivbestand der Jahre 1904-2004

Bereits seit 1970 führt die Siebenbürgische Bibliothek, ­ältester Teil des Kulturzentrums auf Schloss Horneck und heute in der Trägerschaft des Siebenbürgisch-Sächsischen Kulturrats, auch ein Archiv, also eine Sammlung handschriftlichen, nicht gedruckten Schriftguts. Hier finden sich zahlreiche Nachlässe, ein Fotoarchiv, ein Persönlichkeiten-, Künstler-, Orts-, Genealogiearchiv – und eben auch eine große Abteilung mit Vereinsarchiven und Beständen anderer Institutionen. Der größte Einzelbestand ist dabei jener der Landsmannschaft/des Verbands der Siebenbürger Sachsen, wovon gerade erst im vergangenen Jahr mit Hilfe von Landesförderungen weitere fünfzehn Jahre bis 1975 erschlossen werden konnten. Zu diesem Bestand des Bundesverbands kommen erfreulicherweise noch weitere hinzu.
So wandte sich vor einiger Zeit Cornelius Prodeus aus Berlin ans Archiv in Gundelsheim, da er den Archivbestand der Berliner Landesgruppe bei sich verwahrt hatte, nachdem die Unterlagen aus dem Deutschlandhaus wegen bevorstehenden Umbaus weggebracht werden mussten und er sie für die Bearbeitung der 50-Jahr-Festschrift 2005 ausgewertet und geordnet hatte: acht Archivkartons, die nun Teil des Archivs des Siebenbürgen-Instituts sind. Prodeus war viele Jahrzehnte Verbandsmitglied, seinerzeit Mitglied der Jugendgruppe und nachher auch in verschiedenen Ehrenämtern ­tätig. Über diesen Bestand soll im Folgenden die Rede sein.
Trachtengruppe des Landesverbandes Berlin am ...
Trachtengruppe des Landesverbandes Berlin am Rande eines Tages der Heimat in der Waldbühne Berlin um 1960
Die dokumentierte Geschichte eines siebenbürgisch-sächsischen Vereins in Berlin fängt 1904 an. Natürlich gab es schon lange vorher Sachsen in Berlin, als Studenten, als Handwerksgesellen, als Kaufleute, als Künstler oder Wissenschaftler, aber dass sie sich vorher jemals zusammengeschlossen hätten, ist nicht bekannt. Anders war dies, als der aus Reps gebürtige (1884 geborene) Kürschnergeselle Wilhelm Schnell auf seiner Wanderschaft 1904 nach Berlin kam und niemanden in der Stadt kannte, bei dem er hätte anklopfen können. Zwischen Frühjahr und Weihnachten hatte er fünfzehn Landsleute ausfindig machen können und lud sie am ersten Weihnachtstag 1904 in eine Kneipe zu einer Versammlung ein. Das Ziel war von Anbeginn, einen Verein zu gründen, dessen Aufgabe es sein sollte, vor allem jungen Handwerkern aus Siebenbürgen unter die Arme zu greifen, Anknüpfungspunkt zu sein und sie bei ihrer Aus- oder Weiterbildung zu unterstützen; ihre Erfahrungen sollten sie dann in Siebenbürgen gewinnbringend einsetzen. Der Verein wurde tatsächlich gegründet, und er hat im folgenden Jahrzehnt einer Vielzahl an Landsleuten, vor allem jungen Handwerkern, bei ihrer Eingliederung in Berlin geholfen. 60 Mitglieder sollen es zeitweilig gewesen sein. Die meisten zogen bald wieder nach Siebenbürgen zurück, aber manche blieben auch, so wie der Gründer Schnell. Mit Beginn des Ersten Weltkriegs stellte der Verein seine Tätigkeit ein, weil alle jungen Männer ihrer Wehrpflicht nachkommen mussten.

