4. Mai 2001

Zeitgenössische Lyrik aus Rumänien: Ioana Ieronim

Seit dem Sturz der kommunistischen Diktatur erfreut sich das Werk zahlreicher zeitgenössischer Lyriker, Erzähler und Essayisten Rumäniens einer wachsenden internationalen Resonanz. So auch die Texte der 1947 im siebenbürgischen Rosenau geborenen Ioana Ieronim, die neben Ana Blandiana, Mircea Dinescu, Daniela Crasnaru oder Liliana Ursu zu den profiliertesten Stimmen rumänischer Gegenwartsliteratur zählt. Die im Burzenland aufgewachsene Autorin, die die deutsche Schule besuchte und sich der sächsischen Gemeinschaft ihres Heimatortes eng verbunden fühlte, war, nach ihrem Studium der Anglistik und mehrjähriger Tätigkeit bei einem bekannten Bukarester Verlag, von 1992 bis 1996 als Kulturreferentin an der rumänischen Botschaft in Washington tätig und lebt inzwischen wieder in Bukarest.
Ihr neues Buch umfasst 63 Texte, rund zwei Drittel ihres siebten und bisher letzten Bandes, in dem Ioana Ieronim 1992 unter dem Titel “Triumful paparudei“ Werke früheren Entstehungsdatums vorgelegt hatte, die bis dahin wegen ihrer ebenso offenen wie schmerzlichen Auseinandersetzung mit den Gegebenheiten im kommunistischen Nachkriegsrumänien nicht ans Licht der Öffentlichkeit gelangen konnten.
Als “Paparuda“ - hier mit “Water Witch“ (Wasserhexe) übersetzt - bezeichnet der rumänische Volksmund, wie dem exzellent geschriebenen, sachkundigen Vorwort zu entnehmen ist, gemeinhin eine grell geschminkte, auffällig gekleidete, geschmacklos und aufdringlich daherkommende Frau. An diese Vorstellung knüpft offensichtlich der Text an, der dem Band seinen Titel gibt: Ein Trommelwirbel am Ende der Straße kündigt die Ankunft der Wasserhexe an, die ins Dorf einzieht, die Lippen rot geschminkt, eine Pistole im Stiefel und eine riesige Uhr am Handgelenk tragend. Die Menschen werden zusammengetrommelt, versammeln sich in der Ortsmitte, vernehmen, dass neue Gesetze erlassen, neue Steuern erhoben werden, und kehren gesenkten Blickes zu ihren Häusern zurück. Der Triumphzug der hier eindeutig als Soldatenfrau der sowjetischen Siegermacht zu identifizierenden “Water Witch“ markiert den Augenblick, in dem das Jahrhundert entzweibricht, die Erde aus ihrer Umlaufbahn gerissen und das Leben im Karpatenbogen in die Knie gezwungen wird (Vgl. S. 24).
Doch ist mit der Vorstellung einer irrationalen Gefährdung, einer unbeherrschbaren Macht des Fremden und Bösen, die Individuum und Gemeinschaft gleicherweise in ihrer physischen Existenz und moralischen Integrität bedroht, nur die eine Bedeutungskomponente des Titelbegriffs angesprochen, dessen etymologische Wurzeln in vorchristliche Zeit zurückreichen und einem uralten Fruchtbarkeitsritus entspringen. Es heißt, dass “Paparuda“ einstmals für jene jungen Mädchen stand, die in Zeiten der Dürre ihre Blöße nur mit Laubwerk bedeckend, durchs Dorf liefen und von den Bewohnern mit Wasser bespritzt wurden, um auf diese Weise den ersehnten Regen herbeizubeschwören. So klingt denn in dem Bild der “Wasserhexe“ nicht allein das Unberechenbare und Zerstörerische, sondern auch das Urwüchsige, Naturverbundene an, die Vorstellung des Aufgehobenseins in einer sinnvollen Weltordnung, deren Gesetze auch in den Turbulenzen düsterster Zeiten noch Bestand haben.
Die Ambivalenz des Titels verweist auf die thematische Grundkonstante des Bandes, dessen Texte im weitesten Sinne um die Suche nach Möglichkeiten zum Erhalt der inneren Freiheit und Wahrhaftigkeit vor dem Hintergrund einer auseinander brechenden, der Lüge und dem Misstrauen anheim gegebenen Gesellschaft kreisen. In einer Zeit, in der Wort und Sinn, Lippenbekenntnis und innere Überzeugung, Schein und Sein immer weiter auseinander driften, versucht ein kindlich-offenes Individuum, die Welt zu begreifen und dabei eins mit sich selbst zu bleiben. Das kleine Mädchen, das hier der Welt seinen Spiegel vorhält, erlebt die Realität zunächst naiv und unbefangen: Auf die öffentlichen Trauerkundgebungen zum Tode Stalins reagiert es mit einem spontanen Tränenausbruch; beim Anblick der übergroß an den Wänden öffentlicher Gebäude prangenden Porträts der kommunistischen Überväter Marx und Engels fragt es, die den Mund überwuchernden Bärte betrachtend, wie diese Männer denn das Essen bewerkstelligten – und versteht weder das teils betretene, teils schmunzelnde Schweigen der Anwesenden noch den zurechtweisenden Blick der Mutter, auch wenn die später erklärt, dass Vorsicht geboten sei, da man doch nie wisse, wer möglicherweise mithöre.
Dieses ungebrochene Erleben seiner Umwelt aber kommt dem Kind in dem Maße abhanden, in der es in die Erwachsenenwelt hineinwächst, die Infiltration der Angst, des Argwohns und der Täuschung in seine tägliche Lebenswirklichkeit realisiert. Es bekommt mit, wie Nachbarn nachts aus ihren Häusern geholt werden und nicht wiederkommen, es erfährt, wie Freunde der Familie, rechtschaffene und fleißige Menschen, enteignet, aus ihren Häusern vertrieben, gedemütigt und ins gesellschaftliche Abseits gedrängt werden, und erlebt schließlich die Desintegration der siebenbürgisch-sächsischen Volksgemeinschaft, in deren Kreis es durch Erziehung und persönliche Bindungen von Kind auf hineingewachsen ist und deren Sprache, Traditionen und Wertvorstellungen längst ein Teil seines Selbst geworden sind. In einem der letzten Texte des Bandes steht das Bekenntnis, gelernt zu haben, wie man spricht, ohne seine Lippen zu bewegen, mit regungslosem Gesicht, so als hätte der Wind die Worte gesprochen (Vgl. “I know how to speak“ – S.8 3).
Was dem Einzelnen bleibt im Kampf gegen die drohende Selbstentfremdung ist das in der Kindheit verankerte Bewusstsein dauerhafter Bindungen und dem Wandel der Zeiten widerstehender Werte, verkörpert in heimischen Mythen und Märchen, den geheimnisvollen Wäldern und den über dem Dorf hoch aufragenden Bergen, in der alten Burg, dem Wahrzeichen Rosenaus – kurz in der integrativen Kraft der Tradition. Nur wer ein “Waisenkind der Tradition“ wird, wem seine Erinnerung abhanden kommt, der läuft Gefahr, seine Identität zu verlieren (Vgl. “An Orphan from Tradition“ – S. 43). Darum muss es die Aufgabe der Dichterin sein, zu tun, wozu die Mutter das Kind einst mahnte: Acht zu geben auf die Worte (“So we´re supposed to take care of the words now“ – S. 43), sie vor dem Vergessen zu bewahren und sie in ihrer unverfälschten Bedeutung über die Unbill der Zeit zu retten.
Ioana Ieronim ist eine sprachbewusste Autorin, die ihre Worte sorgsam setzt und in deren kraftvoll-suggestiven Bildern jedes einzelne Element stimmig wirkt und unverrückbar scheint. Doch leben die Texte nicht allein von der Assoziationsvielfalt und Symbolkraft ihrer Bildersprache, sondern auch von der Klarheit und Prägnanz ihres narrativen Ausdrucks. Die reimlosen Langzeilentexte von unterschiedlicher Zeilenlänge, die, wenngleich gelegentlich rhythmisiert, sich keinem regelmäßigen Metrum fügen und sich formal eher in Absätze als in Strophen gliedern lassen, sind im Grenzbereich zwischen Lyrik und Prosa anzusiedeln. Sie verbinden echtes lyrisches Erleben, das “punktuelle Zünden“ der Welt in einem sensiblen, erlebenden und registrierenden Ich, mit der epischen Grundhaltung einer Erzähler-Instanz, die der Welt betrachtend gegenübersteht, sie vor den Augen des Lesers wiederentstehen lässt und gelegentlich auch wertet, deutet, hinterfragt. In der Rolle der kindlichen, sich während des Erlebnis- und Beobachtungsprozesses gleichzeitig auch entwickelnden Betrachterin artikuliert sich ein lyrisches Ich (oder eine Ich-Erzählerin), mir deren Perspektive die Autorin sich vielerorts identifiziert, mitunter jedoch auch kritisch-reflektierend auseinandersetzt.
Ins Englische übertragen wurden die Texte von Adam J. Sorkin, Professor für Englisch an der Penn State University, in enger Zusammenarbeit mit Ioana Ieronim. Aus der Feder Sorkins, der für seine Übersetzungen zeitgenössischer rumänischer Lyrik schon mehrfach ausgezeichnet wurde, stammt auch das durchaus lesenswerte Vorwort, das für den vielleicht weniger sachkundigen englischsprachigen Leser ebenso hilfreich sein dürfte wie die knapp gehaltenen, aber informativen Anmerkungen, die dem Rezipienten das zum Textverständnis nötige geographische und historische Hintergrundwissen liefern. Dass Ioana Ieronims Texte auch in ihrer englischen Übersetzung den Leser in ihren Bann ziehen, ist sicher auch Sorkins Verdienst.

