24. März 2013

Denkanstöße gegen die Maßlosigkeit: Walter Biemel zum 95.

Er hat von sich gesagt, er sei „dem Schicksal dankbar, ein Siebenbürger Sachse zu sein“. Das war zu Pfingsten 1997 in seinem Dankeswort für die Verleihung des Siebenbürgisch-Sächsischen Kulturpreises. Wenige Wochen vor dem Festakt, im Februar des gleichen Jahres, hatten allenthalben Fachkollegen, Adepten und Bewunderer den emeritierten Professor und mehrfachen Ehrendoktor, den Verfasser und Herausgeber bedeutender philosophischer und kunsttheoretischer Schriften Walter Biemel aus Anlass seines 80. Geburtstages gefeiert. Nun hat er in Aachen sein 95. Lebensjahr erfüllt, immer noch geistig rege und immer noch beteiligt weit über die Grenzen Deutschlands hinaus an Diskurs und Dialog zu den Seinsfragen unserer Zeit.
Kindheit und Jugend hat Walter Biemel in Kronstadt verbracht. Dort besuchte er das Honterus-Gymnasium, danach studierte er in Bukarest, wo unter anderen Tudor Vianu, Dimitrie Gusti und Mircea Eliade seine Lehrer waren. 1942 ging er nach Freiburg und war Schüler von Martin Heidegger, dem Begründer der Fundamentalontologie, mit dem ihn, bis zum Tode des Philosophen 1976, eine enge und anregende Freundschaft verband. Ihm hat er eine vielgelesene Monographie gewidmet, die 1973 bei Rowohlt erschien. Bereits 1964 war ebendort sein Buch über Jean-Paul Sartre erschienen, den Vordenker und Hauptvertreter der modernen Existenzphilosophie. An der Universität Löwen, wo er am Husserl-Archiv arbeitete, promovierte er 1950 mit einer Arbeit über seinen Freiburger Lehrer Heidegger und edierte grundlegende Werke des Phänomenologen Edmund Husserl. Ab 1951 am Husserl-Archiv in Köln, habilitierte er sich 1958 an der dortigen Universität und lehrte danach Philosophie zunächst an der Kölner Hochschule für Musik, dann an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule in Aachen, wo er am Aufbau der Philosophischen Fakultät entscheidend mitbeteiligt war, und schließlich, bis zu seiner Emeritierung 1983, an der Staatlichen Kunstakademie in Düsseldorf.

Bereits seine Habilitationsschrift „Kants Begründung der Ästhetik und ihre Bedeutung für die Philosophie der Kunst“ hatte angedeutet, in welche Richtung Biemels Denken während der darauf folgenden Jahre und Jahrzehnte hauptsächlich gehen sollte: in Richtung der Hermeneutik, der Lehre vom Verstehen und Deuten kultur- und geistesgeschichtlicher Fakten oder Gegenstände, und, von dort aus, hin zu einer generellen Kunstphilosophie. In seinen Schriften stellt sich Deuten von Kunst als mähliches Sichherantasten dar, als konzentrisches Einkreisen, schrittweises Verstehen, als Wegstrecke also und zugleich als Ort der Ankunft dort, wo Strukturen durchschaut, „Bezughaftigkeit“ entdeckt, Sinnhaftigkeit offengelegt und Wahrheiten erkannt werden.
Der Philosoph Walter Biemel ...
Der Philosoph Walter Biemel
In einer Anmerkung zum zeichnerischen Werk des siebenbürgischen Malers Friedrich von Bömches stellt Walter Biemel fest, das hergebrachte Verständnis von Kunst als „Nachahmung der Wirklichkeit“ sei „fragwürdig“, sei es „im Grunde immer schon“ gewesen. Für ihn geschehen Literatur und Kunst dort, wo sich, so der Titel eines seiner Aufsätze, die „Realitätsträchtigkeit des Irrealen“ dartut, wo Realität nicht lediglich abgebildet, sondern in der Fiktion neu geschaffen wird, damit sie überhaupt begreifbar wird, „indem das Wesen unserer Welt in Erscheinung tritt und so eigens gefasst werden kann“. Auf diese Weise wird Sinngebung vollzogen, werden Maßstäbe gesetzt.

Gerade heute, in einer Zeit, in der eine „trunkene, verwahrloste Menschheit unterm Ausschreien technischer und sportlicher Sensationsrekorde ihrem schon gar nicht mehr ungewollten Untergange entgegen“ taumelt, wie es Thomas Mann schon 1955 in seiner berühmten Schiller-Rede voll Bitternis beklagt hatte, einer Zeit, in der eine rasante und zunehmend unkontrollierbare Spirale von Überhöhungen in Wirtschaft und Finanzwesen, in Industrie und Rüstung, in Kybernetik und Kommunikation, in Bevölkerungszuwachs und Umweltbelastung unübersehbar, so Biemel, die „Tendenz zur Maßlosigkeit“ aufweist und weltweit Existenzängste, Neurosen und Vereinsamung auslöst, kann maßgebende Sinnstiftung durch Kunst und Literatur rettende Wirkungskraft freisetzen, indem sie die „Erschütterung“ auslöst, „durch die der Mensch zu sich selbst findet und auch einen neuen Bezug zum Mitmenschen gewinnt“. Daher lässt sich Kunst nicht mehr „von einer bestimmten Realitätsauffassung her als das (lediglich) Fiktive, das Scheinhafte, das Irreale abstempeln“. Sie ist es „nur zum Schein“. In Wirklichkeit ist sie Realität, indem sie im Zeichenbezug Realität erschafft und Richtmaße in Vorschlag bringt.

Erkenntnisse dieser Art liefern Denkanstöße, sind Widerrede, mit der Walter Biemel antritt gegen die Maßlosigkeiten unserer Tage, die, bloß technizistisch motiviert, die Erde Schritt für Schritt unbewohnbarer machen. Die Menschheit müsse, sagt er, „sich der Fragwürdigkeit ihres Lebens bewusst werden“, dürfe „nicht auf Sinn verzichten“ und müsse „die Verantwortung für den Un-Sinn (…) aushalten“, der in einem exklusiv wissenschaftlich-technischen Weltverständnis zutage tritt. Damit ist Walter Biemel Humanist, nicht nur im Sinne der Humaniora, des Nachdenkens über humanistische Studienobjekte, sondern auch und vor allem im Sinne der Humanitas, der Denkarbeit am Menschsein überhaupt, an gültigen Normen humanen Miteinanders.

Belege dafür lassen sich in seinen Büchern, seinen Essays und Aufsätzen, seinen Briefen, von denen einige veröffentlicht sind, sicher auch in Notizen, Entwürfen, Vorlesungen und Manuskripten finden. Samt seiner umfangreichen Bibliothek mit den Schwerpunkten Phänomenologie und Philosophie der Kunst bilden sie den Vorlass, den er der Stiftung Insel Hombroich in Neuss bei Düsseldorf übereignet hat und in dem sich auch sein sicher bedeutungsvoller Briefwechsel mit Heidegger und Husserl befindet. Zurzeit wird der Vorlass in Neuss wissenschaftlich aufbereitet, um später einmal Forschern aus aller Welt zugänglich zu sein. Sie werden ein reiches Feld an gewichtigen philosophischen und kunsttheoretischen Akzentsetzungen vorfinden.

Hannes Schuster

Schlagwörter: Kultur, Philosoph, Biemel

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