Dennoch scheint es Aktivitäten Einzelner gegeben zu haben, die offenbar bei der sogenannten Kinderlandverschickung 1917 nach Siebenbürgen mithalfen. Im Vergleich zu den Städten im Deutschen Reich oder in Österreich war die Versorgungslage in Siebenbürgen nämlich deutlich besser und so kam es auf Anregung der Stadtleitungen Kronstadts und Hermannstadts zur Entsendung zahlreicher Schulkinder mit Lehrkräften vor allem aus Berlin, Leipzig und Wien nach Siebenbürgen. Die Berliner Kinder kamen überwiegend nach Kronstadt und Umgebung, es müssen wohl einige hundert gewesen sein, in der Hermannstädter Gegend waren es um 500. Dieses Ereignis muss für die Beteiligten so prägend gewesen sein, dass es – obwohl die ursprünglich geplante Fortführung kriegsbedingt nicht erfolgte – zu einem langanhaltenden Nachhall kam, und zwar vor allem in Berlin. Hier entstand nämlich nach dem Krieg der Siebenbürgenfahrer 1917 e.V., ein Verein derjenigen, die an der Kinderlandverschickung teilgenommen hatten, sich dessen gerne erinnerten, wohl in späteren Jahren auch Unterstützungen nach Siebenbürgen sandten, vor allem aber auch ein reges Interesse an den Sachsen in der Reichshauptstadt hatten. Der nach dem Weltkrieg wieder mühsam zum Leben erweckte Verein der Siebenbürger Sachsen tat sich nämlich mit jenem der Siebenbürgenfahrer zusammen und organisierte künftig gemeinsame Treffen, Feiern und künstlerische Veranstaltungen. Nach wie vor hatte der Verein eine wichtige Funktion als Anlaufstelle für Reisende aus Siebenbürgen, auch in offiziellem Auftrag etwa um Fördermittel einzuwerben; der Wechselkurs zur rumänischen Währung war nämlich so schlecht, dass Hilfe etwa bei der Unterkunftsbeschaffung sehr willkommen war. Zu den namhaften Kontakten oder Mitgliedern gehörten etwa Lutz Korodi, der nach dem Krieg zeitweilig als Staatssekretär wieder nach Siebenbürgen zog, oder Dr. Fritz Klein, Redakteur bei der Deutschen Allgemeinen Zeitung.

