17. April 2021

Schöpfer unentbehrlicher Grundlagenwerke: Dr. Ernst Wagner zum 100. Geburtstag

Es schien mir gänzlich abwegig, als kürzlich zur Sprache kam, dass der 100. Geburtstag von Ernst Wagner anstünde. Dabei haben wir ihm doch unlängst erst die Festgabe zum 75. überreicht, wie sollte er da schon 100 werden!? Aber die Fakten sind klar – das hatte er uns gelehrt, sich strikt an die Fakten zu halten. Es ist aber eigentlich ein gutes Zeichen, dass die letzte Begegnung mit ihm gar nicht so lang zurückzuliegen scheint, denn das heißt, dass er bis heute nachwirkt, dass er als Vorbild, als Instanz, als Vertrauensperson immer da war und ist und es keine leeren Worte waren, als wir ihm ein ehrendes Andenken versprachen, nachdem er nur wenige Tage nach jener Feierstunde vor 25 Jahren verstorben war: Dr. Ernst Wagner blieb im Arbeitskreis für Siebenbürgische Landekunde durchgehend präsent und ist es bis heute.
Dr. Ernst Wagner, Porträtfoto um 1990, Fotoarchiv ...
Dr. Ernst Wagner, Porträtfoto um 1990, Fotoarchiv des Siebenbürgen-Instituts.
Warum ist Ernst Wagner so wichtig, nicht allein für den Landeskundeverein, sondern überhaupt für seine Landsleute? Wie wurde er zu einer sächsischen Institution der Nachkriegsjahrzehnte? Ernst Wagner wurde am 17. April 1921 in Wallendorf in Nordsiebenbürgen in eine Pfarrfamilie geboren. Nach dem Abschluss des Bistritzer evangelischen Realgymnasiums 1940, nach dem sogenannten „Völkischen Dienstjahr“ und Mitwirkung in der Jugendorganisation des Volksbundes der Deutschen in Ungarn kam er aufgrund eines zwischenstaatlichen Abkommens schon 1942 bis Kriegsende in deutsche Kampfeinheiten; es folgte ein Jahr in US-Kriegsgefangenschaft. Seine zwei Brüder waren im Krieg gefallen, die meisten Landsleute waren 1944 aus Nordsiebenbürgen evakuiert worden, viele waren in Österreich. Dort wirkte er zunächst als Volksschullehrer in Flüchtlingsklassen, da er aber in Österreich als Ausländer galt und zur Staatsprüfung für den Lehrdienst nicht zugelassen wurde, siedelte er in die westlichen Besatzungszonen Deutschlands über. Hier widmete er sich ab 1949 einem Studium an der Landwirtschaftlichen Hochschule Stuttgart-Hohenheim, wurde Diplom-Landwirt, 1954 zum Dr. agr. promoviert und zwei Jahre später Assessor der Landwirtschaft. Auf eine wissenschaftliche folgte eine beeindruckende berufliche Karriere, zuletzt war er zwölf Jahre lang geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Birger-Forell-Stiftung, die die Wiederansiedlung heimatvertriebener Bauern förderte.

