30. April 2017

Respekt vor der Authentizität der Dinge!

Elf Fragen an Hans Bergel, Nestor der siebenbürgischen Literatur - Es gehört wohl zu den Zufällen des Lebens, dass die Nürnberger Lesung von Hans Bergel ausgerechnet im ZeitungsCafé, das den Namen des Nürnberger Schriftstellers Hermann Kesten trägt, stattfand. In seiner Präsentation wies Josef Balazs darauf hin, dass Hans Bergel 1973 in einem Essay die Schriftsteller, die zur „vernachlässigten Generation“ gezählt werden, darunter auch Hermann Kesten, erwähnt. Ein Zufall, der so manchen Literaturkenner aufhorchen ließ. Bei der Vorbereitung der Nürnberger Lesung von Hans Bergel entstand im Februar 2017 folgendes Interview, das Josef Balazs mit dem Autor führte.
Können Sie sich erinnern, wann bei Ihnen das erste Mal der Wunsch zu schreiben präsent war?
Ungefähr im zwölften Lebensjahr. Bis zur Erkenntnis freilich, dass Schreiben nicht nur Begleiterscheinung meiner geistigen Existenz ist, sondern mein Lebensinhalt zu sein hat, dauerte es dann noch eine Weile. Grund: Ich musste mir durch eine gewisse Begabungsvielfalt hindurch erst den Weg bahnen, beziehungsweise ihn finden.

Sie haben im Laufe der vielen Jahre Ihrer Tätigkeit als Journalist unzählige interessante Menschen getroffen, kennengelernt, sie befragt. Was hat Ihnen mehr Spaß gemacht, das Befragen anderer Menschen oder selbst, als Nestor der deutschen Autoren aus Siebenbürgen, Fragen zu beantworten.
Sowohl als auch. Ich höre gerne anderen zu – sofern es nicht Zeitvergeudung bedeutet. Dass meine Fragen den Gedankenaustausch beleben, wird im Bekanntenkreis geschätzt, ebenso dass ich gelegentlich den aktiven Part der Kommunikation übernehme. Das Gespräch mit genialen Menschen – vor allem der Musik, der Literatur, der Künste, der Wissenschaft – gehört zu meinem Lebenssummum. Darüber gibt es eine Reihe von Veröffentlichungen, ich schätze über zwanzig Bücher. Wer sie liest, begegnet dem berühmten Berliner Krebsforscher Arnold Graffy, dem nicht weniger berühmten Wiener Maler Hans Fronius, dem bedeutenden Erziehungswissenschaftler Hans Mieskes, dem Kulturhistoriker und -philosophen Walter Myss, meinem Dirigenten-Bruder Erich Bergel u.a. Ein Literaturhistoriker meditierte: Ich sei der Autor mit den meisten veröffentlichten Persönlichkeitsporträts. Mein Leben ohne Bekanntschaft und Gespräch, nicht selten Freundschaft mit Männern und Frauen von Format erscheint mir undenkbar.

Hans Bergel beim Jahresempfang 2008 des Verbandes ...
Hans Bergel beim Jahresempfang 2008 des Verbandes der Siebenbürger Sachsen im Bayerischen Landtag. Foto: Josef Balazs
In den letzten Jahren haben Sie sehr viele Auszeichnungen, Ehrungen erhalten, standen dadurch auch vielen Journalisten Rede und Antwort ... Was für ein Gefühl hat man, wenn man ahnt, vielleicht mit Sicherheit weiß, dass der Fragende seine Fragen abspult, aber keine Zeile von Ihnen gelesen hat?
Unter den nahezu vierhundert Interviews, die ich im letzten halben Jahrhundert im In- und Ausland gab – einiges davon wird in absehbarer Zeit in Buchform erscheinen –, begegnete mir kaum einmal ein unvorbereiteter Interviewer. Ich hatte im Gegenteil immer wieder geistvolle, anregende Gesprächspartner; natürlich ist ein interviewender Journalist in der Regel kein Literaturhistoriker oder -wissenschaftler. Mit Vergnügen erinnere ich mich z.B. eines ausführlichen Interviews mit dem US-Amerikaner Jacob Popper bei Free Europe, eines geradezu raffinierten Literaturkenners, Ende der 1970er Jahre. Oder, 2011, des „Eins zu Eins-Talks“ mit Norbert Joa beim Bayerischen Rundfunk – unser Dialog wurde zu den besten des Jahres gezählt und wiederholt. In Erinnerung bleibt mir ein über zwei Abende erstrecktes TV-Gespräch in Rumänien mit einem bekannten Buchautor. Wir kamen dabei von der Literatur in die Politik und äußerten uns beide solcherart, dass die Vertreter der alten Bukarester Nomenklatura die Zähne zeigten. Über all dies ließe es sich im Einzelnen manches sagen.

