27. Januar 2008

Differenzierte Erinnerungen an Flucht und Evakuierung in Nordsiebenbürgen

Der promovierte Historiker Johann Böhm, seit 1989 Herausgeber der „Halbjahresschrift für südosteuropäische Geschichte, Literatur und Politik“, ist auch Verfasser der Werke: „Die Deut­schen in Rumänien und die Weimarer Republik 1919-1933“, „Die Deutschen in Rumänien und das Dritte Reich 1933-1940“ und „Die Gleichschaltung der Deutschen Volksgruppe in Rumä­nien und das ‚Dritte Reich‘ 1941-1944“. Chronologisch schließen sich die Erinnerungen dieses autobiographischen Erzählbandes an diese drei Werke an, da sie überwiegend die Jahre 1944 und 1945 mit einer Vielzahl von veranschaulichenden Einzelheiten behandeln.
Zunächst schildert der siebenbürgische Histo­riker eine Reihe von persönlichen und familiären Erfahrungen aus der Zeit vor dem Zusammen­stellen des Flüchtlingstrecks seiner Heimatge­meinde, des nordsiebenbürgischen Botsch, im September 1944. Als dessen Ursache erweist sich die unheilvolle Verwicklung einer nach puritani­scher Arbeitsmoral lebenden, evangelisch-luthe­rischen Dorfgemeinschaft mit 800-jähriger siebenbürgisch-sächsischer Tradition in die Gleich­schaltungsmaschinerie der nationalsozialistischen Ideologie. Eine Hauptrolle dabei spielte die raffinierte Verführung durch vollmundige Ver­sprechungen aus dem „Dritten Reich“, vorgebend, Schluss zu machen mit dem ständigen po­litischen und wirtschaftlichen Druck, unter dem die deutsche Minderheit in der Zwischen­kriegs­zeit im neuen Großrumänien stand. Die deutschen Siedlungsgruppen, die sich für das neue Großrumänien ausgesprochen hatten, erkannten nicht die Absicht des „Dritten Rei­ches“, sie mittels völkischer Ideologie als Kanonenfutter für den Eroberungskrieg im Osten zu benutzen.

Hier liegt der Schwerpunkt des Buches, in der Beschreibung, wie die über Jahrhunderte ge­wachsene evangelische Identität dieser Siedler­gemeinschaft, zu der selbstverständlich die Spra­che Luthers und der demokratische Kirchen­auf­bau gehörten, wie auch eine erstaunlich demokratisch konzipierte Gemeinschaftsstruk­tur, nicht gegliedert nach Stand und Besitz, sondern nach Nachbarschaften und christlichen Bruder- und Schwesterschaften, von der nationalsozialistischen Volksgruppenführung mit dem von Berlin eingesetzten Fanatiker Andreas Schmidt an der Spitze ausgehöhlt wurde. Dies geschah durch die nationalsozialistische Gleichschaltung ihrer Organi­sationen oder sogar durch deren Verbot, wie dies mit den kirchlichen Bruder- und Schwesterschaften geschah. Zum Schluss fanden diese auch in Botsch Ver­führten keinen anderen Ausweg mehr, als sich nach dem Frontwechsel Rumäniens am 23. Au­gust 1944 mit einem sieben Kilometer langen Treck auf den Weg nach Westen zu begeben.

Im Falle der Nordsiebenbürger Sachsen war dies doppelt tragisch, weil sie den 2. Wiener Schiedsspruch vom 30. August 1940, demzufolge das 43 492 Quadratkilometer große Nordsieben­bürgen von Hitler und Mussolini Horthy­-Ungarn zugeschlagen wurde, ablehnten; umso mehr, als sie zusammen mit der rumänischen Bevölkerung Nordsiebenbürgens die von den beiden Diktato­ren vergewaltigte Mehrheit bildeten. Die besondere Tragik der Nordsiebenbürger Sachsen be­stand auch darin, dass viele von ihnen nach Kriegsende in die alte Heimat zurückkehrten, wo in ihre Häuser und Höfe neue Besitzer eingewie­sen worden waren: Rumänen, aber auch Un­garn, darunter nicht wenige, die den Wiener Schiedsspruch 1940 frenetisch begrüßt hatten.

