1. Juni 2014

Evakuierung 1944 – Gedenken 2014: Schwerpunktthema des Heimattags in Dinkelsbühl

Die Evakuierung der Nordsiebenbürger Sachsen im Herbst 1944 war die existenziell wohl tiefste Zäsur in ihrer damals 800-jährigen Geschichte. Eine Zäsur, von der sie sich nicht mehr so erholen konnten, um weiterhin ein bestimmender Faktor der Kulturlandschaft Siebenbürgen zu bleiben. De facto eine echte Katastrophe, die vom nationalsozialistischen Deutschland provoziert wurde: Im Zuge der Gleichschaltung der Deutschen Volksgruppe in Rumänien und Ungarn mit dem Dritten Reich standen die Rumänien- und die Ungarndeutschen (zu denen die Nordsiebenbürger Sachsen ab 1940 gegen ihren Willen gehörten) auf der Seite des NS-Regimes, mit dem Rumänien bis zu seinem Frontwechsel am 23. August 1944 verbündet war. An die Evakuierung der Nordsiebenbürger Sachsen vor 70 Jahren wird heuer in vielfältiger Form erinnert, insbesondere auch beim Heimattag in Dinkelsbühl, wo über das Pfingstwochenende die Dokumentationsausstellung „Aufbruch ins Ungewisse. Evakuierung der Nordsiebenbürger Sachsen 1944“ im Ev. Gemeindehaus St. Paul (Nördlinger Str. 2) gezeigt wird (Eröffnung am Samstag, den 7. Juni, 9.30 Uhr, mit einer Einführung des Bundeskulturreferenten Hans-Werner Schuster). Zum selben Thema referiert Horst Göbbel am Sonntag, den 8. Juni, um 14.00 Uhr im 2. Stock des Evangelischen Gemeindehauses St. Paul (Vortrag mit Bildpräsentation).
Dass Katastrophen auch Geburtshelfer für Neues sein können, hat die Geschichte häufiger gezeigt. In größter Not besinnen sich Menschen, hier die Siebenbürger Sachsen, auf ihre Kardinaltugend: ihren Überlebenswillen, ihren ungebrochenen Wiederaufbauwillen. Die wirklich große Leistung der Siebenbürger Sachsen ist, dass sie sich in all den Jahrhunderten nicht haben unterkriegen lassen, dass sie es immer wieder von Neuem geschafft haben, inzwischen auch außerhalb Siebenbürgens: in Österreich, in Deutschland, in den USA, in Kanada. Trotz Evakuierung 1944, trotz Deportation 1945.

Auf die Frage, ob die Flucht, die Evakuierung der Nordsiebenbürger Sachsen im Herbst 1944 auch der Ausgangspunkt dafür war, dass wir heute gut integrierte Siebenbürger Sachsen in Österreich, in Deutschland, in Amerika sind, erwiderte Dr. Fritz Frank, Ehrenobmann des Verbandes der Siebenbürger Sachsen in Österreich, kürzlich: „Ja, man kann wohl sagen, der Krieg hat eine große Veränderung der Verhältnisse mit sich gebracht, aber es hat sich sehr deutlich gezeigt, dass dauernde Werte und Traditionsbewusstsein Faktoren sind, die einem das Leben auch in neuen und geänderten Verhältnissen ermöglichen, und das wäre die große Lehre aus dem geschichtlichen Geschehen (…). Welche dauernden Werte ich meine? Vor allen Dingen ist es einmal die Glaubenstreue, die Glaubensfestigkeit, dann der Familiensinn und dann das Bewusstsein, dass Fleiß mehr wert ist als Müßiggang (…).“

Nach dem Frontwechsel Rumäniens am 23. August 1944 bestand auch für Nordsiebenbürgen die Gefahr, von der Roten Armee überrollt zu werden. General Artur Phleps ordnete in Absprache mit den Verantwortlichen der nordsiebenbürgischen Volksgruppe (Robert Gassner, Dr. Carl Molitoris u.a.) die längst insgeheim vorbereitete Evakuierung von rund 35000 Sachsen (etwa 95% der deutschen Bevölkerung) mit Trecks, Lastkraftwägen und Eisenbahnzügen aus 34 Orten des Nösnerlandes (Bistritzer Gegend), elf des Reener Ländchens und aus sieben Orten im Kokelgebiet (Draas, Felldorf, Katzendorf, Maniersch, Rode, Zendersch, Zuckmantel) an. Nach mehrwöchiger beschwerlicher Fahrt wurden die Flüchtlinge Ende Oktober/Anfang November im Reichsgebiet (vorwiegend in Österreich und im Sudetenland) untergebracht.

