13. November 2006

Oskar Pastior - mehr als "nur" experimenteller Lyriker

Die Verleihung des Büchnerpreises durch die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtkunst in Darmstadt an den aus Hermannstadt stammenden Dichter Oskar Pastior fand überwiegend Zustimmung, aber auch Kritik. So in dem Artikel des Literaturchefs der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Hubert Spiegel, der vor allem die späte Würdigung des fast 80-jährigen Preisträgers beanstandete. Es sei bloß eine „kleinmütige“ Tat, das Lebenswerk eines Sprachexperimentierers zu würdigen, nachdem schon Gesinnungsbrüder wie Helmut Heißenbüttel oder Ernst Jandl und die Gesinnungsschwester Friederike Mayröcker sich derselben Ehrung erfreut hätten.
Pastior machte die Sprache, indem er sie von dem ideologieverdächtigen, vorgegebenen Bedeutungszwang im normalen Sprachgebrauch befreien wollte, zum Gegenstand seiner poetischen Arbeiten. Dies allerdings erst, seit er 1968 auf einer Dichterreise im Westen geblieben ist. So beginnen leider die meisten Überlegungen zu Pastiors poetischem Œuvre auch meist erst mit seinem West-Debütband „Vom Sichersten ins Tausendste“, 1969 im Suhrkamp Verlag erschienen. Dabei hatte Oskar Pastior davor schon ein vierzigjähriges Ostleben hinter sich gebracht, dem es wie vielen seiner Landsleute nicht an Abgründen mangelte.
Am 20. Oktober 1927 in Hermannstadt als Sohn eines Zeichenlehrers geboren, wurde er kraft Kollektivschuldzuweisung im Januar 1945 17-jährig nach Russland deportiert, mit allen rumäniendeutschen Männern zwischen dem 17. und dem 45. Lebensjahr und allen rumäniendeutschen Frauen zwischen dem 18. und 35. Lebensjahr. Dort überlebte er nur dank des „Arbeitsselektierers“, der aus Erbarmen mit dem schmächtigen, halb verhungerten Siebzehnjährigen diesen nicht in die Kohlengrube verplante, sondern ihm eine Arbeit in der Kolchose zuwies. Hier blieb er bis 1949, als man ihm die Heimreise gestattete. Pastior arbeitete zunächst als Gelegenheitsarbeiter und leistete drei Jahre Militärdienst in einer Arbeitseinheit ab, bis ihm 1955 die Aufnahmeprüfung an der Universität Bukarest gelang, nachdem er im Fernstudium das Abitur abgelegt hatte. Als Student begann er kontinuierlich zu veröffentlichen. So wurde er praktisch jedem Rumäniendeutschen ein Begriff, da seine Gedichte öfters im Neuen Weg erschienen. Dieser hatte in den späten fünfziger und den sechziger Jahren eine Auflage von 60 000 Exemplaren. Natürlich musste Pastior zeitbedingt Konzessionen an die Tagespolitik machen, was er jedoch durch eine sehr anschauliche, metaphernreiche Sprache zu einer gepflegten Lektüre hochstilisierte. Bei den damals vorherrschenden sozialistischen Realismus-Dogmen wirkte das oft erfrischend aufmüpfig und trug ihm die Verehrung des Redaktionssekretärs Georg Hromadka ein, der für Pastiors neue Lyrik eine Lanze zu brechen verstand.
An der Universität wurde seine Studiengruppe von allen nur die „Pastiorgruppe“ genannt. In Rumänien studierte man damals im geschlossenen Gruppenverband vom ersten bis zum zehnten Semester. Während seiner Studienzeit war die Privatwohnung Oskar Pastiors – er war mit der Bühnenbildnerin, Malerin und Volkstumsforscherin Roswitha Capesius verheiratet – ein regelmäßiger Treffpunkt eines Zirkels unangepasster Künstlerfreunde aus der Universität, zu denen die Studentendichter Georg Hoprich (1960 Opfer eines Schauprozesses mit anschließender mehrjähriger Gefängnishaft) und Richard Adleff sowie der Literaturkritiker, Essayist und Übersetzer Dieter Fuhrmann gehörten. Dies war nicht ungefährlich, da man in den Ausläufen des Stalinismus, die de facto bis Mitte der sechziger Jahre in Rumänien anhielten, leicht in den Verdacht konterrevolutionärer „Untergrundtätigkeiten“ geraten konnte. Auch hier bewies der sehr sensible, beinahe schüchtern wirkende Pastior durchaus Zivilcourage.
Sein geschicktes Versteckspiel mit vieldeutigen Metaphern begann, und er brachte es zu einer allgemein bewunderten Virtuosität. Pastior wurde zum eigentlichen Bahnbrecher für die rumäniendeutsche Literatur hin zu einer modernen lyrischen Aussage. Jammerschade, dass nach seinem Verbleiben im Westen sein lyrisches Schaffen in der alten Heimat unter den schwierigen Bedingungen des Dogmas des sozialistischen Realismus so gut wie nicht zur Kenntnis genommen wird, obwohl es einige sehr beachtliche Gedichte aufzuweisen hat. Zum Beispiel das von der Neuen Literatur, der deutschsprachigen Monatszeitschrift aus Bukarest, in den sechziger Jahren preisgekrönte Gedicht „Der Vagant“, das der platten Auffassung vom rein gesellschaftlichen Gebrauchswert der Dichtung das romantische Ideal des ewigen Wanderdichters, des Vaganten, entgegenstellt.
Das Gedicht „Der Sturz des Eichbaums“ reizte die dogmatischen Literaturfunktionäre bis zur Weißglut. Auf dem Deutschlehrerfortbildungskurs in Temeswar interpretierte der eingeladene Journalist Hans Fink vom Neuen Weg in Bukarest dieses Gedicht als den Abgesang auf den Parteifunktionär alten Schlages, der mit unheimlichem Krach zu Boden donnern muss, weil seine Zeit für immer vorbei sei.
Sprachsensibilität aus Siebenbürgen

