18. Oktober 2007

Sechs Tierfabeln aus Joseph Haltrichs Nachlass

In der ersten Auflage der „Sächsischen Volksmärchen in Siebenbürgen“ (1856) sind nur wenige Tiermärchen (im Rahmen der „Kleinkindermärchen“) enthalten. Joseph Haltrich hatte bereits ein Jahr früher in der Abhandlung „Zur deutschen Tiersage“ – im Programm des Schäß­burger Gymnasiums, 1855 – ein reiches Material von Tiermärchen und -fabeln der Öffent­lichkeit übergeben und sah aus diesem Grunde davon ab, den selben Zyklus von Tier­märchen seiner großen Märchenausgabe einzuverleiben.
Später trug sich Joseph Haltrich dennoch mit dem Ge­danken, die Tiersagen in einen geplanten zweiten Band der „Märchen“ aufzunehmen. Da die Abhandlung zur Tiersage in einem neuen Ab­druck erscheinen konnte, verzichtete er je­doch auf diese Absicht und beschränkte sich darauf, die zweite Auflage der „Märchen“ bloß mit einigen „vereinzelten Stücken“ aus den Tiersagen zu ergänzen. Folglich gehen sämtliche Tiermär­chen, die Haltrich veröffentlichte, auf seine Ab­hand­lung zur Tiersage zurück und gehören zu seinen ältesten Forschungen.

In den „Erläuterungen zu den Tiermärchen“ („Zur Volkskunde der Siebenbürger Sachsen“, kleinere Schriften von J. Haltrich, in neuer Bearbeitung herausgegeben von J. Wolff, 1885), wird erwähnt, dass in Haltrichs Sammelgut noch zahlreiche Versionen von Tierfabeln vorkommen. Als Erstveröffentlichung bringen wir aus Haltrichs Nachlass sechs Tiermärchen, die im Manuskript (Familienbesitz) unter dem Titel „Fabeln“ aufgezeichnet sind. Sie sind teilweise als Versionen zu werten („Der Fuchs und die Kohlmeise“ als Variante von „Der Fuchs heilt des Raben Kinder von der Krätze“, in den Volksmärchen Nr. 111; „Der Fuchs und der Kürschner“, zu vergleichen mit „Der Fuchs verliert seinen Pelz und bereut dabei seine Sünden“, Nr. 117, und mit „Der Fuchs hängt geschunden am Baum und wird vom Hasen geneckt“, Nr. 118). Sie blieben in den „Er­läuterungen“ (a.a.O.) unberücksichtigt. Zu den Fabeln 1 und 6 sind in der „Abhandlung“ keine Gegenstücke zu finden. Somit können sie als Originale und nicht bloß als Varianten betrachtet werden.

Der Titel „Fabeln“ ist berechtigt, denn ein Vergleich mit den Tiermärchen zeigt, dass hier bewusst und mehr oder weniger ausgeprägt die Form der Fabel angestrebt wird.

Walter Roth

Der Hahn, der Regenwurm, der Fuchs und der Bauer

Ein Hahn schnappte vom Mist einen Regen­wurm auf; der zitterte und zappelte verzweifelt und rief: „Pardon! Schone mein.“ „Nur nicht so ängstlich!“, sprach der Hahn, „es hilft doch zu nichts!“ und verschlang den Regenwurm. Den Hahn aber packte sogleich ein Fuchs, der un­ver­merkt herangeschlichen war, und biss ihm den Kopf ab, indem er sprach: „Das zum Lohn für deine Grausamkeit!“ Kaum hatte der Fuchs dieses ausgesprochen, so hatte ihn der Bauer, der auf denselben gelauert, auch im Genick erfasst, erwürgte ihn und rief: „Her deinen Pelz, du Schleicher; wie kannst du es wagen, auf meinem Eigentum peinliches Gericht zu halten?“

Der Fuchs und die Kohlmeise

Eine Kohlmeise flog klagend umher; der Fuchs sah sie und fragte sie teilnehmend: „Was fehlt dir denn, du Arme?“ „Ach, meine Kinder haben einen bösen Ausschlag!“ „Ich bin Arzt“, sprach der Fuchs, „führe mich hin; ich werde sie heilen.“ Da führte die Kohlmeise den Fuchs zum Nest. „Sie sind ja ganz kahl und nackt und frieren, die Ärmsten, o wie erbarme ich sie; doch ihnen kann geholfen werden; sie brauchen nur ein warmes Bett; das will ich ihnen sogleich verschaffen!“ Damit erhaschte und verschlang er sie; mit Not nur entging die alte Kohlmeise selbst. Pfui über den Arzt, der seine Patienten frisst!

