22. November 2024

Leserecho: Der Ohrring: Flug in ein neues Leben

Es war eine Zeit, die weit vor dem 24. Oktober 1981 begann, einem Tag, der in unseren Herzen als Familienfeiertag verewigt ist. Das Land, das wir bis zu diesem Tag als unsere Heimat bezeichneten, war für uns nicht mehr der Ort, an dem wir unser Leben verbringen wollten: Rumänien. Die politischen Unruhen und eine Herzerkrankung waren nur zwei der vielen Gründe, die uns dazu bewogen, unsere bisherige Heimat zu verlassen. Wir ließen nicht nur unseren Besitz zurück, sondern auch unsere Familienmitglieder.
Ein Verlust, der weitaus schmerzhafter war als all das Materielle. Als wir die Ausreisegenehmigung erhielten, ging ein Rauschen durch unser Heimatdorf Großscheuern. In jenen Tagen war eine solche Genehmigung etwas Außergewöhnliches, ein Ereignis, das sich schnell in der Nachbarschaft verbreitete. Jeder – oder zumindest fast jeder – war stolz darauf, dem Regime die Stirn zu bieten und den ständigen Repressalien zu entkommen. Die Drohungen, die Verhaftungen, die ständige Angst, dass die berüchtigte Staatssicherheit Securitate zuschlägt und man für immer, oder zumindest für sehr lange Zeit, in einem dunklen Loch verschwinden könnte, war allgegenwärtig. Dies war der Beginn unserer Reise in ein neues Leben...

Nachdem alle Dokumente gesammelt, die Amtsträger großzügig entlohnt und alles für den Start vorbereitet war, standen wir am Flughafen, bereit, unsere Tickets in die Freiheit zu erwerben. Samstag war der bevorzugte Tag der Abreise. Einige Familienmitglieder und Freunde konnten uns auf dem Weg nach Bukarest begleiten und sich verabschieden. Auch die Familie, die bereits in Deutschland lebte und arbeitete, wollte uns auf dem Flughafen in Frankfurt am Main willkommen heißen. Angekommen am Schalter am Flughafen in Bukarest trafen wir auf eine ungewöhnlich freundliche Boden-Stewardess. Sie bot uns vier Tickets für den nächstmöglichen Samstagsflug an, wenn wir uns mit einem Mann unterhielten, der einsam auf einer Bank in der Nähe des Schalters saß. Wir gingen zu ihm und hörten uns seine traurige Geschichte an: Seine Schwiegertochter Annemarie Kovac hatte vor etwa zwei Jahren die Erlaubnis erhalten, ihre Verwandten in Deutschland für vier Wochen zu besuchen, und war nicht zurückgekehrt. Sie hatte zwei Kinder zurückgelassen, die damals etwa ein und neun Jahre alt waren. Trotz unermüdlicher Anträge bei allen möglichen Behörden, die Kinder mit ihrer Mutter in Deutschland wieder zu vereinen, hatte der rumänische Staat deren Ausreise abgelehnt. Der Vater der Kinder hat sich während der Abwesenheit der Mutter das Leben genommen und so wurde die Ausreise der Kinder schließlich genehmigt.

Die Dokumente wurden erstellt, aber da die Kinder minderjährig waren, durften sie ihren Flug nicht allein antreten. Die Anfrage, dass die Großeltern sie beim Flug begleiten dürfen, wurde abgelehnt. Die Mutter konnte sie von dort auch nicht abholen, denn was passiert wäre, wenn sie wieder einen Fuß auf rumänischen Boden gesetzt hätte, kann sich jeder selbst ausmalen. Die Fluggesellschaft weigerte sich, die Verantwortung für die minderjährigen Kinder während der Flugreise zu übernehmen. Also saß der Großvater geduldig am Schalter, wartete darauf, dass jemand die Kinder während des Fluges, der Zollkontrolle, des Ein- und Aussteigens usw. in Obhut nimmt und sie am Flughafen in Frankfurt am Main schließlich der Mutter übergibt. Das Flehen in den Augen des Mannes und die Tatsache, dass eine solche Situation jedem Siebenbürger Deutschen in Rumänien passieren hätte konnte, bewegten meine Eltern schließlich dazu, zuzustimmen und sich der Kinder anzunehmen. Zurück am Schalter erhielten wir unsere Flugtickets und vereinbarten mit dem älteren Herrn, uns am 24. Oktober 1981 wieder am Flughafen in Bukarest zu treffen.