Das Gespräch mit Freunden. Wenn man ein gewisses Alter erreicht hat, merkt man, dass einem die Freunde zunehmend fehlen. Haben Sie in den letzten zwanzig Jahren neue Freunde gewinnen können?
Der wichtigste Freund der Zeit 1994-2014 war der nach fast vierzig Jahren gewaltsamer Unterbrechung wiederentdeckte israelisch-deutsche Lyriker und Bildhauer Manfred Winkler. Der Bukowiner lebte seit 1959 – dem Jahr, in dem ich in Rumänien zum dritten Mal von den Kommunisten ins Gefängnis „gesteckt“ wurde – in Israel, wo er sich einen Namen als Künstler machte. Über unsere Freundschaft gibt es zwei Bücher, 2011 und 2014. Die Freundschaft mit Winkler war ein Gnadengeschenk meines Alters. Außer mit meinem Bruder Erich verband mich nie wieder eine Wahlverwandtschaft dieser Qualität mit einem Mann. Bei meinen ausgedehnten Besuchen in Israel freundete ich mich überdies mit etwa zwei Dutzend Damen und Herren an, alle Schriftsteller, darunter ein Archäologe, ein Musiker, Maler, Kunsthistoriker, ein Architekt, mit denen im Gespräch zu sein das meiste von dem überbot, was ich dieser Art nach der Emigration 1968 kennenlernte.

Sehr oft stellten Sie Ihren Romanen, aber auch Essay-Bänden, ein Motto voran; darunter waren Autoren wie Goethe oder Dürrenmatt. Sie wählten als Motto zu Ihrem Roman „Die Wiederkehr der Wölfe“ einen Satz von Jose Ortega y Gasset, und zwar: „Wer etwas erklären will, muss eine Geschichte erzählen.“ Und jetzt folgt die ketzerische Frage: Was und wem wollen Sie „etwas“ erklären?
Im Roman, den Sie meinen – „Die Wiederkehr der Wölfe“, 2006, die Fortsetzung des Romans „Wenn die Adler kommen“, 1996 –, beschäftige ich mich mit der historisch überfrachteten Zeit der Jahre 1939-45; ich erkläre sie mir und dem Leser. Dass die Mittel des Epikers, Situationen zu erläutern, vielfältiger sind als die des Historikers, die des Wissenschaftlers, wusste vor dem Spanier bereits Schopenhauer; er schrieb den Satz: „Wer die Menschheit in alle Erscheinungen und Entwicklungen ihrer Idee nach erkennen will, dem werden die Werke der Dichter ein viel deutlicheres Bild vorhalten, als es die Historiker vermögen.“ Von Schopenhauer gibt es hierzu auch die Notiz: „Die Poesie ist tiefsinniger und beträchtlicher als die Geschichte.“ Dass es mir im genannten Roman glückte, einen bestimmten Aspekt des komplizierten dramatischen Geflechtes der Epoche 1939-45 zu erklären – nämlich südosteuropäische Spezifika des Geschehens –, belegen Rezensionen, noch mehr Briefzuschriften von Lesern.