In einem Gedicht über die Menschheit und den Bodensee äußert Pastior sein Entsetzen darüber, dass nach einer formal logischen mathematischen Berechnung die ganze Menschheit, im Bodensee versenkt, diesen bloß um Zentimeter steigen ließe. In seinem ganzen Hass wolle er dies Vernunftkalkül ertränken, war die Botschaft des Dichters. Prof. Dr. Johann Wolf markierte in seiner Gedichtinterpretation Pastiors grundsätzliche Ablehnung eines vulgären Materialismus. Damit war gewiss die Dogmatik des sozialistischen Realismus gemeint, wo der Dichter nach dem Diktum Stalins nichts anderes zu sein hatte als der „Ingenieur der Seele“.
Pastior war keineswegs „fortschrittsfeindlich“, so die Kampfparole der Literaturfunktionäre gegenüber den Unliebsamen, sondern ganz im Gegenteil darauf bedacht, dass der Fortschritt die menschliche Existenz zu erleichtern und nicht zu gefährden habe, wie dies im Kalten Krieg tagtäglich geschah. Sein Gedicht „Zum Erleichtern es gelang“, in dem diese Auffassung von Fortschritt vertreten wurde, fand sogar Eingang in die Schulbücher der gymnasialen Oberstufe der deutschsprachigen Schulen Rumäniens.
Dies alles sollte Oskar Pastior keineswegs vor den wütenden deutschsprachigen Kulturfunktionären schützen, die 1965 eine regelrechte Kampagne in dem Kronstädter deutschsprachigen Zentralorgan des Kreisparteikomitees, der Volkszeitung, gegen die moderne rumäniendeutsche Lyrik entfachten. Dies unter dem Vorwand, die neuesten deutschsprachigen lyrischen Produkte unter die Lupe nehmen zu müssen mit Beteiligung der Leserschaft, deren Leserbriefe zum Teil richtiggehend erfunden wurden. Ihre Absender gab es einfach nicht, und eine Überprüfung wurde vom Chefredakteur Eduard Eisenburger, Mitglied im Zentralkomitee und auch sonst der höchste Partei- und Staatsfunktionär der Rumäniendeutschen, schlichtweg unterbunden. Dies ermöglichte seinem damaligen Literaturabteilungsleiter Hans Schuller, dessen einzige Berufslegitimation sein Parteibuch war, munter weiter zu machen. Die Freunde und Förderer Oskar Pastiors verfolgten die „Anti-Pastior-Tendenz“ dieser Kampagne mit Beklemmung. Der Rumänische Schriftstellerverband setzte dem vorläufig ein Ende, indem er Pastiors Gedichte (in den Bänden „Offne Worte“ und „Gedichte“ im Bukarester Literaturverlag veröffentlicht, dank des Engagements des Redakteurs Michael Bürger) mit dem Lyrikpreis auszeichnete.
Der Präsident des Rumänischen Schriftstellerverbandes, Zaharia Stancu, schätzte vor allen Dingen auch Pastiors reiche Übersetzertätigkeit. Noch in der alten Heimat hatte er unter anderem „Kyra Kyralina“ und „Die Disteln des Bărăgan“ von Panait Istrati atmosphärisch dicht übersetzt, dazu Gedichtbände der rumänischen Klassiker der Moderne, Tudor Arghezi und Lucian Blaga. Nach seinem Absetzen in den Westen 1968 sollte Oskar Pastior diesen wichtigen Teil seines Werkes fortsetzen und hier vor allem Petrarca, aber auch den rumänischen Surrealisten Urmuz gleichsam nachdichten. Dies gilt auch für die Übersetzungen aus dem Russischen, aus Velimir Chlebnikows Werk.
