5. Januar 2021

Verantwortungsbewusst im Dienst am Nächsten: Nachruf auf Ursula Scherg

Ursula Scherg starb am 17. November 2020 im gesegneten Alter von fast 91 Jahren in Regensburg, wo sie seit ihrer Aussiedlung im Jahr 1975 gelebt hat. Sie war Gründungsmitglied der Kreisgruppe Regensburg. Geboren wurde sie am 7. Januar 1930 in Kronstadt in einer gutbürgerlichen Familie als ältestes Kind von sechs Geschwistern. Der Vater besaß zusammen mit zwei Brüdern eine Lederfabrik in Kronstadt.
Ursula Scherg (1930-2020) ...
Ursula Scherg (1930-2020)
Die Kriegs- und Nachkriegszeit hinterließen auch in der Familie Scherg deutliche Spuren, die das Leben und Wirken Ursula Schergs nachhaltig prägen sollten. Der Vater wurde zum Kriegsdienst eingezogen, kam 1944 ins Gefängnis nach Târgu Jiu und wurde von dort nach einem Jahr, 1945, nach Russland deportiert. Hier erkrankte er schwer an Lungenentzündung und hatte es einer russischen Ärztin zu verdanken, dass er medizinisch gut versorgt und bereits nach einem Jahr nach Hause geschickt werden konnte. Dort ging es mit Enteignung und weiteren Repressalien gegen die sächsische Bevölkerung weiter, die in der Zwangsevakuierung im Burzenland im Mai 1952 ihre Fortsetzung fanden. Wie viele andere musste auch Familie Scherg innerhalb von drei Tagen die Wohnung in Kronstadt räumen, konnte sich den Ort der Evakuierung aber aussuchen. Der Vater wählte Agnetheln, weil dort die Lederverarbeitung auch Tradition hatte und er sich damit eine bessere Versorgung der Familie erhoffte.

Hier fand die Familie Scherg Unterkunft in der ehemaligen Werkstatt eines Schusters und hatte für zweieinhalb Jahre „domiciliu obligatoriu“, das heißt, man durfte die Grenzen Agne­thelns nicht ohne behördliche Genehmigung verlassen. Als sei das alles noch nicht genug, wurde der Vater 1952 zur Zwangsarbeit an den Donaukanal nach Navodari geschickt, wo er im sehr strengen Winter 1953 zusammen mit vielen anderen Männern den Tod fand.

Die Mutter wurde mit 44 Jahren Witwe in einer sehr schweren Lebenssituation und hatte für sechs Kinder zu sorgen. Bereits in der Agnethler „Verbannung“ arbeitete Ursula Scherg, die in ihrem ersten Beruf Kindergärtnerin gelernt hatte, mit verantwortungsvollem Einsatz, um die Mutter und die Geschwister tatkräftig zu unterstützen. Nach dem Tod des Vaters, der einen schmerzvollen Bruch für die ganze Familie markierte, intensivierte sie diesen Einsatz für die Familie – er sollte ihr ein ganzes Leben lang nicht mehr abhandenkommen. Sie hat für die Familie gelebt: Geburtstage, Familienfeste gehörten zu verbindenden und stärkenden Ritualen der Geschwister untereinander. Auch der später um Nichten und Neffen erweiterten Familie gehörte ihre ganze Aufmerksamkeit und liebevolle Zuwendung. Sie wurde auch von allen geliebt und geschätzt und von einigen Großnichten und -neffen „Urselomi“ genannt.

Bereits in Agnetheln hatte sie eine Tätigkeit im Büro in der Buchhaltung aufgenommen und ist diesem Beruf bis zur Ausreise im Jahr 1975 treu geblieben. Nach einem Jahr in der neuen Heimat Regensburg begann sie im ­Alter von 46 Jahren das Studium der Betriebswirtschaft, das sie erfolgreich als Betriebswirtin (FH) abgeschlossen und in diesem Beruf bis zu ihrer Verrentung gearbeitet hat.

Ihr Einsatz für andere ging über die Familie hinaus und erstreckte sich auf unsere in den 70er Jahren noch kleine sächsische Gemeinschaft in Regensburg. So war Frau Scherg Gründungsmitglied der Kreisgruppe Regensburg im Jahr 1979. Aber bereits in den Jahren davor besuchte sie regelmäßig neu angekommene Landsleute im Übergangswohnheim Regensburg und half ihnen bei den ersten Schritten in der neuen Heimat. Darüber hinaus nahm sie noch weitere wichtige Aufgaben für unsere Gemeinschaft wahr. In einem Interview, das ich mit ihr vor zehn Jahren zu ihrem 80. Geburtstag führte, sagte sie: „Die wichtigste Aufgabe, die ich bis heute habe, die aber jetzt nicht mehr gebraucht wird, war, aus dem Rumänischen übersetzte Urkunden zu beglaubigen. Der Stempel bzw. die Berechtigung dazu wurden mir vom damaligen Landesvorstand übertragen. Das bedeutete, dass wir unsere Urkunden nicht mehr nach München schicken mussten, sondern hier, vor Ort, schnell und unbürokratisch beglaubigen konnten.“ Sie hat damit vielen Landsleuten geholfen, es sprach sich schnell herum, dass man sich zwecks Beglaubigungen vertrauensvoll an Frau Scherg wenden konnte.

Des Weiteren sagte sie im gleichen Interview, befragt zu ihren Aufgaben im Vorstand der Kreisgruppe Regensburg: „Nachdem die Kreisgruppe 1979 gegründet worden war, habe ich verschiedene Ämter und Funktionen gehabt: Rechnungsprüferin, Ersatzprüferin, Beisitzerin. Von 1979 bis 1982 war ich außerdem zuständig für die Weiterleitung unserer Berichte und Ankündigungen an die SbZ.“ Gerne nahm sie an den Reisen, die von unserem Landsmann Klaus Andree über viele Jahre in über 40 Länder organisiert wurden, teil.

Sie war auch über die landsmannschaftlichen Belange hinaus offen und aktiv. So engagierte sie sich nach dem Ausscheiden aus dem Berufsleben ehrenamtlich in der Seniorenbegegnung im Gustav-Adolf-Wiener-Haus der Diakonie Regensburg. Über 25 Jahre war sie hier aktiv beim Frauenfrühstück, am Weihnachtsmarkt, aber auch als Teilnehmerin verschiedener Bildungs- und Freizeitangebote. Die letzten fünf Jahre verbrachte sie im Regensburger Johannesstift, liebevoll begleitet und umsorgt von ihrer großen Familie.

Ob in der Familie, in der sächsischen Gemeinschaft, in der Seniorenbegegnung, in ihrem Schrebergarten: Ihr Einsatz war stets von großem Pflichtbewusstsein und von großer Verantwortung getragen. Nun hat sich ihr Lebenskreis nach einem erfüllten Leben geschlossen. Uns bleibt nur der Dank an sie für ihr beispielhaftes Engagement im Dienst am Nächsten. Möge sie nun in Frieden ruhen!

Im Namen des Vorstands der Kreisgruppe Regensburg

Susanne Mai

Schlagwörter: Verbandsleben, Nachruf, Kronstadt, Agnetheln, Regensburg, Evakuierung

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