2. August 2009

Elftes Reichesdorfer Treffen – ein innerer Monolog

Keinen Bericht, sondern einen inneren Monolog hat Viviane Meyndt über das Treffen der Heimatortsgemeinschaft Reichesdorf geschrieben.
Vor dem Treffen der Heimatortgemeinschaft Reichesdorf in Friedrichroda. Wer trifft sich dort? Menschen, deren Heimat Reichesdorf ist. Menschen, deren Wurzeln in diesem kleinen Dorf, umgeben von Hügeln, mitten in Siebenbürgen liegen? Gehöre ich dazu? Ich bin in Deutschland geboren. Aber der deutsche Sänger Herbert Grönemeyer singt doch: Heimat ist kein Ort – Heimat ist ein Gefühl. Was sagt mein Gefühl? Mein Gefühl gibt schon seit Jahren keine klaren Regeln vor. Wo gehöre ich hin? Wo komme ich her? Meine „deutschen“ Freunde sind anders. Sie sind anders erzogen – sie haben andere Werte, andere Vorstellungen. Sie leben anders, sie denken anders. Fakt ist: Sie sind anders. Ich kann und will nicht sagen, ob das, was „sie“ sind, besser oder schlechter ist. Bin ich wie sie?

Es gab eine Zeit, in der ich dazugehören wollte. Ich wollte sein wie „sie“, eine Deutsche sein. In dieser Zeit wollte ich keine „Siebenbürgerin“ sein. Denn auch die waren irgendwie anders als ich. Sie gehen in die Tanzgruppe und zu den siebenbürgischen Veranstaltungen. Sie leben und bleiben in dem Ort, wo sie aufgewachsen sind. Siebenbürger heiraten Siebenbürger, sie haben riesige Familien usw. Ich war nie so. Ich wollte hinaus. Ich hatte das Gefühl, in den vorgefertigten Strukturen zu ersticken. Ich bin in die Tanzgruppe gegangen, weil ich es musste, nicht, weil ich es zu schätzen wusste. Aber die Zeiten haben sich geändert. Mittlerweile weiß ich und habe es verstanden, warum wir anders sind. Ich weiß die Gemeinschaft, den Zusammenhalt und das Zusammenleben zu schätzen. Heute ärgert es mich, dass ich die Frage „Kuste sachsesch?“ immer mit einem verlegenen Kopfschütteln beantworten muss. Es tut mir leid, dass ich die Geburtsstätten meiner Eltern, die Gräber meiner Ahnen und das ehemalige Zuhause meiner Familie nie gesehen habe. Aber dafür ist es nicht zu spät – und ein Anfang ist gemacht mit der Teilnahme am 11. Reichesdorfer Treffen.

Das Gefühl davor ist mulmig. Was erwartet mich? Wie wird der Abend? Dann ist es so weit. Nach 4,5-stündiger Autofahrt sind wir in Friedrichroda angekommen. Unzählige Eindrücke: unglaublich viele Menschen – und kein bekanntes Gesicht. Zwischen all’ diesen Leuten ist mein Vater aufgewachsen – und ich kenne niemanden von ihnen. Warum hat mich das nur nie interessiert? Meine Mutter kennt nahezu alle. Bei jedem bleibt sie stehen, alle haben ein paar warme Worte füreinander, zwischen Tür und Angel werden schnell ein paar Erinnerungen ausgetauscht. Und auf mich trifft immer wieder die gleiche Parole: „Dem Meck sen Diuchter. Kuste sachsesch, men Moidschen?“ Und immer wieder muss ich verneinen. Doch eines ist auch von Anfang an klar: Es ist ein Gefühl! Und das sagt mir, dass ich mich unter diesen Leuten wohl fühle!

