9. März 2014

Wie ein Rebstock verwurzelt: Zum 90. Geburtstag von Sara Seiwerth aus Rode

Zu den Menschen, deren Lebensleistungen kaum bekannt werden, aber unseren Respekt verdienen, zählt Sara Seiwerth, geb. Folkendt, die am 9. März 1924 als ältestes von fünf Kindern der Eheleute Martin und Sara Folkendt in der Weinlandgemeinde Rode zur Welt kam.
Als sie konfirmiert wurde und somit der Schwesternschaft in der ca. 1300 Seelen zählenden Kirchengemeinde beitrat, ahnte noch kaum jemand etwas von den kommenden dramatischen Kriegsereignissen. Schon zwei Jahre später, 1940, zog eine Versorgungskompanie der Deutschen Wehrmacht in Rode ein. Zwischenzeitlich war dieses ehemalige Hörigendorf infolge des 2. Wiener Schiedsspruches zur Grenzlandgemeinde geworden. Nach dem Seitenwechsel Rumäniens kam der Geschützdonner immer näher und einige sächsische Gemeinden im Grenzbereich zum sogenannten Szeklerzipfel gerieten zwischen die Fronten, darunter auch Rode. Als am 6. September 1944 der Gendarmerieposten durch einen Stoßtrupp der zurückflutenden Wehrmachtsverbände gesprengt wurde, lieferte sich dieser einige Scharmützel mit einer rumänischen Einheit. Durch deren Artilleriegeschosse gingen Scheunen in Flammen auf, Wohnhäuser wurden getroffen. Die völlig verängstigten, ratlosen Bewohner suchten zunächst Schutz in den Kellern. So auch die Familie der 20-jährigen Sara.

In den nächsten beiden Tagen flüchtete der Großteil der Roder über die ungarische Grenze und dann weiter Richtung Westen. Die Kirchenführung hatte sich wohlweislich schon vorher abgesetzt. Als einige der wenigen Familien hatte sich die Familie Folkendt in einem nahegelegenen Waldgraben versteckt gehalten, bis die Front vorbeigezogen war, und blieb zuhause. Es dauerte aber nur vier Monate, bis weiteres Ungemach über sie hereinbrach, die Deportation der „Zori“ (umgangssprachlich für Sara) nach Sowjetrussland. Zurück blieb die Mutter mit vier minderjährigen Kindern und einem kränkelnden Ehemann. Die in einem Arbeitslager bei Kiew verbrachten Jahre gehörten zu den traumatischsten ihres Lebens und ließen sie mitunter an Gott und der Welt fast verzweifeln. Trotzdem konnte man später bei ihr keinen ausgesprochenen Groll auf die Russen verspüren, hatten ihr doch die selbst bettelarmen Russinnen gelegentlich Brot zugesteckt.

Als sie 1948, stark abgemagert und nach überstandener Malaria, in die Sowjetische Besatzungszone nach Glaubitz bei Riesa (Sachsen) kam, konnte sie bei einer warmherzigen Bauernfamilie relativ rasch wieder zu Kräften kommen.

Noch nach Jahrzehnten sollte sie den Entschluss, in ihre Heimatgemeinde zurückgekehrt zu sein, bereuen. Denn nun begann ein weiterer Leidensweg für die junge Frau. Nicht nur, dass ihr Vater inzwischen verstorben war und dadurch Obhutspflichten gegenüber den beiden jüngsten Geschwistern auf sie zukamen – das neue Regime hatte ihre Familie fast total enteignet, entrechtet und ihnen einen „Kolonisten“ ins Haus gesetzt. So waren sie, mit der Oma eine siebenköpfige Familie, für sechs Jahre im Hinterzimmer und in der kleinen Sommerküche zusammengepfercht, während das kinderlose Zuzugspaar sich in zwei Zimmern breitgemacht hatte.

