17. Oktober 2015

Erinnerungen der Katharina Drotleff aus Großscheuern an die Russlanddeportation

Katharina Drotleff ist heute 88 Jahre alt und lebt in einer Seniorenresidenz im Fichtelgebirge. Ihr Enkelsohn Ralph Fuss hat die „Erinnerungen von Katharina Drotleff“ in einem 65 Seiten langen Heft zusammengefasst. Die Dokumentation kann per E-Mail bei ralph.fuss[ät]gmx.de angefordert werden. Im Folgenden erinnert sich die Großscheuernerin an die Verschleppung vor 70 Jahren.
Die Nachricht vom 13. Januar 1945 war ein Schock: Packen für Russland! Alle betroffenen Frauen und Männer aus Großscheuern mussten die Sammelstelle im Schulgebäude aufsuchen. Für meine Schwester und mich packten wir den alten Holzkoffer meines Vaters, der seit dem Ersten Weltkrieg am Dachboden gelegen hatte. Der Abschied fiel sehr schwer. Ich nahm Mutter und Großmutter ein vorerst letztes Mal in die Arme. Was für ein Albtraum. Wir alle konnten die Tränen nicht mehr zurückhalten.

Im Moment des Abschieds spielten sich Dramen ab. Der Schmerz der bereits durch den Krieg zerrütteten Familien war unfassbar groß. Per Lastwagen brachte man uns zunächst zum Bahnhof nach Neppendorf. Dort standen unzählige Waggons für die Weiterfahrt bereit. Einige Männer hatten sogar ihre prachtvollen Kirchenmäntel für den russischen Winter dabei. Was für ein sonderbarer Anblick inmitten dieser Tragödie. Drei lange Wochen wurden wir nun wie Vieh transportiert. Nur selten bekamen wir die Möglichkeit, uns mit Wasser zu versorgen. In den Waggons entledigte man sich der Notdurft durch ein Loch im Boden, während andere den Toilettengang mit Decken abhingen. Menschenunwürdige Szenen spielten sich ab. Während der Fahrt durch die Ukraine bemerkten wir, dass unser mitgenommenes Brot inzwischen verschimmelt war. In der Hoffnung, das Ziel bald zu erreichen, warfen wir verdorbenes Brot durch die Luken nach außen. Was wir dann sahen, konnten wir kaum glauben. Einheimische sammelten diesen Abfall auf. Langsam ahnten wir, welch’ Schrecken uns noch bevorstand.

Nach Ankunft in Dnjepropetrowsk mussten wir bei klirrender Kälte einen langen Fußmarsch zurücklegen. Als wir eine große Brücke am Dnjepr überquerten, wehte uns ein eisiger Wind entgegen. Ich dachte, vielleicht wäre ein Sprung in den Fluss das kleinere Übel. Stunden später erreichten wir das Ziel. Lager 1416 glich einem Straflager. Fünf schier endlose Baracken sollten uns Deutschen aus Rumänien als Herberge dienen. Getrennt nach Geschlechtern zogen wir dort ein. Dreistöckige Pritschen aus feuchtem Holz, die gerade erst gezimmert schienen, säumten beide Seiten im Innenraum. Bettzeug gab es nicht, mitgebrachte Decken und Kleidung dienten als Ersatz – erst viel später bekamen wir Strohsäcke als Unterlage.
Katharina Drotleff, geborene Roth (links), und ...
Katharina Drotleff, geborene Roth (links), und Maria Depner (rechts), beide aus Großscheuern, vor dem Badehaus im Lager 1416 in Dnjepropetrowsk. Die Aufnahme entstand 1948, als es den Deportierten schon besser ging.
Im tiefsten russischen Winter waren wir nun gefordert, unseren Arbeitsdienst zu verrichten. Anfangs mussten wir im Krieg beschädigte Gebäude abreißen. Männer stürzten noch stehende Mauern ein, Frauen befreiten Ziegelsteine vom Putz. Eine unvorstellbar harte Arbeit bei arktischen Temperaturen. Viele Landsleute hatten diese Bedingungen unterschätzt und nur wenig geeignete Kleidung dabei. Einmal sollten wir aus dem Dnjepr herausgeschnittene Eisblöcke in einer Lagerhalle stapeln. Nach einer Stunde mussten wir völlig durchgefroren aufgeben und verweigerten die weitere Arbeit. Zur Strafe landeten wir für drei Tage in einer dunklen Zelle. Den ersten Tag gab es eine Scheibe Brot, den zweiten Tag einen Teller Suppe und am dritten Tag wieder eine Scheibe Brot. Danach wurden wir völlig ausgehungert entlassen.

