23. November 2010

Möge der Volkstrauertrag zum „Volksfriedenstag“ werden

Am 14. November 2010, dem Volkstrauertag, wurde in ganz Deutschland der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft gedacht, unter anderem auch in Dinkelsbühl, Partnerstadt des Verbandes der Siebenbürger Sachsen und „Heimat“ der 1967 errichteten Gedenkstätte. An der Gedenkfeier beteiligten sich Abordnungen der Bundeswehr, der Feuerwehr und der örtlichen Vereine, unter ihnen auch die Kreisgruppe Dinkelsbühl-Feuchtwangen, vertreten durch den Vorsitzenden Georg Schuster und Nachbarvater Horst Wellmann. Die Stadtkapelle Dinkelsbühl, die Sängervereinigung Concordia 1831 und der Sudetendeutsche Männerchor umrahmten die Feier musikalisch. Nach einem Gottesdienst in der katholischen Kirche wurden Kränze an der Kriegergedächtniskapelle niedergelegt. Dinkelsbühls Oberbürgermeister Dr. Christoph Hammer zitierte in seiner Rede Bundeskanzlerin Angela Merkel und sagte, der schonungslose Umgang mit der Geschichte sei die einzige Grundlage, um aus der Geschichte zu lernen. Geschehenes könne nicht ungeschehen gemacht werden, man müsse sich aber die Erinnerung bewahren. Als Vertreterin des Verbandes der Siebenbürger Sachsen sprach zum Abschluss der Feierstunde Ute Bako geb. Schuller, Landesjugendleiterin der Siebenbürgisch-Sächsischen Jugend in Deutschland (SJD), Landesgruppe Bayern, an der Gedenkstätte der Siebenbürger Sachsen. Ihre Rede wird im Folgenden in Auszügen wiedergegeben.
Ich stehe hier als junger Mensch, der Kriege nur aus Fernsehberichten, aus Erzählungen, aus der Geschichte und Dokumentationen kennt. Was kann ich über den Volkstrauertrag sagen? Schließlich lebe ich in einem Land ohne Krieg und Gewalt. (...)

Auch wir, die wir heute in Frieden leben, haben Ängste, andere – kleinere – Ängste: Werde ich morgen meine Arbeitsstelle noch haben? Kann ich mein Haus abbezahlen? Wird mein Kind die Schule schaffen? Doch was sind diese Ängste gegen die „eine“ Angst, sein Leben zu verlieren, um sein Kostbarstes betrogen zu werden? Die Angst ums Überleben – sie beherrscht die Menschen, die sich inmitten von Krieg und Gewalt befinden: jeden Tag, jede Stunde, jede Minute. (...) Täglich erreichen uns Nachrichten über Krieg, Flüchtlingsdramen und Terroranschläge, hören wir von Krisengebieten, in denen die Freiheit durch Diktaturen oder Terrorismus bedroht ist. Deshalb dürfen wir in Deutschland nicht wegschauen, als ginge uns das alles nicht an! (...) Ich finde es richtig und wichtig, dass deutsche Soldaten an Friedensmissionen auf der ganzen Welt beteiligt sind. Damit stellt sich Deutschland der Verantwortung der Geschichte. Mehr als 7000 Bundeswehrsoldaten sind derzeit im Ausland im Einsatz. In dieser außerordentlichen Herausforderung beweisen sie Charakterstärke, Tapferkeit und Mut. Sie tragen entscheidend dazu bei, dass wir in Deutschland und Europa ohne Krieg leben können. (...)

In dieser Zeit, in der man sich gedanklich schon auf Weihnachten einstellt, kommen Erinnerungen an diejenigen, die nicht mehr unter uns sind. Ich möchte mein Weihnachten 1989 schildern, das letzte Weihnachtsfest in Siebenbürgen vor unserer Aussiedlung. Die Zeit war mit Angst verbunden, die ich bis dahin noch nicht kannte. Unsere Eltern erzählten uns von Terroristen, die bewaffnet durchs Land zogen – für mich kaum vorstellbar, wie so etwas aussehen sollte. Es herrschte Revolution. Am Morgen des 23. Dezember, ich war elf Jahre alt, erwachte ich durch laute Gespräche auf der Straße in Schaas. Meine Eltern waren in der Arbeit, ich war mit meinen Geschwistern allein zu Hause. Als ich das Fenster öffnet, um nachzuschauen, was draußen los war, erfuhr ich die Schreckensnachricht. Martin Wultschner war in der Früh mit seinem Auto zur Arbeit gefahren und kurz vor der Stadt Schäßburg von rumänischen Soldaten erschossen worden. Zwei weitere Menschen sollten noch dabei gewesen sein, aber man wusste nichts Genaues. Das ganze Dorf war in Aufruhr und stand unter Schock.

