24. November 2009

Ortwin Schuster: Das Geheimnis der Versöhnung heißt Erinnerung

Der Volkstrauertag wurde am 15. November 2009 in Dinkelsbühl mit einem Gottesdienst, Gedenkreden und Kranzniederlegungen feierlich begangen. Die Kreisgruppe Dinkelsbühl-Feuchtwangen des Verbandes der Siebenbürger Sachsen in Deutschland war bei den Veranstaltungen zum Volkstrauertag gut vertreten. Nach dem ökumenischen Gottesdienst in der St. Pauls-Kirche gingen die Teilnehmer zur Gedächtniskapelle, wo die verschiedenen Vereine Kränze niederlegten. Nach der Rede von Oberbürgermeister Dr. Christoph Hammer, umrahmt von der Stadtkapelle Dinkelsbühl und dem Concordia Männerchor, wurden an der Gedenkstätte der Siebenbürger Sachsen jeweils ein Kranz von der Stadt Dinkelsbühl und von der Kreisgruppe Dinkelsbühl-Feuchtwangen zum Gedenken an die Opfer der beiden Weltkriege niedergelegt. Zu diesem Anlass hielt Prof. Ortwin Schuster als Vertreter des Verbandes der Siebenbürger Sachsen in Deutschland eine beeindruckende Rede, die im Folgenden gekürzt wiedergegeben wird.
Der Monat November – zwischen Herbst und Dezember; Nebel, Kälte, Krisenzeit. Dazu kommen Totengedenktage: Allerseelen, Allerheiligen, Totensonntag, und seit der Katastrophe des Ersten Weltkriegs der Volkstrauertag, der seit dem Jahre 1952 offizieller Gedenktag ist. Seit nunmehr 90 Jahren also, meine sehr verehrten Damen und Herren, soll die Mahnung an die Schrecken der Kriege, Gewaltherrschaft und Terrorismus uns die Zerbrechlichkeit des Friedens an diesem zweiten Sonntag im November in Erinnerung rufen. Was bedeutet für uns, für jeden von uns ganz individuell, ganz persönlich Volkstrauertag? Trauert da wirklich ein ganzes Volk? Kann eine Vielzahl von Menschen kollektiv trauern? Ist es nicht vielmehr so, dass Trauer eine höchstpersönliche Empfindung ist, die von eigenen Erlebnissen und Verlusten geprägt wird? Trotzdem ist es ein erhebendes und ergreifendes Gefühl, wenn wir hier zusammengekommen sind, um jeder für sich, aber dennoch zu gleicher Zeit und am gleichen Ort Menschen zu gedenken, die Opfer von Unmenschlichkeit wurden.

(...) Heute erinnern wir an all die Söhne und Töchter, die als Opfer von Krieg und Gewalt vor der Zeit ihr Leben verloren und oft nicht einmal zu Grabe getragen werden konnten. Wir gedenken der toten Soldaten und Zivilisten, die zwei beispiellose Weltkriege forderten; wir gedenken der Opfer von Totalitarismus, nationalsozialistischer und leninistisch/stalinistischer Gewaltherrschaft; wir gedenken der Menschen, die in unseren Tagen durch Krieg und Anschläge ihr Leben verloren. Wir trauern um diese Toten, wir trauern mit den Angehörigen, wir beklagen das, was Menschen angetan wurde und ihnen tagtäglich in Völkerkerkern angetan wird.

Der französische Schriftsteller Antoine de Saint-Exupery, der am 31. Juli 1944 als Jagdflieger umkam stellte fest: „Hunderttausende Tote, das ist Statistik, aber einer, dem man nahe stand, der fortgeht und nicht wiederkommt, das tut weh!“ Krieg und Gewaltherrschaft haben mit „blutiger Tinte“ in alle unsere Familiengeschichten geschrieben. Bei den einen nur wenige Sätze, bei den anderen ganze Kapitel. Und manche Lebensgeschichte wurde durch diese zahllosen unseligen Katastrophen verändert oder jäh beendet. Deshalb will ich hier und heute hinter den statistischen Opfern, das individuelle Schicksal sehen; ich will den Toten ein Gesicht geben. (...) Der Volkstrauertag ist in unserem Gemeinwesen nie als der Tag der Heldenverehrung begriffen und gelebt worden. Vielmehr ist es ein Tag, an dem wir inne halten zur Selbstbesinnung, zum würdigen Andenken an alle, die die Synonyme des Grauens: Hunger, Kälte, Folter, Todesangst, Isolation, Schutz- und Rechtlosigkeit, Demütigung, Verzweifelung und Ohnmacht, schwerste Verletzungen an Köper, Geist und Seele selbst erlitten haben und zu Opfern wurden, zu Opfern von Despoten und Diktatoren und ihrem Verständnis vom Wert eines Menschenlebens.

Auch Jahre und Jahrzehnte nach ihrem Tod, aber auch nur wenige Monate nach dem Sterben unserer Soldaten in Afghanistan gedenken und trauern wir individuell und gemeinsam um die Millionen, die durch Krieg und Gewaltherrschaft, Unterdrückung und blankem Terror, auf der beschwerlichen Flucht und bei der erbarmungslosen Vertreibung von der eigenen Scholle ihr Leben verloren haben.