Die Arbeit im Verein der Siebenbürger Sachsen begann sich schwierig zu gestalten, als sich immer mehr Mitglieder politisch positionierten und ihren Sympathien für den Nationalsozialismus freien Lauf ließen. Wilhelm Schnell notierte dazu rückblickend: „Leider vollzog sich im Verein eine Veränderung, viele Landsleute zogen es vor, in die Partei einzutreten [d.h. die NSdAP], worauf ich mich dann ganz zurückzog.“ Mit dem Ausscheiden von Schnell erfahren wir eigentlich auch nichts mehr über den Verein, wohl aber lässt sich nachvollziehen, dass es unter den Landsleuten in Berlin zwei Lager gab, die sich um zwei sächsische Pfarrer bildeten, einen, der den Deutschen Christen nahestand, also der NS-Ideologie, und einen der Bekennenden Kirche, also der obwaltenden Ideologie distanziert bis kritisch gegenüberstand. Allerdings sind aus dieser Zeit keinerlei Unterlagen erhalten geblieben, es bedürfte wohl weiterer Forschung an anderen Stellen. Ein Neubeginn nach Kriegsende muss ungemein schwer gewesen sein, es hatte viele Sachsen aus unterschiedlichsten Gründen und unter üblen Bedingungen nach Berlin verschlagen. Schnell brachte sich nun wieder ein, er muss sein Geschäft in Charlottenburg über die Kriegszeit hinweg gerettet haben (im Branchen-Adressbuch für Berlin 1946 finden wir ihn mit seinem Felle- und Rauchwaren-Großhandel sowie als öffentlich bestallten Sachverständigen für das Kürschnerhandwerk am Kaiserdamm 13 in Charlottenburg), so dass er wohl auch oft mit Spenden aushelfen konnte. Gemeinsam mit dem nun ebenfalls wieder aktiven Verein der Siebenbürgerfahrer 1917 konnten so Hilfen für die in Berlin gestrandeten Landsleute organisiert werden, und es entstand eine Heimatgemeinde, bei der sukzessiv jene beiden Pfarrer mitwirkten, die in der NS-Zeit unterschiedliche Positionen vertreten hatten. Bis zu einem ersten Höhepunkt, bis zur Adventsfeier 1949, dauerte es immerhin vier Jahre. Allerdings waren das noch keine festen Organisationsstrukturen, denn der alte Verein hatte die Hitlerjahre nicht überstanden. Zunächst trafen sich in Berlin ab 1950 die Deutschen aus Rumänien, neben Siebenbürgern vor allem Banater und Bukowinadeutsche. Diese gründeten 1951 die „Vereinigung der Deutschen aus Rumänien“ und wirkten im Berliner Landesverband der Vertriebenen (BLV) mit, über den bald auch Förderungen des Senats oder bei Bundesministerien beantragt werden konnten. Allerdings nahm die Aktivität der Sachsen in dieser Vereinigung so stark zu, dass sich die anderen Gruppen marginalisiert fühlten und es schließlich zu einer Aufteilung nach Herkunftsregionen kam. In der Zwischenzeit hatte sich auch der Bundesverband der Landsmannschaft mit Sitz in München etabliert, so dass es am 14. April 1955 zur Gründung des Landesverbands Berlin der Landsmannschaft der Siebenbürger Sachsen in Deutschland kam. Ihr erster Vorsitzender war Dr. Oskar Schuster bis er sich berufsbedingt 1959 zurückzog. Bereits 1952 war eine Siebenbürger Trachtengruppe entstanden, es wurden regelmäßige Beratungen vor allem rechtlicher Natur angeboten, es gab Spendenaktionen für die in der „Zone“, also in der DDR lebenden Landsleute – diese wurden systematisch ausfindig gemacht (Mitte der fünfziger Jahre rund 150 Adressen in allen Ecken der Zone) und je nach eruierter Bedürftigkeit mit Paketen versorgt. Aus einem Ferienlager des Hilfskomitees heraus war bereits 1954 eine siebenbürgisch-sächsische Jugendgruppe unter Leitung von Roswitha Brandsch-Böhm (später verheiratete Guist) entstanden, die in den Folgejahren eine rege Aktivität entfalten sollte, auch im engen Zusammenwirken mit dem Arbeitskreis junger Siebenbürger Sachsen. Aus dieser gingen u.a. Trachtenhochzeiten hervor, die in Berlin damals aufsehenerregend waren, 1957, 1958 und die dritte 1963. Das Verhältnis der Trachtengruppe, die nicht das Gleiche war wie die Jugendgruppe und offenbar zu guten Teilen von berufstätigen Erwachsenen gebildet wurde, zum Vorstand scheint wohl nicht immer das innigste gewesen zu sein; man bediente sich ihrer sehr gerne als beeindruckendes Aushängeschild, zumal die Trachtengruppe zu einer Vielzahl anderer in Berlin gestrandeter Trachtenfreunde gute Beziehungen unterhielt (nicht nur Ostdeutsche, auch Bayern, Württemberger u.a. waren dabei), aber man stimmte sich mit ihr nicht recht ab, betrachtete sie eher als zum Dienst verpflichtete Gliederung und ergriff gerne das eine oder andere Stöckchen, um sich zu reiben – es will scheinen, dass hier noch ältere Verhaltensmuster zu erkennen sind. Überhaupt scheint zu Beginn die Sensibilität in der Führungsriege des Landesverbands auch für vormalige NS-Nähe nicht ausgeprägt gewesen zu sein. 1956 etwa brachte sie kein Verständnis dafür auf, dass der Bezirk Reinickendorf eine Lesung mit Heinrich Zillich in seinen Räumen ablehnte – er war damals der eigene Bundesvorsitzende und man wollte nichts auf ihn kommen lassen. Und 1958 war es sogar nötig, dass sich der Verband der Landsmannschaften in Bonn einschaltete, um zu verhindern, dass Hans Hartl bei einem geplanten Berliner Termin offen für die Gesamtaussiedlung eintrat – dies wurde als ausgesprochen schädlich für die damals politisch noch durchzusetzende engere Familienzusammenführung angesehen. Die Tätigkeit des Landesverbands wurde jedenfalls durchaus aufmerksam beobachtet.

