31. Oktober 2019

70 Jahre Verband der Siebenbürger Sachsen - Festveranstaltung im Bayerischen Landtag

Was waren die Zutaten dieses bemerkenswerten Nachmittags, der auf den Abend ausgriff? Gewiss, ein in die Jahre gekommener Jubilar, der sich aber keineswegs im Herbst seiner Existenz wähnt; ranghohe, zudem gut gelaunte Gratulanten; nobles parlamentarisches Ambiente; in die Zukunft gerichtete Wünsche und Geleistetes anerkennende Gaben; jugendliches Auftreten, gediegene musikalische Unterhaltung; anregende Debattenkultur; leibliche Genüsse. Der in München ansässige Verband der Siebenbürger Sachsen in Deutschland feierte sein 70-jähriges Bestehen mit einer Festveranstaltung, die am 26. Oktober im Bayerischen Landtag unter dem Motto „70 Jahre – Für die Gemeinschaft“ stattfand. Unser Verband könne „mit großer Dankbarkeit auf die vergangenen sieben Jahrzehnte zurückblicken“, bekräftigte die Bundesvorsitzende Herta Daniel in ihrer Begrüßungsrede. Die „exzellenten Rahmenbedingungen“ in Deutschland hätten „ uns die Beheimatung erleichtert“.
Die Bundesvorsitzende hieß unter den Ehrengästen im Senatssaal des Bayerischen Landtags u. a. namentlich willkommen: Emil Hurezeanu, Botschafter von Rumänien in Berlin, Armin Laschet, Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, des Patenlandes unseres Verbandes, Dr. Bernd Fabritius, Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten und Präsident des Bundes der Vertriebenen (BdV), Pfarrer Wolfgang Rehner mit Gattin, Superintendent der Evangelischen Kirche in der Steiermark, auch in Vertretung des Bayerischen Ministerpräsidenten Dr. Markus Söder die Bayerische Staatsministerin für Familie, Arbeit und Soziales, Kerstin Schreyer, den Vizepräsidenten des Bayerischen Landtags, Markus Rinderspacher, dazu die ehemalige Landtagspräsidentin Dr. h.c. Barbara Stamm, Staatssekretärin Serap Güler aus dem Ministerium für Kinder, Frauen, Familie. Flüchtlinge und Integration NRW, als Vertreter des Demokratischen Forums der Deutschen in Rumänien den Abgeordneten im rumänischen Parlament Ovidiu Ganț, die Aussiedlerbeauftragten der Länder Hessen, Margarete Ziegler-Raschdorf, Bayern, Silvia Stierstorfer und Heiko Hendriks aus NRW, sodann Josef Zellmeier, Vertriebenenpolitischer Sprecher der CSU-Fraktion des Bayerischen Landtags, als Vertreterin Rumäniens Generalkonsulin Ramona Chiriac, die Bürgermeisterin von Gundelsheim Heike Schokatz und aus Dinkelsbühl Bürgermeister Paul Beitzer, den BdV-Vizepräsidenten Christian Knauer, Michael Schmidt als Gründer der gleichnamigen Stiftung, Konsulent Manfred Schuller, Bundesobmann des Bundesverbandes der Siebenbürger Sachsen in Österreich, mit Gattin, die Vorsitzende des HOG-Verbandes Ilse Welther, den Ehrenvorsitzenden unseres Verbandes Dr. Wolfgang Bonfert mit Gattin, sowie Vertreter befreundeter Landsmannschaften.

Rentengerechtigkeit auch für uns Spät-/Aussiedler

Herta Daniel dankte allen, „die dazu beigetragen haben, dass unser Verband zu dem geworden ist, was er heute darstellt“. „Mit 70“, sagte die Bundesvorsitzende, den chinesischen Philosophen Konfuzius zitierend, „folgte ich meinen Wünschen – ohne maßlos zu sein!“ In einem kurzen Streifzug durch die verschiedenen Dekaden der Verbandshistorie erreichte die Rednerin die Gegenwart, das 70-jährige Bestehen unserer Solidargemeinschaft. „Es war dieser ganz besondere siebenbürgisch-sächsische Sinn für die Gemeinschaft, dieses im Ernstfall ‚Füreinander-da-sein‘, ohne das wir als Siebenbürger Sachsen vermutlich all die Jahrhunderte nicht überlebt hätten und das uns zusammenschweißte. Das müssen wir – zumindest einige von uns - wieder erkennen, leben und wirken lassen!“
Bundesvorsitzende Herta Daniel bei ihrer ...
Bundesvorsitzende Herta Daniel bei ihrer Begrüßungsrede. Fotos: Christian Schoger
Ein Geburtstagsjubilar sollte einen Wunsch offen haben, meinte Daniel und sprach diesen sogleich aus: „Rentengerechtigkeit auch für uns Aussiedler und Spätaussiedler!“