Ungewöhnlich für eine Autobiografie mutet neben den dramatischen Erlebnissen des 15-jäh­rigen Haupthelden innerhalb seiner Familie auf dem Treck die Liebesgeschichte zwischen der Siebenbürger Sächsin Marie und dem ungarischen Militärangehörigen Lazlo an, eine wahrhafte „Romeo- und Julia-Geschichte“, die Johann Böhm einflicht. In ihrer herzzerreißenden Dra­matik ist sie sicherlich ein typisches Schicksal jener Zeit der Tragödien auf der Landstraße, sprengt aber mit zitierten Liebesbriefen und dem Kriegselend abgerungenen romantischen Abend- und Nacht-Liebesstunden, Trennung und Wiederfinden den Rahmen einer Autobiografie und eröffnet eine neue Dimension ins allgemeine Erzählen. Nach den Wirren und neuen Ge­fährdungen der letzten Kriegswochen kommen die Flüchtlinge in ein amerikanisches Sammel­lager, wo sie, entgegen ihrer ideologischen Vor­urteile, unerwartet menschlich behandelt wer­den. Gerade heute, in den Zeiten eines oft geschichtsvergessenen, platten Antiamerika­nis­mus, begrüßenswerte Erinnerungen.

Dennoch entschließen sich einige zur Rück­kehr in die russisch besetzte Zone und erleben nun auf ihrer Heimkehr Albtraumhaftes. Rot­ar­misten aus dem Tross plündern und vergewaltigen Frauen und Mädchen, ohne dass die Offi­ziere der Roten Armee eingreifen. Sie werden in Lager mit SS-Verbrechern und auch „einfachen“ SS-Männern gesteckt und wie diese hart angefasst. Als sie dann endlich wieder in ihren Hei­matorten sind, finden sie ihre Häuser und Höfe besetzt und sind den neuen Besitzern auf Gedeih und Verderb ausgeliefert als Arbeitnehmer ohne Rechte. Viele müssen Zwangsaufbau­arbeit in den zerstörten Städten verrichten.

Neu in diesem Buch ist auch, wie dankbar der Autor den befreundeten rumänischen Familien ein literarisches Denkmal setzt, indem er ihre Menschlichkeit und großzügige Hilfs­be­reitschaft am Beispiel der eigenen Familie schildert.

Zum Schluss gibt Böhm einen etwas summari­schen Ausblick auf die Zeit Rumäniens ab 1948, als die deutsche Minderheit wieder ihre Rechte unter den Rahmenbedingungen des ru­mänischen Stalinismus erhielt. Nun konnte sie wieder gleichberechtigt in den rumänischen Kolchosen arbeiten und erhielt in den 50er Jahren auch ihre Häuser und Höfe zurück. Dank ihres Flei­ßes, ihrer Zuverlässigkeit und ihrer Gesetzes­treue (mitunter auch interpretierbar als Obrig­keitshörigkeit) schafften sie eine unglaubliche Fortführung ihrer jahrhundertealten Geschich­te, ohne ihre Identität – auch nicht in den Zeiten des Stalinismus – einzubüßen. Dem Autor gelingt es ab 1948, wenn auch nicht ganz ungefährdet, ein Lehr­amtsstudium zu absolvieren und bis zu seiner mühevollen Ausreise 1969 diesen Beruf erfolgreich auszuüben.

Ingmar Brantsch

Johann Böhm: „Hakenkreuz und rote Fahne. Erinnerungen eines Siebenbürger Deutschen aus zwei Diktaturen“, Vechtaer Druckerei und Verlag 2007, 276 Seiten, ISBN 978-3-88441-238-1, 18,50 €. 10 % Rabatt bei Bestellungen bei: Dr. Johann Böhm, Franzstraße 27, 49413 Dinklage, E-Mail: agk-dr.boehm [ät] t-online.de.

Schlagwörter: Rezension, Nordsiebenbürgen, Krieg, Flucht und Vertreibung

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