Als sich die sowjetische Front im Frühjahr 1945 näherte, erfolgte zum Teil eine zweite Flucht, die auch nach Kriegsende in westliche Richtung (Salzburg, Niederbayern, Mittelfranken) fortgesetzt wurde. Nach hartem Beginn auch im Westen (besonders in Österreich, wo unsere Landsleute eine kritische Phase der Ablehnung und der rechtlichen Unsicherheit erfuhren) fanden die Evakuierten im Laufe der Jahrzehnte ihren Platz als geachtete Bürger ihrer neuen Heimat.
Ein sieben Meter breites Denkmal zu Ehren der ...
Ein sieben Meter breites Denkmal zu Ehren der evakuierten Nordsiebenbürger Sachsen wird am 13. Sepember 2014 in der Klostergasse in Bistritz eröffnet. Das Bild zeigt ein Detail des Entwurfs von Mircea Mocanu. Foto: Horst Göbbel
Die bei Kriegsende in den sowjetischen Besatzungszonen Deutschlands und Österreichs sowie in der Tschechoslowakei befindlichen Sachsen wurden im Juni/Juli 1945 auf Befehl der sowjetischen Besatzung nach Siebenbürgen rückgeführt (ca. 6 000). Hier erlebten sie Enteignung, Zwangsarbeit, Rechtlosigkeit, Diskriminierung. Verfolgungen und Demütigungen kamen hinzu. Die einzige Institution, die den Rückgeführten beistand, ihnen neuen Lebensmut vermittelte, war die Evangelische Kirche. Es dauerte Jahre, bis sich die Heimgekehrten von dem schweren Schicksalsschlag etwas erholten. Mittlerweile haben fast alle Sachsen Nordsiebenbürgens dieses einst deutsche Gebiet verlassen und leben vorwiegend in Deutschland, zum Teil in Österreich, in Kanada und den USA.

Wie gehen wir 2014 mit der Evakuierung und ihren Folgen um?

70 Jahre danach halten wir inne, halten wir Rückschau. In vielfältiger Art, an verschiedenen Orten, mit verschiedenen Zeichen. Zugleich richtet sich unser Blick auch nach vorn. Wir knüpfen dabei an unser Selbstverständnis an und weisen damit in die Zukunft. Die Evakuierung vor 70 Jahren ist ein gewichtiger Anlass, am diesjährigen Heimattag in Dinkelsbühl eine umfassende, vielschichtige Ausstellung von Hans-Werner Schuster zum Thema zu präsentieren. Ergänzend hinzu kommt ein Vortrag von Horst Göbbel. Auf Initiative der HOG Bistritz-Nösen in enger Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung von Bistritz (der Stadtrat hat bei einer Stimme Enthaltung dem diesbezüglichen Antrag von Bürgermeister Ovidiu Crețu zugestimmt) wird erstmals in Siebenbürgen ein Denkmal zur Erinnerung an die Evakuierung der Nordsiebenbürger Sachsen vor 70 Jahren, gestaltet vom Bistritzer Bildhauer Mircea Mocanu, errichtet und am 13. September 2014 eingeweiht (die Finanzierung ist noch nicht gesichert, die HOG Bistritz-Nösen bitten um Spenden). Zum gleichen Termin in Bistritz und am 27. September in Wels wird neben zwei Gedenkveranstaltungen mit Gedenkgottesdiensten mit Bischof Reinhart Guib in Bistritz und in Seewalchen-Rosenau am Attersee (am 28. September) eine Städtepartnerschaft zwischen Bistritz und Wels feierlich besiegelt. Bistritz steht für den Ausgangspunkt der Evakuierung, Wels, die Patenstadt der Heimatvertriebenen, für uns Siebenbürger Sachsen das österreichische Dinkelsbühl, steht symbolisch für den Ort, wo die Evakuierten angekommen sind. Zugleich nimmt die Evangelische Kirche A.B. in Rumänien die Situation einer verstreuten Gemeinschaft nach 1944 als Tatsache und Herausforderung an und begibt sich im Gedenkjahr der Evakuierung ihrer nordsiebenbürgischen Gemeindeglieder mit der Veranstaltungsreihe „Glauben und Gedenken“ wortwörtlich auf den Weg. Der Treck von 1944 wird als geistliche Pilgerreise mit Gottesdiensten in Siebenbürgen, Ungarn, Österreich, Deutschland nachgezeichnet. „Die Veranstaltungsreihe knüpft theologisch gesehen an das ‚wandernde Gottesvolk‘ an. Kirche begleitet Menschen überall auf ihrem Wege, sei der Weg lebensgeschichtlich oder geographisch. Diese Reise soll Zeichen für Versöhnung sowie für Frieden in Gerechtigkeit setzen“, betont Bischof Reinhart Guib. Schließlich präsentiert die HOG Bistritz-Nösen schon zum Heimattag eine zweisprachige, reich bebilderte Sonderausgabe von WIR NÖSNER 2014 mit dem Titel: „1944-2014 – Die Evakuierung der Nordsiebenbürger Sachsen 1944 und ihre Folgen“ (544 Seiten, ca. 500 Abbildungen). Vertrieb über Annemarie Wagner, Kepler Straße 24, 90766 Fürth, Telefon (09 11) 73 92 66, bzw. E-Mail: annywagner[ät]t-online.de.

Horst Göbbel

Schlagwörter: Heimattag 2014, Nordsiebenbürgen, Evakuierung, Ausstellung, Vortrag, Geschichte

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