Die zweistündige Festveranstaltung moderierte die neue Bundeskulturreferentin des Verbandes, Dagmar Seck (siehe Interview Neue Bundeskulturreferentin Dagmar Seck stellt sich im Gespräch vor), wortgewandt in souveräner Manier.
Bundeskulturreferentin Dagmar Seck moderiert  ...
Bundeskulturreferentin Dagmar Seck moderiert
Ein musikalisches Entrée bereitete den Festgästen schon vor Beginn der Veranstaltung die von Georg Philp geleitete Original Siebenbürger Blaskapelle München mit ihrem flotten Spiel im Foyer. Auf der Bühne des Steinernen Saals zeigte dann die Kindertanzgruppe Geretsried (Leiterin: Doris Onghert) erfrischende Darbietungen mit einem Tanz und Liedern.
Schwungvoller Auftritt der Kindertanzgruppe ...
Schwungvoller Auftritt der Kindertanzgruppe Geretsried
Die musikalische Umrahmung gestaltete das Münchner Klaviertrio mit Kompositionen von Antonin Dvořák, Joseph Haydn und Ludwig van Beethoven. Das Ensemble, bestehend aus Michael Arlt (Violine), Gerhard Zank (Violoncello) und Donald Sulzen (Klavier), erhielt für seine harmonisch aufeinander abgestimmten, lebendigen Interpretationen verdienten Applaus.
Das Münchner Klaviertrio spielte Kompositionen ...
Das Münchner Klaviertrio spielte Kompositionen von Antonin Dvořák, Joseph Haydn und Ludwig van Beethoven.

NRW hält an Patenschaft fest

Ministerpräsident Armin Laschet, Hauptredner bei der Festkundgebung des letztjährigen Heimattages, erinnerte an die Anfänge der seit 1957 bestehenden Patenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen für den Verband der Siebenbürger Sachsen in Deutschland. An die 1953 im Zuge der „Kohleaktion“ aus Österreich gekommenen Landsleute, die als Bergarbeiter in den Zechen des Ruhrgebiets und im Aachener Revier arbeiteten und sich in Herten, Langenbochum, Setterich oder Oberhausen ansiedelten. Unter Tage sei die Herkunft egal gewesen, hier zählte Verlässlichkeit. Laschet erwähnte die großen Schwierigkeiten bei der Ankunft der traumatisierten Flüchtlinge und Heimatvertriebenen im Nachkriegsdeutschland. Umso bewundernswerter sei ihre Integrationsleistung.
Armin Laschet, Ministerpräsident von Nordrhein ...
Armin Laschet, Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, des Patenlandes unseres Verbandes
Das Bewusstsein der Herkunft, des mitgebrachten kulturellen Reichtums gelte es zu bewahren. Man könne mehrere Identitäten haben, so auch Rheinländer oder Bayer sein und zugleich Siebenbürger Sachse. Das sei eine ganz wichtige Botschaft hinein in unsere Gesellschaft, betonte Laschet. NRW habe seit Februar 2018 einen Beauftragten der Landesregierung für die Belange von deutschen Heimatvertriebenen, Aussiedlern und Spätaussiedlern, Heiko Hendriks, der erst im Mai Siebenbürgen besucht und mit der deutschen Minderheit gesprochen habe. Auch diese Landsleute wolle NRW in der Pflege ihrer Kultur unterstützen. Dies entspreche dem europäischen Gedanken in dieser schwierigen Zeit nationaler Egoismen.

Rinderspacher: „Wegweisendes geleistet“

Markus Rinderspacher, Vizepräsident des Bayerischen Landtags, beglückwünschte den Verband zu 70 Jahren gelebter Solidarität. Der SPD-Politiker erinnerte „in der Herzkammer der bayerischen Demokratie“ an den der Verbandsgründung vorangegangenen, erlittenen Heimatverlust, etwas das seiner Generation erspart geblieben sei.
Markus Rinderspacher, Vizepräsident des ...
Markus Rinderspacher, Vizepräsident des Bayerischen Landtags
Die Geschichte der Siebenbürger Sachsen sei auch in Bayern eine „Erfolgsgeschichte des starken Zusammenhalts, Gemeinsinns und des Brückenbauens“. Rinderspacher lobte die jahrzehntelangen sozialen und kulturellen Leistungen der Siebenbürger Sachsen, das identitätsstiftende Wirken des Verbandes zur Bewahrung des Kulturerbes sowie bei der Traditionspflege, darüber hinaus auf dem Feld europäischer Versöhnungs- und Verständigungsarbeit. Der Verband habe „Wegweisendes geleistet“.