Der Wolf und das kranke Lamm

Ein hungriger Wolf – hungrig ist eigentlich jeder Wolf immer – traf ein krankes Lamm auf einer Wiese. Da erkundigte er sich scheinbar teilnehmend nach der Krankheit und versprach seinen Beistand. Das Lamm aber lehnte die Hilfe des Garstigen, wie sehr er sie auch aufdrängen wollte, beharrlich ab und sagte: „Lasse mich nur in Ruhe; ich werde mir schon selbst helfen!“ „Nein!“, rief der Wolf, „ich kann das mit meinen Augen nicht sehen, wie du leidest; ich will ja nur dein Bestes!“, packte damit das arme Lamm und zerriss es.

Der Fuchs und der Kürschner

Der Fuchs hing am Baum und der Kürschner zog ihm eben die Haut über die Ohren. „Was denkst du jetzt?“, fragte der Kürschner den Fuchs. „Ach, es hat alles einen Übergang!“, seufzte der Fuchs. „Nur das?“, fragte der Kürschner wieder. „O nein, noch etwas“, rief der Fuchs: „Ei, dass du doch hier hingest!“

Ein alter Wolf und die Pferde

Ein alter Wolf kam zu den Pferden und sprach: „Ich habe mit euch so lange in Feind­schaft gelebt, euch so oft misshandelt und verfolgt, dass ich es begreife, wenn ihr meinen versöhnlichen Worten nicht sogleich Glauben schenket; doch jetzt meine ich es ehrlich; ich kann euch versichern, dass es mein vollkommener Ernst ist, mit euch auf gutem Fuße zu stehen und euer Aufseher und Lehrer zu werden!“ Da sahen ihn die Pferde mit großen Augen an und sprachen mit innerer Empörung: „Schwei­ge, du alter Schächer, du wirst uns nicht übertölpeln; das hieße ja den Bock zum Gärtner machen; wir wissen wohl: eher lässt der Vogel von der Luft, der Fisch vom Wasser, als der Wolf vom Füllenwürgen!“

Die Wachtel und der Hänfling

Eine Wachtel lief einmal in einem Kornfelde fröhlich und unbesorgt hin und her; da verstrickte sie sich in einer gelegten Schlinge. Während sie nun voll Angst arbeitete, um sich frei zu machen, flog ein Hänfling vorüber. Sogleich rief sie ihm zu: „Lieber Freund, komm und hilf mir; siehe, böse Knaben haben hier eine Schlinge aufgestellt; ich hatte sie nicht gesehen; nun werde ich darin festgehalten; hilf mir; ich werde dir’s einmal vergelten!“ Aber der Hänfling rief ihr höhnisch zu: „Ja, wer in der Welt leben will, muss sich die Augen auftun!“ und flog weiter. Schon hörte die Wachtel die Knaben herbeikommen. Da strengte sie in der Verzweiflung ihre ganze Kraft an, und siehe da, sie wurde endlich frei und flog fort. Nach langer Zeit, als sie einmal in der Nähe eines Gehölzes streifte, hörte sie einen Vogel ihr ganz kläglich zurufen: „Wer du immer bist, erbarm dich meiner und hilf mir; siehe, böse Knaben haben auf diesen Baum Leimruten gestellt; ich hatte sie nicht gesehen und mich daraufgesetzt, und nun werde ich festgehalten; hilf mir, ich werde dir’s vergelten!“ Die Wachtel eilte hinzu und wollte helfen, denn sie dachte gleich daran, wie wohl es ihr gekommen wäre, wenn der garstige Hänfling in ihrer Not ihr beigestanden wäre. Als sie aber nahe kam und denselben Hänfling, der sie in ihrem Unglück verspottet hatte, an dem Bau­m­ast schweben und von Leimruten festgehalten sah, ließ sie ihn zappeln und sprach zu ihm, indem sie sich wegwandte, dieselben Worte, die er ihr einmal zugerufen hatte: „Ja, wer in der Welt leben will, muss sich die Augen auftun!“ Bald darauf kamen die Knaben, fingen und töteten den Hänfling.

Externe Links:

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1000 Märchen: Josef Haltrich

Schlagwörter: Kinder, Märchen

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Neueste Kommentare

  • 28.08.2008, 14:23 Uhr von erasmus: Hallo Herr Roth, bei welchem Verlag sind diese Märchen erschienen? Wo kann man sie ... [weiter]

Artikel wurde 1 mal kommentiert.

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