Nach einem schnellen Mittagessen gehen wir alle gemeinsam in die Kirche. Die Predigt ist wunderschön. Sie steht unter dem Motto „Geh aus mein Herz und suche Freud“. Der Chor singt, die Orgel spielt und die Reichesdorfer beten. Und ich empfinde Freude. Papa ist nervös. Er muss noch vor dem Abendessen die Eröffnungsrede halten. Es ist schön zu sehen, wie er sich engagiert. Wie er vor der Kirche steht und die Leute begrüßt, wie er von Tisch zu Tisch geht und mit jedem ein kurzes Schwätzchen hält. Ich sitze währenddessen an unserem Tisch und stopfe mindestens fünf Stück selbst gebackenen Kuchen in mich hinein. Unsere Landsleute backen eben so, wie niemand anders backen kann. Dann ist es so weit. Papa begrüßt die Menschen, mit denen er aufgewachsen ist. Er ist aufgeregt und möchte alles richtig machen. Und er macht alles richtig! Anschließend wird er mit seinem alten Team einstimmig zum Vorstand wiedergewählt. Ich bin stolz.

Seit Monaten hat sich irgendetwas in mir gewandelt: Ich weiß die Werte, die uns als „Siebenbürger Kinder“ vermittelt wurden, zu schätzen. Offenheit, Herzlichkeit und Moral nannte es ein gleichaltriger Besucher des Treffens. Zusammenhalt und Anstand müssten, neben vielen anderen Eigenschaften, in meinen Augen noch hinzugefügt werden. Ich will etwas dafür tun, dass unsere Bräuche und Sitten auch in späteren Generationen fortbestehen. Ich will mich einbringen. Ich will zeigen, dass ich stolz bin. Nach den Begrüßungsworten von meinem Vater und seinen Mitstreitern wird zu Abend gegessen. Die „Gemeinschaft“ kommt noch klarer zum Ausdruck. Jeder spricht mit jedem, jeder lacht mit jedem, und vor allem: Jeder interessiert sich für jeden!

Lange sitze ich nur da und sehe mir das bunte Treiben an. Es haben sich Leute aus wirklich allen Altersklassen eingefunden. Die ganz Kleinen, aber auch die ältere Generation ist vertreten. Keiner stört sich an dem anderen. Im Gegenteil. Wir spielen mit den Kindern und be- glückwünschen die Paare, die bereits ihre goldene Hochzeit gefeiert haben. Plötzlich fühle ich mich zurückversetzt in die komplizierte Zeit der „Kindheit“. An einem Tisch in dem großen Saal hat sich die komplette „Jugend“ eingefunden. Immer wieder kommen Erwachsene auf mich zu und wollen mich auf Biegen und Brechen an diesen „Jugendtisch“ verfrachten. Plötzlich ist es wieder da, das verschämte Gefühl des „Nichtdazugehörens“. Bis plötzlich einer von ihnen neben mir am Tisch sitzt. Ganz schnell werden die oben beschriebenen „siebenbürgischen“ Charakterzüge deutlich: Ich werde – mehr als offen – aufgenommen. Ich bin dankbar und fühle mich wohl: Die ganze Nacht wird gefeiert, gesungen und getanzt. Ein Dank an den Tanzkönig des Abends: Besonders schön finde ich, dass zwei der „Jugendlichen“ ihre Partner dabei haben, die nicht aus Siebenbürgen stammen, die aber herzlich in den jeweiligen Familien aufgenommen wurden und sich damit genauso wohl fühlen wie der breite Rest.

Als ich in den frühen Morgenstunden in meinem Bett liege, bin ich mehr als glücklich. Dank dieses Treffens habe ich einige Antworten auf meine Fragen bekommen. Ich weiß, wo meine Wurzeln liegen, und ich weiß, dass ich dazugehöre! Und ich weiß, dass ich möchte, dass meine Kinder die gleichen Normen und Werte vermittelt bekommen. Sie sollen so aufwachsen wie ich. Ich möchte, dass sie stolz schon in der Kindertanzgruppe die Siebenbürger Tracht tragen und mit voller Stimme singen: „Siebenbürgen, süße Heimat“. Es war ein mehr als gelungenes Treffen und ich freue mich heute schon auf das „Reichesdorfer Skitreffen“. Danke an die Organisatoren!

Viviane Meyndt

Schlagwörter: HOG-Treffen

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