Schreyer: „Sie sind eine Säule unserer Gesellschaft“

Die Bayerische Staatsministerin für Familie, Arbeit und Soziales, Kerstin Schreyer, gratulierte dem Verband zu 70 Jahren erfolgreicher Arbeit: „Sie haben Wichtiges geleistet, Sie sind eine Säule unserer Gesellschaft.“ Der Verband sei lebendig und pulsiere, gebe Orientierung und Halt, vermittle als Ansprechpartner Herkunftswissen weiter.
Kerstin Schreyer, Bayerische Staatsministerin für ...
Kerstin Schreyer, Bayerische Staatsministerin für Familie, Arbeit und Soziales
Die studierte Sozialpädagogin dankte für die generationenübergreifende Arbeit. Bayern sei „sehr stolz“, dass der Verband in München gegründet wurde. Sie sicherte die beharrliche Unterstützung des Freistaates Bayern für das Anliegen der Rentengerechtigkeit für Spät-/Aussiedler zu. Bayern habe zudem einen eigenen Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung eingeführt. Die Staatsministerin Schreyer wies auf „sehr konstruktive Gespräche“ im Zusammenhang mit dem gemäß bayerischem Koalitionsvertrag geplanten Kulturzentrum der Siebenbürger Sachsen hin und stellte weitere Fortschritte in Aussicht. Die Siebenbürger Sachsen seien ein „leuchtendes Beispiel“ für das Brückenbauen. Diese Fähigkeit sei im heutigen Europa nicht minder wichtig.

Ministerpräsident Söder „ein halber Sachse“

Ministerpräsident Markus Söder würdigte die Siebenbürger Sachsen in seiner Videobotschaft als „große Bereicherung für Bayern“. Als langjähriges Verbandsmitglied, zudem beim Heimattag 2018 mit dem Großen Ehrenwappen ausgezeichnet, fühle er sich den Landsleuten sehr verbunden. Der Ministerpräsident des Freistaates Bayern dankte den Siebenbürger Sachsen „für ihre unglaubliche Integrationsaufgabe“, für die „Brückenfunktion in ein zusammenwachsendes Europa“ respektive zwischen Bayern, Deutschland und Rumänien. Söder wünschte dem Verband weiterhin viel Erfolg und schloss mit dem Bekenntnis: „Ich bin eigentlich ein halber Sachse und deswegen bin ich gern bei euch.“
Blick in die Reihen der Festgäste im voll ...
Blick in die Reihen der Festgäste im voll besetzten Senatssaal im Bayerischen Landtag

Jugend übernimmt Verantwortung

In einer Videobotschaft der Siebenbürgisch-Sächsischen Jugend in Deutschland (SJD) gratulierten die Teilnehmer des zeitgleich stattfindenden 27. Volkstanzwettbewerbs in Wiehl im Chor zum 70-jährigen Verbandsjubiläum. Der gerade erst beim Jungsachsentag als Nachfolger von Dr. Andreas Roth gewählte neue SJD-Bundesjugendleiter Fabian Kloos sprach von einer „Knackpunkt-Generation“. Viele Aktive in der SJD seien nicht mehr in Siebenbürgen geboren, sondern in Deutschland, und hätten daher die Kultur und Gemeinschaft in Deutschland über ihre Eltern miterlebt. „Wir sollen die Fackel weitertragen“, sagte Kloos und fuhr fort: „Wir müssen es schaffen, diese Kultur und die Gemeinschaft in die Zukunft zu bringen und so aus der Pflanze einen Baum zu machen.“

