30. Oktober 2024
„Die Lerche hängt an den Wolkenbändern“: Gedanken zum Gedichtband von Volker Bergel
Im schmalen Buch, das ich in den Händen halte, gibt es so viele ausdrucksstarke, bewegende, greifbare Sprachbilder, dass sie sich fast aus dem Papier lösen und davonfliegen. Der Zugang zum Wort ist unverstellt, der Rhythmus klar, die Sprache atmet Freiheit: „Manchmal fallen Blumen/ von den Bäumen/ und manchmal fallen Sterne/ vom Dach/ und manchmal fallen/ leuchtende Augen/ vom Himmel/ Ich weiß nicht/ was ich mit den Blumen/ den Sternen den Augen/ beginnen soll/ die alle darauf warten/ dass ich mit ihnen/ einen Reigen tanze“ (S. 16).

Auch Volker Bergel „musste die [poetische] Sprache nicht erlernen, denn er trug sie gleichsam in sich“ (Manfred Winkler). Und auch das Erscheinen seines Gedichtbands ist keine Selbstverständlichkeit: Seit seinem neunten Lebensjahr lebt Volker Bergel in einer betreuenden Dorfgemeinschaft. Wie im Vorwort zu lesen ist, kam es bei seiner Geburt 1958 in Kronstadt „zu einer lebensbedrohlichen Komplikation“, die zu kognitiven Einschränkungen führte. Er war zudem noch kein Jahr alt, als sein Vater Hans Bergel im Kronstädter Schriftstellerprozess zu fünfzehn Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Erst 1963 konnten sie sich begegnen. Nicht nur das Eingangsgedicht lässt den Schmerz dieser Trennung erahnen. Die väterliche Überfigur („Mein Vater ist ein großer Bär“, S. 47) ist in einem Fünftel der Texte präsent. Der Vater hat aber auch sehr konkret dazu beigetragen, dass diese Gedichte überhaupt erhalten blieben: Hildegard Bergel-Boettcher, Volkers ältere Schwester, schreibt in der Vorbemerkung, wie der Bruder die Texte hochkonzentriert verfasste, oftmals jedoch die Blätter unzufrieden zerknüllte, und der Vater sie dann aus dem Papierkorb rettete. Die Gedichte warteten mehr als zwei Jahrzehnte in einer Mappe, ihre Zeit war noch nicht gekommen. Erst seit 15 Jahren ist die UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland in Kraft, erst allmählich und zögernd verändert sich der Blick der Gesellschaft auf Inklusion, erst nach mehreren unbeantworteten Anfragen an diverse Verlage kam das Buchprojekt zustande.
Nimmt man nun diese Biografie zur Kenntnis, so wirken die Gedichte – abgesehen von ihrer literarischen Qualität – auch unweigerlich wie ein Spiegel, in dem die Leserin die eigenen Kriterien, Schubladen und Selbstverständlichkeiten irritiert sieht. Es stellt sich etwa die Frage, welches der Unterschied ist zwischen einem Dichter, der die Satzzeichen weglässt, um seine künstlerische Freiheit bewusst zu zelebrieren, und einem, dem die Verse unbedarft aus Kugelschreiber oder Schreibmaschine fließen, weil er sie so „in sich trägt“. Wann ist ein Mensch, der gute Gedichte schreibt, ein „Schriftsteller“? Liest man den Text eines Autors anders, wenn man die Eckdaten seiner Biografie kennt? Was ändert sich im eigenen Blick? Sollte man nicht vielmehr allein den Text sprechen lassen und sich für ihn öffnen? „Im Winter ist auf unserem Berg/ nur der Schnee/ und darüber die Krähen/ Die weißen Bäume/ ducken sich/ unter dem Schrei/ der schwarzen Krähen/ Wie dunkle Steine/ sind die Krähen/ die jemand mit der Hand/ hinauf in den Himmel warf“ (S. 62).
Er sei „nicht so wie die anderen“, schreibt der Autor dieser Verse. Aber wie sind überhaupt „die anderen“ – wie sind „wir“? Was nimmt Volker Bergel von der Welt wahr, was „wir“ nicht wahrnehmen? Das leise Lachen der Blätter im Wald (14), Feen „aus Licht und Luft“ (17), Seelen, die niedersinken „wie ein nasses Tuch“ (23), eine Lerche, die sich aus dem Himmel nicht befreien kann (28) oder eine Katze, die „ihr eigenes Denkmal“ (56) ist.
Der Autor stellt auch eine zentrale Frage, die sehr viel an unlösbarer Spannung in „unserer“ Beziehung zu ihm erkennen lässt: „Warum muss ich reden/ wenn sie mich etwas fragen?“ Durch „unsere“ – sicherlich unverzichtbare – Unterstützung im alltäglichen Leben entsteht ein Machtgefälle, mit dem sich beide Seiten auseinandersetzen müssen. Die Literatur selbst steht dem gleichgültig gegenüber, ihre Welt ist stets „anders“. „In der Nacht ist kein Gras gewachsen/ In der Nacht ist kein Schnee gefallen/ die Flocken waren/ bunte Augen im schwarzen/ Licht der Nacht,/ Jetzt liegen sie wie der Tod im Feld,/ sie können nicht weinen und nicht lachen“ (67). Diese Gedichte sind – wie die Katze auf Seite 56 – ihr eigenes Denkmal.
Christine Chiriac
Volker Bergel: „Ich bin in den schwarzen Himmel gefallen“. Gedichte. Edition Noack & Block, Berlin, 2024, 78 Seiten, 15 Euro, ISBN 978-3-86813-203-8.
Schlagwörter: Bergel, Buchbesprechung, Lyrik, Hans Bergel
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