Sie haben so vielen Ihrer Freunde, Wegbegleiter, aber auch Menschen, die Ihnen nicht unbedingt Gutes getan haben, durch Ihre Essays ein Denkmal gesetzt. Haben Sie neue Pläne, neue Denkmäler zu erstellen? Meine schriftstellerischen Pläne gehen in eine andere Richtung.
Sie erwähnten in einem Gespräch mit Stefan Sienerth, dass Sie sich zum 60. Geburtstag als Geschenk den „Tod des Hirten“ geschrieben haben. Da Sie nicht näher auf diese Aussage eingehen, bleibt die Frage offen, ob das Geburtstagskind sich über das Geschenk gefreut hat?
Das Geburtstagskind von 1985 freut sich heute noch – und immer wieder – an der Niederschrift der Gedanken von 1985: an dem Mut, den ich hatte – erlauben Sie –, mich so total außerhalb des diktatorischen modischen Befindens darüber auszulassen, was mein Leben durch dick und dünn, durch Absolutismen der unterschiedlichsten Couleur, auch durch die unangenehmsten Folgen hindurch gedanklich erfüllte und bestimmte. Das heißt, dass ich Mut und Stehvermögen hatte, so und nicht anders zu sein. Im Grunde gilt das für alle meine Bücher.

Wenn es einen Friedhof der vergessenen Bücher gäbe, so wie der spanische Schriftsteller Carlos Ruiz Zafón so einen Ort beschreibt, welches Buch würden Sie adoptieren und dafür sorgen, dass es nie verschwindet, dass es immer weiterlebt?
Mein 2000 verstorbener Freund Walter Myss, der kluge Kulturhistoriker – der geistesgeschichtlich belesenste Siebenbürger, und nicht nur, den ich kannte –, schrieb mir auf die Würdigung hin, die ich zu seinem 75. Geburtstag veröffentlichte: Sollte es sein, dass ihn das Schicksal für den Rest des Lebens auf eine Insel verschlage, mit dem Verdikt, nur drei Schriften mitnehmen zu dürfen, müsse er über zwei davon nachdenken, die dritte aber sei mit Sicherheit der ihm zugedachte Würdigungstext. In diesem Sinne verwende ich mich für eine unauffällige Schrift, die vor etwa dreißig Jahren unter dem Titel „Worte wie Spuren“ erschien – aus über vierzig größeren Sammelwerken ausgewählte Lebenserkenntnisse nordamerikanischer Indianer. Als Kind des 20., des 21. Jahrhunderts überkommt mich tiefe Scham angesichts dieser Einblicke in das Wesen der Natur und die Stellung des Menschen in ihr: über die Rohheit und grenzenlose Dummheit, mit der die Moderne in dieser Frage verfährt. Dies Büchlein schlage ich vor.

Sie haben sich öfters über die Gattung Roman geäußert und plädieren für die "homerische Erzählweise". Als Gegenteil dazu nennen Sie die Literatur, die sich "autistisch- wie ideologisch-affektierter Sichtweisen befleißigt". Welche Chancen hat der Roman des 21. Jahrhunderts? Wie kann man, wird man den Leser, der auf seinem digitalen Lesegerät in der Jackentasche immer 200 Romane mit sich führt, begeistern können?
Durch gutes Erzählen. „Ohne Mätzchen und Faxen“, schrieb Thomas Mann. Die belletristische Literatur der Deutschen – vor allem die erzählenden Formen – leidet seit Jahrzehnten an Ideologisierungen, seien diese politischer, seien sie ästhetischer Natur. Ideologisierungen, gleichviel welcher Art, bedeuten jedes Mal das Ende der Kunst. So ist z.B. die deutsche Epik weltweit längst kaum noch gefragt: ihre Ideologielastigkeit schrickt ebenso ab wie die der deutschen Literaturrezeption. Sehen Sie sich hingegen etwa die Lateinamerikaner an: Ein Autor wie der Erzähler Gabriel García Márquez – bis zum Tode streitbarer Kommunist – ließ sein ideologisches Engagement an keiner Stelle seiner großen Romane oder Erzählungen auch nur andeutungsweise den homerischen Erzählton stören. Wie kommt es, dass die „Odyssee“ noch fast 3000 Jahre nach ihrem Entstehen Neuauflagen etwa in Form von Verfilmungen erfährt? Weil sie nichts als Erzählung ist, wie sie den Menschen immer erreichen wird – trotz modernster Kommunikationstechnika. Ich kenne erschreckend wenig deutsche Erzähler der Gegenwart, denen die – ideologisierende – political correctness nicht an der einen oder anderen Stelle über die Schulter schielt. Bei der Internationalen Buch-Verkaufs-Ausstellung vor zwei oder drei Jahren in Rom wurde vom Gesamtangebot sage und schreibe ein Prozent deutsche erzählende Prosa verkauft. Kein Kommentar.

