28. November 2024

Politisches Erdbeben in Rumänien

Der parteilose Călin Georgescu hat den ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl in Rumänien am 24. November überraschend mit 22,9 Prozent der Stimmen für sich entschieden. 2,1 Millionen Wähler stimmten für ihn, um 350.000 mehr als für Elena Lasconi, Vorsitzende der Union Rettet Rumänien (USR), einer öko-liberalen Partei, die 19,2 Prozent erzielte. Die beiden werden am 8. Dezember in der Stichwahl um das Präsidentenamt antreten. Schon am 1. Dezember findet die Parlamentswahl statt.
Erste Presseerklärung des unabhängingen ...
Erste Presseerklärung des unabhängingen Kandidaten Călin Georgescu am Wahlabend des 24. November. Standbild aus dem YouTube-Video.
Ein politisches Erdbeben löste nicht nur der Sieg des EU- und NATO-kritischen Călin Georgescu aus, sondern auch das katastrophale Ergebnis der Spitzenkandidaten der beiden Regierungsparteien. Premier Marcel Ciolacu, Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei (PSD), der in Umfragen als unangefochtener Favorit der Präsidentschaftswahl gehandelt wurde, erzielte nur den dritten Platz mit 19,1 Prozent der Stimmen, um 2.740 Stimmen weniger als Lasconi. Nicolae Ciucă, Vorsitzender der Nationalliberalen Partei, wurde nur Fünfter mit 811.952 Stimmen (8,8 Prozent) nach George Simion von der rechtsextremen AUR-Partei mit 13,9 Prozent. Abgeschlagen auf Platz 6 mit 6,3 Prozent landete der ehemalige NATO-Vizegeneralsekretär Mircea Geoană, der seinen Rückzug aus der Politik ankündigte.

Dem Standard zufolge sei es ein „Protestvotum gegen die regierenden Parteien, die Sozialdemokraten (PSD) und die Liberalen (PNL)“ gewesen. „Soziologen und Politologen sehen die hohe Inflation von fünf Prozent und die zunehmende Verarmung der Bevölkerung als wesentliche Gründe für das Ergebnis.“

Eine heiße Debatte ist um Călin Georgescu entbrannt, der in den Umfragen und Medien bislang unbeachtete Kandidat, der über die chinesische Online-Plattform TikTok und andere soziale Medien zahlreiche Wähler erreichen konnte. In der Diaspora erzielte Georgescu 43,35 Prozent der 821.703 abgegebenen Stimmen, eine deutliche Mehrheit in Deutschland (58 Prozent), Frankreich, Großbritannien, Spanien und Italien. Lasconi kam auf insgesamt 26,8 Prozent der Auslandsstimmen und führte in den USA, Kanada, Polen, Ukraine u.a. Die Allgemeine Deutsche Zeitung für Rumänien berichtet: „Die ausländische Presse reagiert geschlossen alarmiert: Reuters warnt vor einer ,Gefährdung der starken Pro-Ukraine-Haltung Rumäniens‘ und Georgescus geäußerten Sympathien für den Faschisten Ion Antonescu. Die Deutsche Welle bezeichnet ihn als ,rechtsextremistischen NATO-Kritiker‘, Bloomberg und France 24 als pro-russischen Kandidaten, der Putin hochlobt.“