Am späten Vormittag hatten wir Schüler Generalprobe für das Krippenspiel. Auf dem Kirchplatz erfuhren wir, dass Michael Rimmner (Bruder eines Schulfreundes, der die Rolle des Josef im Krippenspiel hatte) einer der Erschossenen war. Sein Bruder Adolf wurde kreidebleich und lief davon. Pfarrer Johann Pitters sagte uns, wer die dritte Person war: Paul Wultschner. Probe und Krippenspiel wurden abgesagt. Nachmittags wurden die drei Opfer nach Hause gebracht. Statt eines Weihnachtsbaumes und der Geschenke gab es in diesem Jahr einen Sarg mit einem toten Vater, einem toten Sohn, einem toten Bruder. Die Familien sangen keine fröhlichen Weihnachtslieder, sondern hielten Trauerwache.

Martin Wultschner, 32 Jahre, hinterließ drei Kinder im Alter von zwölf, zehn und sieben Jahren, eine Ehefrau und seine Eltern. Michael Rimmner, 18 Jahre, hinterließ zwei Brüder im Alter von 15 und zwölf Jahren und seine Eltern. Paul Wultschner, 26 Jahre, hinterließ seine junge Frau mit dem zweijährigen Sohn und seine Eltern. Am 1. und 2. Weihnachtstag wurden sie zu Grabe getragen. Die Dorfgemeinschaft erlebte ein Weihnachten, wie sie noch keines erlebt hatte. Man trauerte um drei junge Männer, die in der Revolutions-Hysterie sinnlos erschossen wurden. Ich erwähne sie heute an diesem Ort, weil sie Opfer für die Freiheit der Siebenbürger Sachsen geworden sind.

Der Volkstrauertag bringt uns zum Nachdenken: Wie war und ist es möglich, dass so viele Unmenschlichkeiten in unserer vermeintlich so fortschrittlichen Zeit geschehen konnten und immer noch geschehen? Und deshalb geht der Volkstrauertrag gerade auch die Jüngeren unter uns an. Der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat das einmal so formuliert: „Die Jungen sind nicht verantwortlich für das, was damals geschah. Aber sie sind verantwortlich für das, was in der Geschichte daraus wird.“

Die Gräber und Gedenkstätten der Opfer von Krieg, Gewalt und Terror sind nicht nur Mahnmale. Sie sind vor allem Orte, die den Toten eine Stimme geben, wo diese uns sagen, was sie erlebt und erlitten haben – und welchen Auftrag sie uns erteilen. Ihr Vermächtnis heißt: Frieden! Frieden und Achtung vor dem Leben! Zieht aus dem Geschehenen die richtige Lehre! (...) Gedenken wir der Getöteten, Versehrten und Vermissten aus den beiden Kriegen, die für den Frieden ihr Leben gelassen haben. Gedenken wir der Überlebenden, die Angehörige verloren haben, der Opfer, die in Gefangenschaft, als Vertriebene und Flüchtlinge ihr Leben verloren, und der Kinder, die verstört waren und in den Kellern kauerten! Sie alle haben Ängste ausgestanden, die wir uns heute nicht mehr vorstellen können.

Wir Siebenbürger Sachsen trauern um die Opfer der Evakuierung 1944, der Deportation 1945 in die damalige Sowjetunion und der kommunistischen Diktatur in Rumänien und der Revolution 1989. Wir trauern auch um die Opfer von Terrorismus und politischer Verfolgung, um die Bundeswehrsoldaten und andere Einsatzkräfte, die im Auslandseinsatz ihr Leben verloren haben. Und denken wir auch an die Menschen, die sich in diesem Augenblick irgendwo auf der Welt in einem Krieg befinden, die jetzt gerade Todesangst haben. (...)

Dass wir heute an dieser Gedenkstätte stehen und unserer Opfer gedenken können, verdanken wir der Stadt Dinkelsbühl. Auch wenn wir in der ganzen Welt verstreut sind, gibt es hier einen Zufluchtsort, an dem wir unserer Vertriebenen, Flüchtlinge und Toten gedenken können. Herr Oberbürgermeister Dr. Hammer, wir danken Ihnen und der ganzen Stadt für diese Ruhestätte. Mit Ihnen haben wir einen Partner, Freund, Wegbegleiter und eine Heimat gefunden. Hier sind wir unseren Verstorbenen ganz nah. (...)

Der Volkstrauertrag soll uns stets Mahnung und Herausforderung sein: Halten wir das Andenken der Opfer in Ehren! Hören wir auf IHR Vermächtnis! Üben wir Frieden – im Gespräch sowie im Umgang! Versuchen wir, einander zu verstehen in Toleranz und Geduld! Ich wünsche uns, dass der Volkstrauertrag zu einem Volksfriedenstag wird.

Schlagwörter: Volkstrauertag, Gedenken, Dinkelsbühl

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