Ein Berliner Phänomen waren die „Siebenbürgenfahrer“ von 1917, die oben schon erwähnt wurden. Die damaligen Kinder müssen von dem Siebenbürgen-Erlebnis und der Gastfreundschaft ihrer sächsischen Gasteltern so beeindruckt gewesen sein, dass sie noch nach Jahrzehnten den Kontakt untereinander wie auch vor allem zu den nun in Berlin immer zahlreicher werdenden Sachsen hielten. 1957 konnten die Siebenbürgenfahrer ihren vierzigsten Jahrestag feiern, und eine Übersicht aus dieser Zeit weist noch über 40 Namen auf, teils auch außerhalb Berlins. Später, vielleicht bis Mitte der sechziger Jahre, tauchen die Siebenbürgenfahrer aber nur noch auf den Listen der Einzuladenden auf, in jedem Falle aber hatten sie für den Beginn der sächsischen Verbandsarbeit in Berlin eine wichtige Rolle gespielt. Nach der Gründung des Landesverbandes kam es neben der Beratungstätigkeit – es gab wöchentlich festgelegte Sprechstunden – zu einer ausgedehnten Kulturarbeit mit Vorträgen, Lesungen, Konzerten und Tagungen. In diese Zeit dürfte, den Akten nach zu schließen, der Höhepunkt landsmannschaftlicher Aktivitäten fallen, etwa mit der Adventsfeier 1958 in Berlin-Frohnau, wo 320 Personen teilnahmen, davon 67 aus Ostberlin und der Zone. Auch bei der Adventsfeier 1960 waren die Landsleute „aus dem Osten“ noch dabei und wurden mit Unterstützungspäckchen bedacht, der Bau der Mauer am 13. August 1961 veränderte die Situation grundlegend. Die Verbindungen in die Bundesrepublik waren schon bis dahin nicht immer einfach zu realisieren (etlicher Schriftverkehr geht um die zu benutzenden Verkehrsmittel und deren Finanzierung, Post dauerte lang und kam bei der Siebenbürgischen Zeitung oft zu spät an), nun wurde der Austausch zusätzlich erschwert. Eine weitere Folge war der geringer werdende Zuzug sowie der massive Wegzug vor allem jüngerer Mitglieder in die Bundesrepublik. Just in den gleichen Monat fällt auch der Umzug der Büros und Veranstaltungsräume aus dem bisherigen Haus der ostdeutschen Heimat am Kaiserdamm in Charlottenburg ins neue Domizil in der Stresemannstraße in Kreuzberg, nämlich unter gleichem Namen in das Europahaus bzw. später Deutschlandhaus (dem heutigen Sitz des Dokumentationszentrums Flucht, Vertreibung, Versöhnung).
Eine Bildersammlung gehörte leider nicht zum ...
Eine Bildersammlung gehörte leider nicht zum Archivbestand, wohl aber eine Bildtafel, die vor allem Aktivitäten der Jugendgruppe, aber auch der Trachtengruppe aus den fünfziger bis beginnenden sechziger Jahre zeigt.
In den sechziger Jahren reduzierte sich die Verbandsarbeit offenbar analog zum Wegzug mancher bis dahin aktiver Mitglieder und sie gewann eine gewisse Routine: das Waldfest (Majalis) im Frühsommer, der Tag der Heimat und bald auch ein Bootsausflug im Sommer, das Trachtenfest im Herbst (letztmals 1967), die Nikolo- und Adventsfeier vor Weihnachten, dazwischen Lesungen sächsischer Autoren waren die Höhepunkte, wobei Unterstützungsaktionen mit Paketen und mit Medikamenten sowohl in die DDR wie nach Siebenbürgen ganz erheblich waren, ein Mehrfaches der Mitgliederzahl des Landesverbands (1959 waren es 198, 1967 schließlich 165 und 1972 noch 135). In den Vorstandssitzungen kam schon mal der Einwand, dass man den Kontakt zu den Mitgliedern in der großen Stadt verliere und man Bezirksbeauftragte benennen solle, doch auch die fanden sich nicht. Auch die bis dahin üblichen organisierten gemeinsamen Busfahrten zu Pfingsten nach Dinkelsbühl fanden schließlich nicht mehr statt, weil die Kostendeckung immer schwieriger wurde und nicht mehr alle Bedürfnisse unter einen Hut zu bringen waren. Die vormalige Jugendgruppe hatte sich inzwischen in der ganzen Bundesrepublik zerstreut. Stattdessen gab es nun Altenfreizeiten, die ab der zweiten Hälfte der Sechziger regelmäßig im Westen besucht wurden. Um 1962 gab es wiederholt Überlegungen, auch in Berlin ein Siebenbürgerheim analog zu Rimsting oder Gundelsheim zu errichten, doch es gab zu wenige Unterstützer für diese Idee und der Bundesverband argumentierte in dem Sinne dagegen, dass das Heim in Osterode/Harz für die Landsleute in Niedersachen und Berlin geplant werde.