Ich meine, wir sind auch moralisch verpflichtet, uns ihrer zu erinnern. Mit unserem Erinnern heute messen wir ihrem Leben damit auch über den Tod hinaus Würde und Bedeutung bei. Erinnerung ist Bestandteil der Kultur, ist zivilisatorische conditio sine qua non. Lassen wir uns immer wieder von der jüdischen Weisheit ermahnen: „Das Geheimnis der Versöhnung heißt Erinnerung.“

Erinnerung ist der Urgrund, auf dem aus Schlechtem Gutes werden kann. Die Trauernden, die direkt vom Leid Betroffenen können der Erinnerung nicht ausweichen; Die anderen wollen und sollen es nicht. Denn Erinnerung macht wieder sichtbar, was in der Vergangenheit liegt; Erinnern holt diese Vergangenheit in die Gegenwart herein. Wenn wir der Toten gedenken, dann geben wir nicht nur unserer Trauer Ausdruck, dann müssen wir auch konsequenterweise fragen, wie es dazu kommen konnte oder kommt und was wir tun können, um all das Leid zu vermeiden. Der heutige Tag ist also nicht nur ein Tag des Erinnerns und der Trauer, sondern auch ein Tag, sich Gedanken um die Zukunft, um die Sicherung des Friedens zu machen. Wie fragil, wie zerbrechlich die friedliche Weltordnung ist, zeigt uns ein Blick in die Bilderflut der täglichen Nachrichten.

Weltweit werden gegenwärtig mehr als 40 bewaffnete Konflikte geführt. Mehr als 300 000 Minderjährige nehmen als zum Teil zwangsrekrutierte Kindersoldaten an Kampfhandlungen, an blutigen Massakern, Plünderungen und Vergewaltigungen teil und werden um ihre Kindheit und Unbeschwertheit betrogen. Es vergeht kein Tag, an dem nicht irgendwo auf dieser Welt vertrieben, geschossen, gefoltert und getötet wird. Wir hören und sehen, dass viele Regionen der Erde keinen Frieden und keine Freiheit kennen, dass Waffenstillstände und Demokratisierungsprozesse höchst instabil sind und dass unsere Welt durch den internationalen Terrorismus substantiell gefährdet ist. Frieden – wie wir ihn seit über 60 Jahren in Europa genießen – ist also ein kostbares Gut. Wenn dann zu Frieden noch Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität mit den Schwachen der Gesellschaft hinzukommen, so müssen wir uns als wehrhafte Demokraten für diesen Erhalt einsetzen, immer und überall.

Die Lehre der Geschichte lautet: Das Leben der Lebenden muss geschützt und erhalten werden, Tränen über die Toten reichen nicht aus. Aus der Trauer muss auch Energie zur Lebenssicherung gewonnen werden. Hinsehen und nicht Wegsehen, Handeln und nicht Warten sind Auftragssätze der Geschichte. Durch unsere heutige Gedenkstunde werden wir die Welt im Großen nicht verändern. Aber doch legen wir, durch das Gedenken an die Opfer von damals, alljährlich einen kleinen Baustein für das Fundament des Friedens dazu. (...) In diesem Sinne bitte ich Sie, mit mir der Toten zu gedenken: Wir gedenken heute der Opfer von Krieg und Gewalt! Wir gedenken der Soldaten, die in den beiden Weltkriegen gefallen, die ihren Verwundungen erlegen, in Gefangenschaft gestorben oder seither vermisst sind, der Männer, Frauen, Kinder aller Völker und Staaten, die durch Kriegshandlungen, Vertreibungen und jahrelange Deportationen ihr Leben lassen mussten. Wir gedenken derer, die im Widerstand, die um ihrer Überzeugung oder ihres Glaubens willen Opfer der Gewaltherrschaft wurden. Und derer, die verfolgt und getötet wurden, weil sie einem anderen Volk angehörten, einer anderen Rasse zugerechnet wurden oder deren Leben wegen einer Krankheit oder einer Behinderung als lebensunwert bezeichnet wurde. Wir gedenken der Männer, Frauen und Kinder, die in der Folge des Krieges auf der Flucht oder bei der Vertreibung aus der Heimat und im Zuge der Teilung Deutschlands und Europas ihr Leben verloren. Wir gedenken der Bundeswehrsoldaten, die in Ausübung ihres Dienstes ihr Leben ließen.

Wir trauern um die Opfer der Kriege und Bürgerkriege unserer Tage, um die Opfer von Terrorismus und politischer Verfolgung, um die Opfer von sinnloser Gewalt, die bei uns Schutz suchten. Wir trauern mit den Müttern und mit allen, die Leid tragen, um die Toten. Doch unser Leben gilt der Hoffnung auf Versöhnung unter den Menschen und Völkern und auf Frieden in der Welt!

Ortwin Schuster

Schlagwörter: Gedenken, Dinkelsbühl

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