Ehrungen und Schloss-Spende

Es war nun der Bundesvorsitzenden vorbehalten, Ehrungen vorzunehmen. Jeweils das Goldene Ehrenwappen des Verbandes der Siebenbürger Sachsen erhielten in Würdigung ihrer nachhaltigen Unterstützung der Anliegen der Siebenbürger Sachsen Dr. Axel Froese (wiewohl kein Siebenbürger Sachse, so doch laut Daniel „Beutesachse“) insbesondere für sein stetiges Engagement für das Siebenbürgische Kulturzentrum „Schloss Horneck“ e.V., gleichfalls der in Hermannstadt geborene Botschafter Emilian Horatiu Hurezeanu, Ehrenbürger Hermannstadts, für seine Verdienste um die deutsch-rumänischen Beziehungen. Dem erfolgreichen Unternehmer Michael Schmidt, Gründer der gleichnamigen Stiftung, wurde die Carl-Wolff-Medaille verliehen für seinen außerordentlichen Einsatz im Bereich der Pflege siebenbürgisch-sächsischen Kulturguts, vornehmlich durch das großangelegte Kulturprojekt „Haferland Kulturwoche“, daneben aber auch durch seine Förderung des Schulwesens in deutscher Unterrichtssprache in Siebenbürgen.
Gruppenbild mit den Geehrten, von links: Sylvia ...
Gruppenbild mit den Geehrten, von links: Sylvia Stierstorfer MdL, Michael Schmidt, Staatsministerin Kerstin Schreyer, Dr. Axel Froese, Herta Daniel, Botschafter Emil Hurezeanu, Dr. Bernd Fabritius.
Herta Daniel freute sich, als eine ihrer letzten Amtshandlungen als Bundesvorsitzende des Verbandes der Siebenbürger Sachsen einen Spendenscheck in Höhe von 30 000 Euro für das Siebenbürgische Kulturzentrum „Schloss Horneck“ e.V. an dessen Vorsitzenden Dr. Konrad Gündisch überreichen zu dürfen.
Dr. Konrad Gündisch freut sich über den von der ...
Dr. Konrad Gündisch freut sich über den von der Bundesvorsitzenden Herta Daniel überreichten Spendenscheck in Höhe von 30 000 Euro.
Der Betrag stammt aus der 2015 vom Verband gestarteten Spendenaktion für Schloss Horneck. Gündisch dankte allen Spendern herzlich für ihr Engagement für Schloss Horneck.

Podium diskutiert über Identität und Integration

Im Anschluss an eine halbstündige Kaffeepause folgte die Podiumsdiskussion zum Thema „‘Wo sind wir daheim?‘ Zugehörigkeiten und Optionen von ‚Minderheiten‘ in Deutschland und Rumänien“. Unter der Gesprächsleitung von Dr. Florian Kührer-Wielach, Direktor des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität München, debattierten die Theologin und Kulturmanagerin Angelika Beer, Vikarin der Evangelischen Kirche A.B. in Rumänien, die geschäftsführende Direktorin des Deutschen Auswandererhauses in Bremerhaven, Dr. Simone Eick, der Beauftragte der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und Nationale Minderheiten, Dr. Bernd Fabritius, auch Präsident des Bundes der Vertriebenen, der Historiker Dr. Konrad Gündisch, Vorsitzender des Vereins Siebenbürgisches Kulturzentrum „Schloss Horneck“ e.V., sowie die Beauftragte der Bayerischen Staatsregierung für Aussiedler und Vertriebene, Sylvia Stierstorfer MdL. Die Veranstaltung des Verbandes der Siebenbürger Sachsen in Deutschland und des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität München (IKGS) wurde vom Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat gefördert. Das IKGS wird von der Beauftragten des Bundes für Kultur und Medien institutionell gefördert.
Auf dem Podium diskutierten (von links) unter der ...
Auf dem Podium diskutierten (von links) unter der Gesprächsleitung von Dr. Florian Kührer-Wielach (Vierter von links) Angelika Beer, Dr. Simone Eick, Dr. Bernd Fabritius,Dr. Konrad Gündisch und Sylvia Stierstorfer MdL.
Gleich in medias res gehend, fragte der Moderator in der Eröffnungsrunde Angelika Beer forsch danach, wo sie begraben werden wolle. In Neppendorf, wo sie mittlerweile wieder zuhause sei, entgegnete die in Hermannstadt geborene evangelische Theologin.

Bernd Fabritius erläuterte seinen persönlichen Zugang zum Heimat-Begriff. Für ihn entfalte sich Heimat in dem Erleben von Gemeinschaft, dort, wo er sich nicht erklären müsse. Das könne ebenso auch in der siebenbürgisch-sächsischen Gemeinschaft in Kanada sein. Die Migrationsforscherin Simone Eick legte die vielfältigen Gründe von Auswanderung dar. Der in Hermannstadt geborene Historiker Konrad Gündisch skizzierte danach die Siedlungsgeschichte der Siebenbürger Sachsen im Rahmen der deutschen Ostsiedlung und ihre Rolle als ethnische Minderheit. Sylvia Stierstorfer sprach über ihre Aufgabenstellung als Aussiedlerbeauftragte der Bayerischen Staatsregierung.