1950 heiratete Sara den ein Jahr zuvor aus russischer Kriegsgefangenschaft heimgekehrten Georg Seiwerth. Leider hatte sich ihr Ehemann für den Rest seines Lebens eine Eisenstaublunge im Ural zugezogen. Nur dank einer deutschen Zusatzrente konnte der spätere Vater von drei Kindern als Frührentner etwas zum Familieneinkommen beitragen. Nach der Hofrückgabe 1954 entspannte sich die Wohnungssituation. Auch wirtschaftlich hatte man mit dem Beitritt zur LPG wieder ein bescheidenes Auskommen. Anlass zu Streit in der Arbeitsbrigade gab es hin und wieder mit einer Randgruppe aufgrund deren etwas abweichender Arbeitsauffassung.

Die nachfolgenden zehn bis fünfzehn Jahre kann man, mit mancherlei Einschränkungen, als eine Periode kultureller (Schein-) Blüte bezeichnen, die es nach der massiven Auswanderung der siebziger und achtziger Jahre nachher in dieser Gemeinde (auch bei den Rumänen!) nicht mehr gab. Als im Jahre 2002 erstmals das Roder Treffen in der alten Heimat stattfand, war es für die in unmittelbarer Nachbarschaft zum Lokal wohnende 78-jährige Sara selbstverständlich, ihre Küche und ihre tatkräftige Hilfe für das Wohlbefinden der Angereisten zur Verfügung zu stellen. Überhaupt war das Haus der „Daheimgebliebenen“ in dieser Zeit Anlaufstelle für mancherlei Besuche: ob es Roder Landsleute oder auch Prominente wie der Landesbischof und ein Univ.-Professor aus Hermannstadt waren, Frau Seiwerth konnte sich stets als eine angenehme, auskunftsbereite Gastgeberin zeigen. Mit ihrem gut ausgebildeten episodischem Gedächtnis kann sie immer noch Aufschluss geben ebenso über Geschichtsereignisse und Verwandtschaftsverhältnisse, wie über früheren Grundbesitz oder Flurbezeichnungen. Es waren jedes Mal berührende Gespräche, wenn man in ihr Haus – Baujahr 1857, blaugetünchte Fassade, gassenseitiger Kellerzugang – einkehren durfte. Trotz ihrer bescheiden-bedächtigen Art kann sie das Gespräch unvermittelt mit einem ganz eigenen Humor erfrischen, um nach einer Weile feuchte Augen zu haben, etwa wenn ihr aus vergangenen Zeiten das Opfergang-Chorlied „Vertrauen“ einfällt. Dort heißt es in der dritten Strophe: „Hoffe und wage, nimmer verzage, mutig ertrage, jedes Geschick“.

Die altersgebeugte, leidgewohnte Witwe – ihr ältester Sohn starb schon mit 56 Jahren – hat durch ihren festen Glauben auch in Extremsituationen Widerstandsfähigkeit bewiesen. Auch ist sie, trotz aller Drangsalierungen und Demütigungen in ihrem Heimatort fest verwurzelt geblieben, gleich einem Weinstock. Von denen gibt es dort kaum noch einen, anders als noch vor 40 Jahren, als die Rebhalden sich über eine Fläche von mehr als 120 ha erstreckten. Über die einst so stolze Gemeinde hat sich so etwas wie ein Grauschleier gelegt, die verlassenen Häuser scheinen ihren ehemaligen Bewohnern nachzutrauern.

Vor einigen Jahren ist die zweifache Oma und vierfache Uroma zu ihren Kindern ins württembergische Reutlingen gezogen, verbrachte gleichwohl noch einige Sommer auf ihrem Hof in der Roder Kleingasse. Ihre Lebensgeschichte steht stellvertretend für den Schicksalsweg abertausender siebenbürgischer (Land-)Frauen ihrer Generation, deren Lebenspläne vielfach zunichte gemacht wurden. Der Jubilarin sei abschließend ein möglichst beschwerdefreier Lebensabend in familiärer Geborgenheit sowie Gottes Segen zu wünschen.

Walter Schuller

Schlagwörter: Porträt, Geburtstag, Rode

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