Wenn Sie in einem Gespräch mit Stefan Sienerth sagen: Ich interessiere mich als Autor für die Welt, nicht für mich, was meinen Sie ganz genau mit Welt, und heißt das, dass Sie als Person überhaupt keine Rolle spielen? Sind Sie nicht Teil dieser Welt?
Mich interessiert nicht der Blick auf mein wehleidiges Ich – das mir im Grunde Zeit meines Lebens ziemlich gleichgültig war –, sondern der Blick auf die Welt, in der ich lebe. Auf Länder, Menschen, Kontinente, Kulturen. Teil dieser Welt bin ich als ihr erzählerischer Registrator. Ich halte es da mit Gottfried Benn: „Ich war mir als Person immer schon gleichgültig.“ Wie hätte ich anders bei meiner Biografie überlebt? Wie hätte ich anders schreiben können? Nehmen Sie – über meine Epik hinaus – meine gesamte Essayistik, meine Lyrik. Jedes einzelne Stück ist ein Versuch, die Welt auf meine Weise – als Schreibender – zu erkennen, zu entschlüsseln, das Erkannte festzuhalten.

Am Anfang der Präsentation Ihres Romans „Die Wiederkehr der Wölfe“ stehen folgende zwei Sätze: „Dies ist ein Roman. Mit Ausnahme weniger Personen des öffentlichen Lebens, die ihre realen Namen tragen, sind Personen, Namen und Ereignisse frei erfunden.“ Diese Sätze dienen als Selbstschutz. Als Leser werde ich (aber) durch diese Aussage etwas verunsichert. Ein junger Leser, der mit den Einzelheiten der Historie nicht vertraut ist, kann zwischen Dichtung und Wahrheit nicht unterscheiden. Ist das nicht ein gefährlicher Weg?
Die so genannte „freie“ erzählerische Erfindung – gibt es sie? Für mich ist die erzählerische Erfindung nichts anderes als die Komplettierung des lückenhaft vorliegenden faktischen, des historischen Materials, von dem ich ausgehe; dieses allein wiederzugeben, ist – seit Leopold von Ranke – die Aufgabe des Historikers. Der Erzähler hingegen muss aus der in jedem Fall lückenhaften realen Vorgabe ein Ganzes formen. Ergo wird er aus der anregenden Vorgabe seine „Erfindung“ ableiten. Das gilt zumindest für den Typus des Erzählers, dem ich angehöre. Ich fand mich vor Kurzem im Text einer Literaturhistorikerin in diesem Zusammenhang wie folgt zitiert: „Der Zwang, die Authentizität der Dinge zu respektieren, ist ein Grundsatz meiner erzählenden Prosa.“ Meine Biografin Windisch-Middendorf umriss diese Konzeption des Erzählens mit dem Satz: er „erzählt Geschichte in Geschichten“. Dazu drängte mich nicht zuletzt meine Biografie. Sie „warf“ mich von früh an immer wieder einmal in zeitgeschichtlich turbulente Situationen. Umberto Eccos Beobachtung, dass jeder Erzähler im Grunde bald mehr bald weniger autobiografisch verfährt, trifft mit Betonung auf mich zu.

Lieber Hans Bergel, haben Sie vielen Dank für dieses „Gespräch“! Wir, die Leser Ihrer Bücher, können kaum erwarten, dass Ihr neuer Essay-Band – quasi ein Querschnitt des Spektrums Ihrer Interessen – im Herbst 2017 erscheint.

Anmerkung der Redaktion: Das mit Hans Bergel geführte Interview erscheint unter dem gleichen Titel in einer gekürzten Fassung in der gedruckten Ausgabe der Siebenbürgischen Zeitung, Folge 7 vom 30. April 2017, Seite 7.

Schlagwörter: Kultur, Literatur, Bergel

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