Eine Kontroverse entspann sich um den Begriff Migration. Fabritius plädierte im Sinne von „Begriffsschärfe“ dafür, den Begriff nicht für die dem deutschen Kulturkreis zugehörigen Opfer von Flucht und Vertreibung auf deutsche Aussiedler und Spätaussiedler zu verwenden. Angesichts des seinerzeit vorherrschenden Vertreibungs- und Assimilierungsdrucks sei es um die Bewahrung der eigenen Identität gegangen. Hierfür eigne sich der Begriff Migration nicht, befand der Aussiedlerbeauftragte. Die Bezeichnung von Vertreibung als Zwangsmigration könne er noch verstehen. Ähnlich wie Fabritius warb Stierstorfer - unter Bezugnahme auf das Vertreibungsschicksal ihres aus dem Sudetenland stammenden Vaters - für eine sensible Begriffsdifferenzierung eingedenk der gleichen kulturellen Identität deutscher Vertriebener.

Die Historikerin Simone Eick hielt dagegen fest an der wissenschaftlichen Begrifflichkeit der Migration. Unter diesen Sammelbegriff ließen sich alle Formen, wie Arbeitsmigration, Flucht, Vertreibung subsumieren. Der Begriff verweise auf universelle Gemeinsamkeiten, fungiere als Modell für Vergleiche und ermögliche das Ziehen von Schlussfolgerungen. Vertreibungserfahrungen seien nicht spezifisch deutsch, Sprachverlust, den Verlust des persönlichen Umfeldes gebe es auch andernorts. Gesprächsleiter Kührer-Wielach konstatierte die nicht leichthin aufzulösende Divergenz zwischen einer wissenschaftlichen und einer gesellschaftlichen Betrachtungsweise.

Eine schmerzliche Erfahrung hinsichtlich Identität und Zugehörigkeit schilderte Angelika Beer; sie sei als Heranwachsende in Deutschland mehrmalig „als Ausländerin beschimpft“ worden und habe sich daher, um ihre Herkunft unkenntlich zu machen, zum hochdeutschen Sprachgebrauch entschlossen.

Im weiteren Diskussionsverlauf sprach der Moderator den Aspekt der Integration an im Unterschied zur Assimilierung. Fabritius stellte kritisch fest: „Es gab 1945 keine Willkommenskultur, wie auch jetzt leider nicht.“ Der Aussiedlerbeauftragte argumentierte gegen Assimilierungsprozesse und führte als positive Besonderheit die zu bewahrende Mehrsprachigkeit ins Feld. Es gelte die neu Zugezogenen in ihrer kulturellen Identität in Deutschland zu integrieren. Eick zog eine Parallele zum Verhalten von Übersee-Auswanderern. Deutsche, die im späten 19. in die USA ausgewandert seien, hätten, insbesondere auf dem Land lebend, über mehrere Generationen ihre deutsche Kultur respektive die deutsche Sprache, Traditionen und Brauchtum gepflegt. So sei das „Schaumburger Platt“ noch Anfang des 20. Jahrhunderts in der Gegend von Chicago gesprochen worden. Demgegenüber habe es in den Städten starken Assimilierungsdruck gegeben.

Konrad Gündisch rückte den Fokus auf die historisch belegte Brückenfunktion von Minderheiten, ihre „Mittlerrolle zwischen Ständen, Religionen, Völkern“ und zitierte dabei aus einem Schreiben Stephan Ludwig Roths an die Frankfurter Nationalversammlung, wonach die Sachsen zugleich „ein ehrlich deutsches Volk und auch ehrliche treue Bürger desjenigen Staates, dem wir angehören“ sein wollten. Zurückleitend in die Gegenwart, unterstrich Fabritius die Bedeutung eines „ideologiefreien, empathischen Miteinanders“.

„Die Frage ‚Wo sind wir zuhause?‘ haben wir nicht beantwortet“, bedauerte Florian Kührer-Wielach, als er die knapp anderthalbstündige Diskussion mit seinem Dank an die Podiumsteilnehmer für die lebhafte Debatte beschloss. Die Festgäste hatten nun noch bei einem Empfang mit Stehimbiss Gelegenheit zu Begegnung und Gesprächsaustausch.

Christian Schoger



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Schlagwörter: Verband, Jubiläum, Festveranstaltung, Landtag, Bayern, München, NRW, Laschet, Söder, Herta Daniel, Bernd Fabritius, Hurezeanu

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