Zum Schutz vor der Kälte bekamen wir später „Watta-Kleidung“. Dennoch war die Arbeit bei zweistelligen Minustemperaturen eine Qual, z.B. wenn es hieß: „Schienen putzen!“ Bei dieser Arbeit mussten wir die Gleise im Industriegebiet von Dnjepropetrowsk von Kohleresten befreien, die aus den kohlebefeuerten Lokomotiven geworfen wurden. Im Winter waren wir schon vor Arbeitsbeginn durch den einstündigen Fußmarsch dorthin steif gefroren. Wenn wir die Kälte nicht mehr aushielten, gingen wir manchmal an die Koksöfen der russischen Arbeiter. Sie waren meist freundlich und machten an der Feuerstelle einen Platz für uns frei. „Wie spät ist es?“, fragten wir dann immer. Wir wollten wissen, wie viele Stunden Arbeit noch vor uns liegen. Neben der Kälte war der Hunger unser täglicher Begleiter. In der Früh und am Abend gab es immer nur Kraut- oder Gurkensuppe. Eine heiße Brühe, die nicht wirklich die Bezeichnung „Suppe“ verdiente. Wenn wir Glück hatten, bekamen wir noch zwei Esslöffel Getreidebrei. Wir leckten unsere Teller säuberlich ab, um nichts zu verschwenden. Der Hunger war danach immer noch so groß, dass einige im Küchenabfall nach Essensresten suchten oder darauf hofften, von russischen Arbeitern etwas abzubekommen. Einige Russen hatten Mitleid und gaben uns Essen ab, obwohl es vielen Einheimischen nicht viel besser ging.

Eines Tages teilte man meine Freundin Anni und mich zum Brotholen ein. Als wir gerade die Gleise überqueren wollten, kam uns ein lauter Kesselwagen entgegen. Voller Ehrfurcht hielten wir Abstand. In diesem Moment passierte ein Unglück. Auf dem nebenliegenden Gleis hatten wir eine zweite Lokomotive wegen dem Lärm nicht wahrgenommen. Das Fahrwerk der Lok riss uns beide zu Boden. Meine Knie wurden dabei bis auf den Knochen aufgeschürft. Anni wurde ebenfalls verletzt und erlitt starke Prellungen. Trotz der Schwere der Verletzungen muss ich meinem Schutzengel danken, dass uns kein größeres Unheil widerfahren ist. Die schwarzen Kohlespuren dieses Unfalls sind bis heute auf meinen Knien zu sehen.

Zur Erntezeit war ich froh, am Kolchos arbeiten zu dürfen. Diese Tätigkeit war zwar körperlich anstrengend, hatte aber wegen der besseren Verpflegung entscheidende Vorteile. Auf den großflächigen Feldern wurden Mais, Zuckerrüben und Kartoffeln angebaut. In den kleinen Gärten gab es allerlei Gemüsesorten und Melonen. Wir hatten Glück, dass unser Aufseher eine gewisse „Selbstbedienung“ tolerierte. Ausgerechnet während dieser Zeit am Kolchos wurde es für mich bedrohlich. Eine Typhus-Infektion war die Ursache. Abgemagert auf 35 kg, hatten mich viele schon abgeschrieben. Durch das sehr hohe Fieber fing ich an zu halluzinieren. Ich hörte die Stimme meiner Mutter, die mir Essen bringen wollte. Dieser Zustand fesselte mich für lange Zeit ans Bett, schutzlos ausgeliefert den Kopfläusen. Gezeichnet von der Krankheit, muss der liebe Gott Erbarmen gehabt haben. Er hat mich ohne Medikamente wieder gesund werden lassen. In unserem Lager wurden die Menschen immer schwächer, und die Krankheiten häuften sich. Wann allerdings Tote weggeschafft worden sind, kann ich nicht sagen. Man bekam dann immer nur mit, dass Personen fehlten. Besser man fragte nicht, wo diese geblieben waren.

Das letzte Jahr meiner Deportation im Lager „Sozhorod“ in Krivoy Rog wurde erträglicher. Dort lernte ich auch meinen späteren Ehemann Johann Drotleff aus Kirchberg kennen. Als wir eines Tages bei den Schamotteziegeln arbeiteten, berichtete ein russischer Arbeiter: „Ihr dürft nach Hause!“ Das konnten wir erst nicht glauben, zu oft hatte man uns schon vertröstet. Einen Tag später kam die Gewissheit. Unglaubliche Glücksgefühle kamen auf. In der darauffolgenden Nacht konnten wir vor Aufregung kaum schlafen und dachten nur noch an die Heimat. Im Oktober 1949 kam für alle im Lager „Sozhorod“ die Erlösung. Mit einem kleinen Handgepäck hat man uns zurück nach Rumänien geschickt. Die beschwerliche Heimfahrt war voller Euphorie. Im Dezember 1949 durfte auch mein zukünftiger Mann nach Siebenbürgen zurückkehren.

Katharina Drotleff

Schlagwörter: Deportation, Zeitzeugenbericht, Geschichte

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