1965 wäre beinahe ein Coup geglückt: Am Rande eines Geburtstagsempfangs für den Regierenden Bürgermeister Willy Brandt sprach der Landesvorsitzende Oswald Schönauer den ihm bekannten Bezirksbürgermeister von Berlin-Zehlendorf an und konnte ihn offenbar für die Idee einnehmen, dass der Bezirk die Patenschaft für den Landesverband der Siebenbürger Sachsen übernehmen solle. Die Angelegenheit zog sich über ein halbes Jahr hin, doch konnten sich die Fraktionen im Bezirksamt nicht dazu durchringen, diese Patenschaftsverpflichtung einzugehen. Die Angelegenheit war damit erledigt und weitere Versuche tauchen später nicht mehr auf. Allerdings gab es früher schon welche, 1956 mit dem Bezirk Reinickendorf und nach dessen Ablehnung versuchte Schönauer, damals noch nicht Vorsitzender, 1957 den Bezirk Wilmersdorf erfolglos zur Übernahme einer Patenschaft zu bewegen.

Die siebziger Jahre brachten Wandel in unterschiedlichsten Bereichen. Immer häufiger reisten Verbandsvertreter oder Einzelpersonen nach Siebenbürgen und ihre Berichte und Erkenntnisse brachten viel Diskussionsstoff, auch in Berlin. Es zogen auch neue Landsleute zu und versuchten, sich in dem offenbar in Routine verfallenen Landesverband einzubringen, so etwa Pfarrer Gerhard Möckel oder der spätere Konstanzer Ordinarius für Alte Geschichte Wolfgang Schuller, promovierter Jurist. Bei einer Mitgliederversammlung 1976 stellten sie zusammen mit einer ganzen Reihe anderer Mitglieder fest, dass die Vorstandswahlen eben so durchgeführt wurden, wie bis dahin immer – und das war keinesfalls ordnungsgemäß, denn es gab weder eine Wahlordnung noch war etwas anderes vorgesehen oder möglich als was der alte Vorstand sich überlegt hatte. Hier sollte nun ein Umdenkprozess einsetzen, und auch im Vorstand brachten jüngere Mitglieder wieder etwas mehr Schwung in die Arbeit; die Mitgliederzahl hatte sich um 150 eingependelt. Im gleichen Jahr wurde der Versuch der Gründung einer neuen Jugendgruppe unternommen, und das Verkehrsabkommen mit der DDR erleichterte ab 1978 den Austausch mit der Bundesrepublik erheblich. Wenn aber der Vorsitz über zwei Jahrzehnte hin in einer Hand bleibt, dann ist es nicht ganz einfach, anschließend nahtlos weiterzumachen, wenngleich es keine Unterbrechung der üblichen Aktivitäten gab.