Daneben gab es aber noch einen anderen Ernst Wagner. Und zwar den, der zu Beginn der 1950er Jahre zu jenen jungen und suchenden Menschen gehörte, die sich im Arbeitskreis junger Siebenbürger Sachsen zusammenfanden und sich mit ihrer Identität und Geschichte auseinanderzusetzen begannen. Aus diesem Kreis entstand 1962 der Arbeitskreis für Siebenbürgische Landeskunde, der ganz bewusst in der Rechtsnachfolge des alten, 1840 gegründeten Landeskundevereins stand. Wagner gehörte zu den Gründungsmitgliedern und war von Beginn an Vorstandsmitglied. 1970 übernahm er den Vorsitz des Arbeitskreises in einer Zeit, als die Gundelsheimer Arbeitsstelle mit Bibliothek und Archiv auf- und ausgebaut wurde und den Kern der späteren Kultureinrichtungen bildete. Hier war Wagners sachliches Planungs- und Verhandlungsgeschick einer der wesentlichen Antriebe, auch bei der Initiierung der Förderung des Siebenbürgisch-Sächsischen Kulturrats durch die Länder Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg. Als er 1984 den Vorsitz des Siebenbürgisch-Sächsischen Kulturrates übernahm, gab er jenen des Arbeitskreises ab. Allerdings hatte er im Laufe der Zeit noch zahlreiche andere Ehrenämter inne, so war er etwa zeitweilig Vorsitzender des Siebenbürgischen Museums, Mitglied im Bundesvorstand der Landsmannschaft (1950/51 sogar als Bundesjugendreferent) oder im Stiftungsrat der Siebenbürgisch-Sächsischen Stiftung. Er engagierte sich für seine nordsiebenbürgischen Landsleute und veranstaltete Bistritzer Treffen, zu denen er mehrere Sammelbände herausgab. Wagner hatte keinerlei Berührungsängste in irgendeine Richtung und wurde so zur Integrationsfigur inmitten der zu jener Zeit nicht immer kooperativen sächsischen Parteiungen. Ein Herzensanliegen war ihm die Zusammenführung der durch Flucht und Evakuierung der Nordsiebenbürger Sachsen weit verstreuten Kirchenbücher, Vasa sacra und sonstigen archivalischen und dinglichen Hinterlassenschaften der Gemeinden und anderer Institutionen. Dass diese heute zu wesentlichen Teilen erhalten und zugänglich sind, ist überwiegend seiner Geduld und Beharrlichkeit zu verdanken.

Doch neben all dieser erfolgreichen Organisationsarbeit bleibt uns Ernst Wagner vor allem als akkurater, glasklar argumentierender und zugleich gänzlich uneitler Wissenschaftler in Erinnerung. Er hatte sich ein so umfassendes Wissen über Siebenbürgen angeeignet und war getrieben von der „Faszination trockener Daten“ (Hans Bergel 1981), dass er in der Lage war, neben einer Vielzahl wichtiger Aufsätze bis heute unentbehrliche Grundlagenwerke zu schaffen: So erschien 1976 die erste und 1981 die zweite Auflage der von ihm zusammengestellten „Quellen zur Geschichte der Siebenbürger Sachsen“ (1186-1978), 1977 folgte sein „Historisch-Statistisches Ortsnamenbuch für Siebenbürgen“, schon bald genannt „der Wagner“, weil es konkurrenzlos ist und unzählige grundlegende Fragen zuverlässig beantworten kann, und 1981 seine kleine „Geschichte der Siebenbürger Sachsen“, die bis in die neunziger Jahre viele Nachauflagen und Übersetzungen erlebte und gut verständlich und knapp in ein oft nur scheinbar bekanntes Thema einführte. Gleichfalls sprang er für die Redaktion der Zeitschrift für Siebenbürgische Landeskunde einige Jahre ein.

Auch nachdem er sich 1989 gesundheitsbedingt von seinen Ehrenämtern zurückzog, blieb er ununterbrochen landeskundlich aktiv. Er war die treibende Kraft hinter einer Vielzahl der Bände in den drei Reihen des Arbeitskreises und bereitete sie bis hin zur Erstellung der Druckvorlage vor, etwa die Bistritzer Urkunden-Regesten oder den Band „Siebenbürgische Familien im sozialen Wandel“ (1993), aber auch andere familiengeschichtliche Arbeiten oder viele Kapitel zur Ortsgeschichte der damals zahlreich erscheinenden Heimatbücher. Seine Bibliographie umfasst 189 Bücher und Aufsätze. Bis zuletzt arbeitete er trotz gesundheitlicher Einschränkungen mit bewundernswertem Fleiß an seinem letzten Werk, dem ersten Band des sächsischen Pfarrer- und Lehrerbuches (bis 1700) – anlässlich der Feier zu seinem 75. Geburtstag übergab er dem Arbeitskreis das fertige Manuskript (publiziert Ende 1997).