Ute Rill


Ioana Ieronim: The Triumph of the Water Witch. Translated by Adam J. Jorkin with Ioana Ieronim. Bloodaxe Books, Newcastle upon Tyne, Thursday 25 May 2000, 96 Seiten; ISBN: 1-85224-483-6.
Das Buch ist zum Preis von 18.95 US-Dollar bei www.amazon.com erhältlich, wo auch eine weitere Übersetzung (von Georgiana Farnoaga und Sharon King) des gleichen Gedichtbandes angekündigt wird.
Vertrieb in den USA über Dufour Editions, Tom Lavoie, PO Box 7, Chester Springs, PA 19425, Telefon: (610) 458-8005; (800) 869-5677, E-Mail: dufour823@aol.com.
The Triumph of the Water Witch
Ioana Ieronim
The Triumph of the Water Witch

Bloodaxe Books Ltd
Taschenbuch

Jetzt bestellen »

Schlagwörter: Rezension, Lyrik, Rosenau

Bewerten:

Noch keine Kommmentare zum Artikel.

Zum Kommentieren loggen Sie sich bitte in dem LogIn-Feld oben ein oder registrieren Sie sich. Die Kommentarfunktion ist nur für registrierte Premiumbenutzer (Verbandsmitglieder) freigeschaltet.