Călin Georgescu stellte gegenüber der Presse klar, dass er sich nie für den Austritt Rumäniens aus der Europäischen Union oder der NATO ausgesprochen habe, sondern für eine selbstbewusste Mitgliedschaft seines Landes. Er sprach sich gegen das bisherige unterwürfige Verhalten aus, er wolle die nationalen Interessen seines Landes an die erste Stelle setzen. Ihm gehe es um Frieden, Zusammenarbeit und Diplomatie. Der 62-jährige Agraringenieur, der 1999 den Titel eines Doktors der Pedologie erwarb, arbeitete jahrelang bei den Vereinigten Nationen im Bereich der Umweltschutzes und der Nachhaltigkeit, wirkte in rumänischen Regierungen im Umwelt- und Außenministerium mit und war Mitglied des Club of Rome. Rumänischen Medien zufolge erhält er nun Hilfe von Robert F. Kennedy Jr., den Donald Trump als US-Gesundheitsminister designiert hat. Kennedy kennt Georgescu seit Jahren und will ihn durch seinen Rumänien-Besuch im Wahlkampf unterstützen.
Erste Presseerklärung der USR-Vorsitzenden Elena ...
Erste Presseerklärung der USR-Vorsitzenden Elena Lasconi nach Bekanntgabe der Wahlergebnisse. Standbild aus dem YouTube-Video.
Elena Lasconi, ehemalige Journalistin und derzeitige Bürgermeisterin von Câmpulung Muscel im Süden Rumäniens, „ist durch ihre Fernsehkarriere als Investigativreporterin einem breiteren Publikum bekannt“ (Der Standard). Sie gilt „als Verfechterin einer Erhöhung der Verteidigungsausgaben innerhalb der NATO sowie der weiteren Unterstützung der Ukraine“. „Auf Elena Lasconi ruhen plötzlich die Hoffnungen des Westens“ in der Stichwahl „gegen den gefährlichen Putin-Bewunderer Călin Georgescu“, schreibt die Süddeutsche Zeitung.

Eine ähnliche Position vertritt auch der Vorstand des Demokratischen Forums der Deutschen in Rumänien (DFDR), der seinen Mitgliedern und Sympathisanten bei der Stichwahl am 8. Dezember empfiehlt, „für die Vorsitzende der USR, Elena Lasconi, zu stimmen“. Der DFDR-Vorsitzende Paul Jürgen Porr schreibt: „Die während der Wahlkampagne gemachten antisemitischen und anti-NATO Äußerungen und die der Legionärsbewegung sowie Ion Antonescu gegenüber geäußerten Sympathien von Călin Georgescu widersprechen den demokratischen Prinzipien des DFDR und seiner proeuropäischen und pro-NATO Einstellung.“

Umstrukturierungen kurz vor der Parlamentswahl

Kurz vor der Parlamentswahl vom 1. Dezember sorgen die Rücktritte der PSD- und PNL-Vorsitzenden für erhebliche Unruhe in den beiden Regierungsparteien, die sich im Wahlkampf gegenseitig angegriffen hatten. Beide führen ihr schlechtes Ergebnis bei der Präsidentschaftswahl auch auf ihre Nähe zu Staatspräsident Klaus Johannis zurück, dem innenpolitisch eine schwache Leistung nachgesagt wird. Premier Marcel Ciolacu erklärte, er werde bei den internen Wahlen für kein anderes Amt in der PSD antreten. Ein Vertrauter Ciolacus, der Europaabgeordnete und Vizepräsident des Europäischen Parlaments, Victor Negrescu, wird die Parteigeschäfte der PSD kommissarisch führen, bis eine neue Führung gewählt wird, berichtet die ADZ. Negrescu erklärte, die PSD wolle das Vertrauen der Wähler zurückgewinnen und auf einen neuen Kommunikationsstil setzen.

Die Führungsaufgaben in „einer für die PNL schwierigen Situation“ übernimmt der Kreisratschef von Bihor, Ilie Bolojan, bis zur Wahl eines neuen Vorstands. „Zu seinem Team gehören erfolgreiche Kommunalpolitiker der Partei wie der Klausenburger Stadtherr Emil Boc und der Bürgermeister des sechsten Bukarester Stadtbezirks, Ciprian Ciucu“, meldet die ADZ. Bolojan kündigte an, dass seine Partei „ohne weitere Verhandlungen“ bei der Stichwahl Elena Lasconi und ihre proeuropäische Richtung unterstützen werde.

Siegbert Bruss

[Dieser Artikel wurde am 30. November 2024 um 17.16 Uhr aktualisiert]

Schlagwörter: Parlamentswahlen, Präsidentschaftswahlen

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  • 30.11.2024, 19:38 Uhr von Bir.Kle.: "Premier Marcel Ciolacu, Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei (PSD), der in Umfragen als ... [weiter]
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