Diesen Ohrring habe ich damals dem Mädchen ...
Diesen Ohrring habe ich damals dem Mädchen geschenkt.
Mit Blasmusik und einer großen Feier verabschiedeten wir uns in der Nacht des 22. Oktober von unserem bekannten Leben und blickten in eine hoffnungsvolle, aber unbekannte Zukunft. Freunde und Familie wünschten uns viel Glück. Es wurden Tränen vergossen, aber nicht von uns, damals nicht und bis heute nicht. Zu der Zeit wussten wir noch nicht, dass wir viele von ihnen Jahre und Jahrzehnte nicht wiedersehen würden. Manche sogar nie wieder. Mit dem Zug ging es nach Bukarest. Dort verbrachten wir eine Nacht in einem Hotel. Die Angst vor dem Unbekannten war groß, aber die Vorfreude auf den Ausreise-Samstag war noch größer. Da saßen wir nun endlich in Bukarest am Flughafen, dem Tor zur Freiheit, dem Startpunkt für ein neues, aufregendes und vielversprechendes Leben.

Ein 34-jähriger Mann, eine 29-jährige Frau und vier Kinder. Ein kleiner Junge von etwa drei Jahren, ein Mädchen von etwa neun Jahren, mein fünfjähriger Bruder und ich, elf Jahre alt, standen da, in meinem Fall unsicher und verwirrt, ohne zu verstehen, warum alle so angespannt waren. Erst Jahre später konnte ich die Tragweite dieser Situation begreifen. Meine Eltern hatten die Verantwortung für zwei kleine fremde Kinder übernommen. Sie wussten nicht, was sie in der neuen Welt erwartete. Mein Vater drückte bei der Verabschiedung im Terminal sein letztes Geld seinem jüngeren Bruder in die Hand, denn niemand durfte ohne gültige Flugtickets und Reisepass das Areal der Sicherheitskontrolle betreten. Außerdem war es untersagt, rumänisches Geld nach Deutschland mitzunehmen. Unser Flug hatte fast zwei Stunden Verspätung. Keine Informationen diesbezüglich, keine Erklärung, kein Geld, etwas zu kaufen, keine Möglichkeit, jemanden zu fragen. Wir waren allein in diesem riesigen Raum, dem Wartebereich vor dem Gate. Als die Verzweiflung schon greifbar war, wurden wir endlich aufgerufen und zum Flugzeug gebracht. Schon waren wir angeschnallt und das Flugzeug fuhr die Startbahn entlang und wir hoben ab.

Der erste Flug ist immer etwas Besonderes. Obwohl ich erst elf Jahre alt war, kann ich mich an viele Details erinnern. Meine Eltern saßen in der gleichen Sitzreihe wie ich, jedoch auf der anderen Seite des Gangs. Das kleine fremde Mädchen saß direkt neben mir am Fensterplatz. Sie weinte immer noch, weil die Zöllner sie nicht mit den Ohrringen, die ihre Mutter ihr damals beim Abschied geschenkt hatte, durch die Sicherheitskontrollen lassen wollten. Meine Mama nahm sie ihr ab und ließ sie über eine Menschenkette nach hinten zu dem Großvater durchgeben, der immer noch wartete, um einen letzten Blick auf seine Enkel zu erhaschen. Im Flieger wollte ich sie trösten und erzählte ihr, dass sie endlich ihre Mama wiedersehen darf. Es half nichts, sie weinte unaufhörlich weiter. Ich wagte einen letzten Versuch und nahm einen meiner schönen Ohrringe, Modeschmuck mit glitzernden Steinen, ohne materiellen Wert, aber extra für mich und diese große Reise gekauft, und schenkte ihr einen davon. Ich half ihr, das Schmuckstück anzulegen und machte damit gleich zwei Kinder glücklich: zum einen mich selbst, weil ich es geschafft hatte, dass sie aufhörte zu weinen, und zum anderen das kleine Mädchen – das für mich damals sehr klein wirkte, obwohl nur ein oder zwei Jahre Altersunterschied zwischen uns lagen, weil sie wieder lächelte und mir versicherte, dass sie gut darauf aufpassen würde.