Ab 1984 fand sich in Dietrich Brandsch-Böhm ein neuer Vorsitzender. Neben den Routineterminen blieb der soziale Aspekt der Verbandsarbeit mit gleich hohem Engagement bestehen: Hunderte von Lebensmittelpaketen und Medikamentenpäckchen gingen jährlich sowohl in die DDR wie nach Siebenbürgen. Und dann sollte man meinen, dass die Wende in besonderer Weise auch im Verbandsleben ihren Niederschlag gefunden haben sollte, aber die Unterlagen schweigen dazu – als hätte es alles nicht gegeben! Hingegen lässt sich feststellen, wie in den neunziger Jahren zunächst die Aktivitäten ausdünnen und das Interesse an einer Mitarbeit abnimmt. Mit einem vollständigen Vorstandswechsel und dem Vorsitzenden Johann Schöpf wurde das Verbandsleben wieder intensiver, wobei als glückliche Fügung 1999 die Gründung des Rumänischen Kulturinstituts Berlin hinzukam und sich hier vielfältigste Möglichkeiten der Kooperation ergaben. Was durchaus erstaunt, ist der Umstand, dass die Verbandsmitglieder in den neuen Bundesländern erst ab Herbst 1999 in den Landesverband Berlin mit integriert wurden und dieser seine Benennung um „Neue Bundesländer“ erweiterte – was war in den neun-zehn Jahren davor geschehen? Man kannte doch von vielen Landsleuten die Adressen von den Paketaktionen her und manche besuchten auch die Berliner Veranstaltungen!? Die Unterlagen können jedenfalls nicht alle Fragen beantworten. Für die Folgejahre nahm das Mitteilungsblatt Landesverband Berlin/Neue Bundesländer die Funktion eines Kommunikationsmediums ein, das uns zugleich über die durchaus zahlreichen kulturellen wie auch geselligen Angebote informiert. Allerdings finden sich ab etwa 1997 keinerlei interne Unterlagen wie Korrespondenzen oder Protokolle mehr, offenbar gaben die Amtsträger diese nicht zu den Vereinsakten wie jahrzehntelang vorher. Das Jahr 2004 bringt noch einmal zwei Ereignisse – und damit wäre das Jahrhundert seit der Gründung des ersten Vereins durch Wilhelm Schnell voll. Und zwar begingen die Mitglieder der 1954 gegründeten Jugendgruppe ihr 50. Gründungsjubiläum in Berlin, wobei die meisten aus dem ganzen Bundesgebiet angereist waren. Kurz zuvor war bei einer außerordentlichen Mitgliederversammlung der einstimmige Beschluss der Anwesenden gefasst worden, den Landesverband als selbständigen e.V. eintragen zu lassen. Damit begann eine Sonderentwicklung unter den Berliner Sachsen, die der die Unterlagen auswertende Historiker glücklicherweise nicht nur deswegen nicht weiterverfolgen muss, weil der Aktenbestand hier zu Ende ist, sondern weil das Ereignis für eine historische Einordnung noch zu jung ist und daher zu einem späteren Zeitpunkt und mit weiteren Quellen zu behandeln sein wird.

Gewiss wird man in den von unserem Landsmann Prodeus dankenswerterweise dem Archiv übergebenen acht Archivkartons noch viel mehr interessante Informationen entlocken können. Aber dieser kurze Überblick soll doch zeigen, wie wichtig es ist, Vereins- und Verbandsarchive, etwa von Landesgruppen oder Heimatortsgemeinschaften, aufzuheben und zu gegebener Zeit unserem Archiv anzuvertrauen. Dieses freilich bedarf fortwährender Unterstützung sowohl durch die Übergabe von Schriftgut jeder Art wie auch in materieller Weise. Zu letzterem bietet der Spendenaufruf, der dieser Folge der Siebenbürgischen Zeitung beiliegt, eine hervorragende Gelegenheit!

Dr. Harald Roth

Schlagwörter: Berlin, Verein, Siebenbürger Sachsen, Geschichte, Archiv, Tradition, Trachten, Brauchtum

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