1. Dezember 2013

Gegen das Vergessen

Die zentrale Gedenkfeier der Stadt Dinkelsbühl zum Volkstrauertag am 17. November stand unter dem Motto „Gegen das Vergessen“. Verbände, Vereine und Vertreter des öffentlichen Lebens sowie viele Besucher gedachten der Opfer von Krieg und Gewalt. Volkstrauertag als Erinnerung an einen vor über 60 Jahren zurückliegenden Krieg? Für den Oberbürgermeister Dr. Christoph Hammer ist das zu wenig. Stattdessen sei eine aktive Auseinandersetzung mit der Nazi-Herrschaft und ihren Gräueltaten gefordert. Neben dem Gedenken an die vielen Opfer gehe es auch darum, ein Zeichen zu setzen gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit, Intoleranz und Menschenhass, forderte Dr. Hammer in seiner Ansprache vor der Gedächtsniskapelle.
An der Gedenkstätte der Siebenbürger Sachsen hielt die Stellvertretende Vorsitzende des Landesverbandes Bayern, Roswitha Kepp, die traditionelle Ansprache und stellte sich dabei einige Fragen: „Was bedeutet der Volks-Trauer-Tag für uns heute, in Zeiten einer sich immer schneller drehenden und damit oberflächlicher werdenden virtuellen Parallelwelt? Welchen Platz hat da TRAUER überhaupt noch? Können wir heute noch trauern? Was ist Trauern am Volks-Trauer-Tag? Berühren uns heute die beiden Weltkriege überhaupt noch persönlich?“ Im Folgenden wird ihre Ansprache auszugsweise wiedergegeben.

Gerade weil die Tage dieser Schreckensherrschaft für uns immer ferner werden, wird ein Tag des Erinnerns immer wichtiger. Denn Erinnern ist wichtig. Das Innehalten, das Gedenken. Und dieses können wir nur dann erhalten, wenn wir unseren Kindern unser geschichtliches Bewusstsein mitgeben und es schaffen, das zahlreiche Leid unserer Vorfahren anhand einzelner menschlicher Schicksale begreifbar zu machen.

Krieg und Gewaltherrschaft haben mit „blutiger Tinte“ in alle unsere Familien Geschichten geschrieben. Bei den einen nur wenige Sätze, bei den anderen ganze Kapitel. Viele von uns haben Väter, Großväter oder Urgroßväter; Brüder, Onkel oder andere Verwandte, die in den beiden Weltkriegen ihr Leben ließen oder deren Schicksal bis heute noch ungeklärt ist. Viele haben Verwandte, die Opfer der Russlandverschleppung oder der Vertreibung wurden. Direkt oder indirekt haben wir alle somit einen Bezug zu den Opfern der Kriege und der Gewaltherrschaft.

Bertolt Brecht hat einmal gesagt: „Der Mensch ist erst wirklich tot, wenn niemand mehr an ihn denkt.“ Deswegen wollen wir heute durch unser Gedenken die Erinnerung wach halten. Die schrecklichen Folgen von Kriegen dürfen nicht auf anonyme Zahlen reduziert werden, die wir staunend, aber emotionslos zur Kenntnis nehmen. Erst wenn wir uns vor Augen führen, dass jedes Opfer einen Namen hatte, eine Lebensgeschichte, eine Familie, Träume und Wünsche – erst wenn wir an die persönlichen Schicksale erinnern, entreißen wir die Toten der Anonymität und dem Vergessen. Erst dann gedenken wir wirklich, erst dann hat unser Erinnern Gesichter.