Der im deutschsprachigen Raum am besten bekannte Teil des Werkes von Pastior ist seine experimentelle Lyrik, die mit „Vom Sichersten ins Tausendste“ (1969) beginnt und sich mit einer ganzen Reihe von Lyrikbänden experimenteller Poesie fortsetzt, wie „Gedichtgedichte“ (1973), „Fleischeslust“ (1976), „Der krimgotische Fächer. Lieder und Balladen“ (1978), „Wechselbalg. Gedichte 1977-1980“, „Sonetburger“ (1983), „Das Hören des Genitivs“ (1997), „Villanella & Pantum“ (2000), „Mein Chlebnikow“, zweisprachige Ausgabe mit CD (2003).
Pastiors Sprachsensibilität erwächst, wie er immer wieder selbst betont hat, aus seiner Sozialisierung in der alten Heimat Siebenbürgen, wo er schon von Kindesbeinen an verschiedene Sprachen und Idiome kennen lernte. Das im heimatlichen Hermannstadt gesprochene Hochdeutsch der Mystiker und Lehrer wurde in der Bundesrepublik oft als archaisch überzeichnet. Im „Krimgotischen Fächer“ gibt Pastior Aufschluss über seine sprachlichen Quellen. Es sind dies die siebenbürgisch-sächsische Mundart der Großeltern, das etwas archaisch anmutende Hochdeutsch der Eltern, das Rumänisch der Behörden und das primitive Lagerrussisch aus der Zeit seiner Deportation. Diese autobiografischen Referenzen ermöglichen einen gewissen Nachvollzug bis hin zur Pastior’schen Eigensprache in einer Poetik, die die Wirklichkeit als Sprachproblem betrachtet. Seine Texte können verstanden werden als ein lebenspraktisches Unternehmen, einem sprachlichen Existenzialismus das „Wort zu reden“ oder besser noch das Wort reden zu lassen, die Sprache aus sich selbst herauswuchern zu lassen, ohne dann allerdings den letzten Schritt zu tun.
Oskar Pastior hat trotz aller Verschlüsselung, Wörtlichnehmung, Bedeutungszerfragung und Neubedeutungszusammensetzung die Wurzeln seiner Sprachherkunft doch bewahren können, was ihm 2001 den Doctor honoris causa der Lucian-Blaga-Universität seiner Vaterstadt Hermannstadt einbrachte. Bemerkenswert genug, dass nach der Bekanntgabe der Preisverleihung der heutige Vorsitzende des Rumänischen Schriftstellerverbandes, der Literaturhistoriker und Essayist Nicolae Monolescu, in einem zu diesem Anlass geschriebenen Artikel Oskar Pastior gratuliert und ihn auch zur rumänischen Literatur zählt und damit zu Recht auch die rumänische Literatur in deutscher Sprachfassung gewürdigt sieht, wie man das bei Eugen Ionesco (wie Oskar Pastior in Rumänien geborenen und aufgewachsen) in französischer Sprachgebung schon längst tut.

Ingmar Brantsch

(gedruckte Ausgabe: Siebenbürgische Zeitung, Folge 18 vom 15. November 2006, Seite 9)

Schlagwörter: Oskar Pastior, Ehrungen

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