Der Flug muss für meine Eltern ein Horrortrip gewesen sein. Das kleine Mädchen war nun sehr still und in sich gekehrt. Ich hingegen füllte mehrere Tüten mit Erbrochenem. Mein Vater war mit sich und dem kleinen Jungen beschäftigt. Dieser mochte es nämlich gar nicht, wenn er angeschnallt wurde oder sitzen musste. Wenn Papa ihn angeschnallt hatte, zwängte er sich durch den Gurt unten durch und lief schon wieder durch den Flieger. Dann wurde mein Bruder von einem Steward in einem Luftloch versehentlich mit heißem Tee übergossen. Sein schöner Anzug – der natürlich extra für die Reise genäht wurde – war komplett nass. Und ja, ich übergab mich immer noch! Unser Flieger landete endlich in Frankfurt am Main.

Wir kamen in einem großen Terminal an. Der Junge hielt die Hand meines Vaters ganz fest. Ich hatte meinen Bruder an der Hand. Meine Mutter hatte meinen Bruder und das kleine Mädchen an jeweils einer Hand und wir liefen zögerlich Richtung Ausgang. Noch heute finde ich, dass der Frankfurter Flughafen ein riesiges Areal ist, aber damals als kleines Kind war es für mich überwältigend. Meine Mutter fragte meinen Vater, wie sie die Mutter der beiden Kinder in diesem Gewirr finden sollen und was passiert, wenn sie nicht wie vereinbart da sein sollte? Mein Vater war pragmatisch und antwortete: „Dann adoptieren wir sie und haben eben vier Kinder." Mit einem Schulterzucken war für ihn dieses Thema gut gelöst und ich weiß heute, dass meine Mutter in diesem Moment Panik bekam, denn sie dachte darüber nach, wie sie statt zwei Kinder womöglich vier Kinder „satt kriegen“ soll, denn ihr war sehr wohl bewusst, dass wir so gut wie gar nichts mehr besaßen. Wir hatten zwar dafür etwas viel Besseres und Unbezahlbares: unsere Freiheit … aber auch das wurde mir erst viel, viel später bewusst! Vier Koffer, die unsere notwendigste Kleidung enthielten. Außerdem vier sogenannte Kisten, die jeder kennt, der dieses Prozedere der Ausreise damals durchlaufen musste, die ein paar Erinnerungsstücke und etwas vom eigenen Hausrat beinhalteten. Jene Kisten, die erst Wochen nach der Einreise in Deutschland ankamen. Also mussten wir bis dahin mit unseren vier Koffern auskommen, in denen neben Kleidungsstücken vier Teller, vier Tassen, vier Messer, vier Gabeln, vier Löffel und ein Topf samt großem Löffel enthalten waren. Mehr war nicht erlaubt, denn laut rumänischen Staatsbeamten waren wir vier Personen, also brauchten wir nur vier Teile. Ich bewundere meine Eltern heute noch dafür, dass sie das alles auf sich genommen haben, um mir und meinem Bruder ein besseres, freieres Leben zu ermöglichen. Danke nochmal dafür!

Plötzlich riss sich das Mädchen von der Hand meiner Mutter los und schrie im Laufen, sie übertönte tatsächlich die Geräusche der Menschenmassen im Flughafenterminal: „Mama, Mama, Mama!“ Eine Frau drehte sich um. Ich kann mich noch sehr gut an ihre lockigen, dunklen Haare und die Jacke aus Pelz erinnern. Sie rannte ebenfalls los und nahm das Mädchen, das nur für ein paar kurze Stunden meine Freundin gewesen war, in den Arm. Sie umarmte sie so fest, dass kein Haar mehr zwischen die beiden gepasst hätte. Beide klammerten sich aneinander und dann fragte das Mädchen: „Mama, kaufst du mir jetzt endlich die Puppe, die du mir versprochen hast?“ Die Antwort konnte ich nicht hören. Die Frau hatte sich schon umgedreht und eilte davon. Meine Mutter spurtete hinterher und rief: „Halt, ihr habt den Jungen vergessen.“ Der Junge, der noch immer die Hand meines Vaters krampfhaft festhielt. Der Junge, den seine Mutter als kleines Baby verlassen und der keine Erinnerung an seine Mutter hatte. Die Frau in der Pelzjacke wurde von einem Mann und einer anderen Frau nach Frankfurt begleitet. Diese beiden Begleitpersonen nahmen den Jungen an die Hand, sagten kurz „danke“, bevor sie sich in der Menge verloren. Wir wurden kurz darauf herzlichst umarmt und begrüßt, denn jetzt hatten uns unsere Verwandten entdeckt.