Ernst Wagner hat verschiedene Ehrungen erhalten, so etwa 1983 das Bundesverdienstkreuz am Bande oder 1986 den Siebenbürgisch-Sächsischen Kulturpreis. 1991 wählte ihn der Arbeitskreis für Siebenbürgische Landeskunde zu seinem Ehrenmitglied, eine nur selten verliehene Ehre, und widmete ihm ein Heft der Zeitschrift für Siebenbürgische Landeskunde. Zum 75. Geburtstag aber sollte der Altvorsitzende, der jederzeit bei Bedarf mit wohlüberlegtem Rat bereitstand, eine ansehnliche Würdigung erhalten, und zwar wurde ihm ein Nachdruck des „Handbuchs der Landeskunde Siebenbürgens“ von Eduard Albert Bielz von 1857 als Festgabe gewidmet – auch dies eine präzise und umfassende Beschreibung des Landes ganz im Wagnerschen Sinne, was Konrad Gündisch in seiner Einführung die beiden in Beziehung zueinander bringen ließ, indem er die zeitgenössische Charakterisierung von Bielzens Wirken als „einen wesentlichen Teil von dem, was unser Verein erstrebt und erreicht hat, und (…) zugleich von allgemeinem Standpunkt betrachtet ein gut Stück sächsischer Kulturarbeit in diesem Land dar(stellt)“ in gleicher Weise auch auf Wagner bezieht. Die Feierstunde zu Wagners 75. Geburtstag fand am 19. April 1996 im Billardsaal auf Schloss Horneck statt, an einem schönen sonnigen Samstag. Viele Weggefährten und namhafte Landsleute waren angereist, um ihn zu beglückwünschen – aber eines fehlte noch, sein Geschenk, die Festgabe. Sie war gedruckt und gebunden und im UPS-Auto unterwegs, aber wie sich nach etlichen Telefonaten herausstellte, würde der Zusteller an jenem Tag nicht mehr nach Gundelsheim kommen. Sowas durfte nicht passieren und nach einigen weiteren Telefonaten konnten wir herausfinden, dass die Buchbinderei in Darmstadt noch einige überschüssige Exemplare herumliegen hatte. So schwang sich der damalige Geschäftsführer ins Auto, verpasste zwar die schöne Feierstunde, konnte aber in der Buchbinderei noch jemanden antreffen (man hatte noch keine Mobiltelefone) und mit Bleifuß am frühen Abend mit wenigen Exemplaren wieder in Gundelsheim ankommen – die Gesellschaft saß noch in angeregter Runde beisammen. Als Dank wurde ihm dann die Ehre zuteil, Ernst Wagner die Festgabe überreichen zu dürfen – die letzte Begegnung des Schreibers dieser Zeilen mit einer nachhaltig prägenden Persönlichkeit. Zwei Wochen danach, als Wagner mit seiner Familie am 3. Mai in Schwäbisch Hall den Geburtstag nachfeierte, erlag er völlig unerwartet einem Herzversagen.

Im Sinne des Verstorbenen wurde zu seinem Gedenken um Spenden an den Arbeitskreis statt Blumen gebeten, und hier zeigte sich, wie groß sein Freundeskreis war: Es kamen so viele Spenden zusammen, dass wir einen der großen Archivräume im Institutshaus nach ihm benennen konnten – das Haus in der Schlossstraße wurde gerade in jenem Jahr hergerichtet und „Dr. Ernst Wagner“ ist natürlich bis heute dort zu lesen. Dankbar ist der Landeskundeverein auch seiner Witwe Elvira Wagner, die die Mitgliedschaft ihres Mannes bis heute fortgeführt hat und immer wieder Gast der Tagungen oder der Neujahrsempfänge ist. In jedem Falle ist Ernst Wagner auch heute noch gegenwärtig, und jene, die ihn nicht mehr kennenlernen konnten, ahnen oft, welche Bedeutung seinem Wirken für die wissenschaftliche Kunde von Siebenbürgen genauso wie für die Gundelsheimer Kultureinrichtungen zukommt. Dafür sind wir ihm heute noch dankbar und werden die Erinnerung an ihn wachhalten und weitergeben.

Harald Roth

Schlagwörter: Wissenschaft, Geschichte, Landeskunde, AKSL, Bistritz, Agrarwissenschaft

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