Wenn wir über Friedhöfe gehen, sprechen Gedenkstätten, Gräber zu uns; wir erfahren etwas über die Verstorbenen. Diese Stätten sind ein Ort der Erinnerung, des Bewahrens, der Liebe und der Hoffnung. Die zahlreichen Namen auf den Grabsteinen und Gedenktafeln, die wir auf den Friedhöfen oder vor und in den Kirchen unserer Dörfer in Siebenbürgen noch lesen können, sind die Namen, die auf all diese Schicksale hinweisen und deren Lebensgeschichten durch Krieg und Gewalt verändert oder jäh beendet wurden. Diese örtlichen Gedenkstätten sind daher wichtige Brücken zur Vergangenheit, die einprägsam und deutlich mahnen: All diese Opfer – Gefallene, Verhungerte und Ermordete – wurden gleichermaßen von Müttern, Vätern, Ehefrauen, Ehemännern, Großeltern, Kindern und Nachfahren beweint und betrauert. Erst durch diese Einzelschicksale bekommt das Grauen ein „Gesicht“. Wenn Schicksale einen Namen haben, Grauen ein Gesicht bekommt, berührt uns das stärker, als wenn wir in Geschichtsbüchern darüber lesen. Daher müssen wir stets an diese Menschen erinnern, die unter uns waren, und denen unsagbares Unrecht und Leid zugefügt wurde, und damit die Nachwelt immer wieder wachrütteln. Denn wer auch immer dem Inferno entkam, dessen Seele blieb mit tiefen, immer wieder aufbrechenden Narben schmerzlich für ein ganzes Leben gezeichnet.

Beim Blick auf vorhandene Gedenktafeln wird mir aber besonders bewusst, wie viele auf Kriegsgräberstätten in fremder Erde ruhen oder als vermisst gelten und nicht mal ein Grab haben. Vielleicht sind es gerade die Überreste des eigenen Großvaters, Vaters oder Onkels? Jedes einzelne Schicksal verdient es, nicht vergessen zu werden. Daher verdient es auch jedes Schicksal, dessen Namen noch erhalten ist, der Nachwelt vermittelt zu werden. Die Erhaltung und Pflege der Grabstätten in der neuen Heimat oder auf einem Friedhof in Siebenbürgen ist sowohl ein Zeichen der Achtung vor den Toten als auch ein Spiegel unserer Kultur. Sie können auch dann noch Zeugnis vom Wirken eines Menschen ablegen, wenn sie für die Nachwelt auch nur noch einen Namen und ein Datum enthalten.

Wer Denkmale erhält oder neue schafft, hält Erinnerungen wach. Steine werden zu Geschichtenerzählern, die sehr alt werden können. Sie werden zu Orten des Gedenkens, der Begegnung, des Nachdenkens. Daher möchte ich der Stadt Dinkelsbühl und ihren Bürgern danken, dass wir diese Stätte des Gedenkens haben dürfen. Daher ist der Volkstrauertag an der Gedenkstätte der Siebenbürger Sachsen hier in Dinkelsbühl ein bedeutender Bestandteil unserer Erinnerungskultur. Er konfrontiert uns mit der Vergangenheit, aber er gibt uns auch den Auftrag, das Vermächtnis der Opfer zu erfüllen und immer wieder zu Versöhnung unter den Menschen und dem Frieden in der Welt zu mahnen.

Deshalb gedenken wir heute der Opfer von Krieg und Gewalt. Besonders in unsere Erinnerung schließen wir ein: die Gefallenen, diejenigen die in Gefangenschaft gestorben oder seither vermisst sind, die Verfolgten und Vertriebe-­ nen aus unseren Gemeinden; die, deren Namen auf unseren Gedenktafeln aufgeführt sind, aber auch die, deren Leid, deren Krankheit und Tod nirgendwo festgehalten sind außer vielleicht in ihren eigenen Herzen oder in den Herzen derer, die ihnen nahe stehen oder gestanden haben. Die Verbundenheit zu diesen Menschen, ob wir sie gekannt haben oder nicht, führt uns heute am Volkstrauertag zusammen. Den Toten zur Erinnerung.

Schlagwörter: Erinnerungen, Volkstrauertag, Dinkelsbühl

Bewerten:

17 Bewertungen: ++

Neueste Kommentare

  • 01.12.2013, 12:47 Uhr von seberg: In der redaktionellen Einleitung zu Artikel heißt es: "Volkstrauertag als Erinnerung an einen ... [weiter]

Artikel wurde 1 mal kommentiert.

Zum Kommentieren loggen Sie sich bitte in dem LogIn-Feld oben ein oder registrieren Sie sich. Die Kommentarfunktion ist nur für registrierte Premiumbenutzer (Verbandsmitglieder) freigeschaltet.