Eine Vielzahl an Menschen war gekommen, um uns in Deutschland willkommen zu heißen und uns zur erfolgreichen Ausreise aus Rumänien zu beglückwünschen. Wir waren tatsächlich angekommen. Im Gummibärchenland, wie mein Bruder Deutschland damals nannte. Später saßen wir in einem Bus und fuhren nach Nürnberg, um uns in Deutschland erstmals registrieren zu lassen. Aber auch das ist eine andere Geschichte.

Was diese Geschichte angeht, ist sie leider zu Ende, ohne dass wir wissen, was aus den beiden Kindern geworden ist. Es hat eine Weile gedauert, bis wir über unsere Ausreise und die Ereignisse davor oder danach sprechen konnten. Andere, im Alltag unaufschiebbare Antworten mussten damals gefunden werden. Aber es ist bis heute kein 24. Oktober vergangen, an dem wir unsere Ankunft in Deutschland nicht gefeiert haben. Meine Dankbarkeit gilt unseren Eltern, die mir und meinem Bruder durch ihren Mut uns und auch sich selbst, ein selbstbestimmtes und glückliches Leben in einer neuen, großartigen Heimat ermöglicht haben. Der Abschluss oder auch das Happy End, das sich meine Familie wünscht, ist die Antwort auf die oben bereits erwähnte Frage: Was ist aus diesen Kindern geworden? Wie geht es ihnen? Wie sieht ihr Leben aus? Fühlen sie sich in der neuen Heimat wohl? Erinnern sie sich noch an uns? Hat das Mädchen von damals, so wie auch ich, den Ohrring als Erinnerung an diesen besonderen Tag behalten?

Leider hat der harte Alltag zu Beginn unseres neuen Lebens die Erinnerungen an Details zu den beiden fremden Kindern weggespült. Viele neue Eindrücke mussten verarbeitet werden. Neue Schule, neue Arbeit, neue Sprache, denn wer hat in Siebenbürgen schon Bayerisch sprechen gelernt? Neue Anforderungen… Somit wurden die Namen der Kinder und auch der ihrer Familien im Laufe der Zeit vergessen. Der Name der Tochter, so meinen wir, ist der gleiche wie der ihrer Mutter: wahrscheinlich Annemarie. Die Schreibweise des Vornamens oder auch der Nachname ist ungewiss. Meine Eltern meinen, der Nachname war Kovac, aber auch das kann falsch sein. Selbst der Wohnort der Großeltern in Siebenbürgen oder der damalige Wohnort der Mutter in Deutschland ist uns nicht bekannt. Vielleicht kann sich jemand an die Geschichte oder diese Familie erinnern. Nicht viele Kinder in etwa diesem Alter sind am 24. Oktober 1981 in Frankfurt gelandet und waren mit einer fremden Familie unterwegs. Nicht viele Väter haben sich kurz davor das Leben genommen. Nicht viele Mütter haben ihre Kinder in Rumänien zurückgelassen und gehofft, sie schnellstmöglich in Deutschland wiederzusehen. Nicht viele Menschen haben eine Mutter begleitet, die ihre Kinder nach Jahren in Frankfurt wieder in die Arme schließen durfte. Nun meine Bitte an Sie: Wer immer etwas weiß, melden Sie sich bei der Redaktion, dort sind meine Kontaktdaten hinterlegt. Wer kann sich an die Geschichte dieser Kinder deren Mutter, Vater oder Großvater erinnern? Die Siebenbürger haben auch hier in Deutschland ein großes Netzwerk und es sollte doch möglich sein, die Identität und den jetzigen Aufenthaltsort der Familie zu finden. Ein lang gehegter Wunsch unserer Familie würde damit in Erfüllung gehen und eine Geschichte könnte endlich ihr lang ersehntes Happy End bekommen.

Helga Krag

Schlagwörter: Leserecho, Aussiedlung, Familie, Zeitzeuge

Bewerten:

13 Bewertungen: +

Noch keine Kommmentare zum Artikel.

Zum Kommentieren loggen Sie sich bitte in dem LogIn-Feld oben ein oder registrieren Sie sich. Die Kommentarfunktion ist nur für registrierte Premiumbenutzer (Verbandsmitglieder) freigeschaltet.