13. Mai 2022

"Als wäre ich nie weg gewesen": Hermannstädter Ralf Thrull über die Rückkehr an den Ort seiner Kindheit

Ralf Thrull ist der aufmerksamen Leserschaft dieser Zeitung bereits begegnet: als Protagonist des im Schiller Verlag Bonn/Hermannstadt 2019 erschienenen Bandes „Kleine Erde, Hermannstadt – Bericht über eine Zeit, die es gegeben hat“ seiner aus Norddeutschland stammenden Ehefrau Susanne Thrull (siehe Mehr als ein Bericht: Susanne Thrull veröffentlicht Familienchronik „Kleine Erde, Hermannstadt“). Das nachfolgende Interview mit dem in Hermannstadt geborenen Laborarzt im Ruhestand führte Hans Reinerth, Vorstandsmitglied des Kulturerbe Kirchenburgen e.V.
Über das Buch „Kleine Erde Hermannstadt“ konnte ich ganz tiefe Einblicke in dein Leben gewinnen. Mich fasziniert die Beschreibung deiner Frau des „Heimkommens nach Siebenbürgen nach 50 Jahren“, ohne zu überraschen. Wie kann man sich die Gefühlswelt nach so langer Abwesenheit am Ort der Kindheit vorstellen?

Eigentlich hatte ich schon vor Jahren beschlossen, gar nicht mehr nach Rumänien zu fahren. Irgendwann wollte meine Frau aber doch meine Heimatstadt kennenlernen, und dann wurde ich von ihren positiven Eindrücken mitgerissen. Natürlich waren da sofort vertraute Anblicke, Plätze, Geräusche, Klänge, Gerüche, Speisen, aber ich bin dem allem zunächst mit sehr viel Skepsis begegnet. Als ich mein Elternhaus wiedersah, gab es mir einen Stich, was daraus geworden war. Unterteilt in kleine Eigentumswohnungen hatte jeder angebaut, umgebaut, gefärbt, verfremdet und verändert. Es reihten sich in der Folge aber derart unwahrscheinliche Zufälle in einer Weise aneinander, dass ich mich plötzlich wiederfand im Hof eines Nachbarhauses, wo seit 50 Jahren nichts mehr renoviert worden war. Es sah aus wie in unserem Hof damals, als wäre ich nie weg gewesen. Und ich sah, dass hier dringend etwas gemacht werden musste. Dieses Haus wollte ich wiederherstellen, in den Zustand versetzen, den ich mir für das Haus meiner Familie gewünscht hätte.

Es war berührend, in meiner Straße sogar noch Menschen wiederzufinden, die ich als Kind gekannt hatte. Die Zeit der Renovierung brachte immer wieder Rückschläge, aber die Freundlichkeit der neuen Nachbarn entschädigte mich. Auch war ich überrascht, wieviel Rumänisch ich nach kurzer Zeit wieder konnte. Meine Frau weist immer darauf hin, welcher Reichtum es im Grunde ist, dass die meisten Sachsen eigentlich zweisprachig sind, manche können zusätzlich auch noch Ungarisch.

Über die Gemeinden in Hermannstadt und Michelsberg, von wo mein Großvater stammt, lernten wir sehr schnell Leute kennen, die uns herzlich begegneten. Einmal schenkte mir eine Dame sogar ein Lebkuchenherz, auf das sie mit Zuckerguss „Resist Soxen“ geschrieben hatte.

Schließlich wurde die Sanierung des kleinen Hauses aus dem 15. Jahrhundert zu einer Art symbolischem Heilwerdungsprozess. Nach und nach wurden die schlimmsten Schäden aufgespürt und repariert, es kam in einige Teile überhaupt erstmal Grund rein. Es konnte wieder Wasser fließen, aber nicht mehr in den Keller, sondern in neuen Leitungen, am Ende wurde es warm und trocken und schließlich zu einem behaglichen Zuhause.

Dieses zweite Ankommen war ja dann doch ein bisschen mehr als „nur“ der Kauf eines Hauses in der ersten Straße. Welche weiteren Aspekte bereicherten deine neu- oder wiederentdeckte siebenbürgische Identität zusätzlich?

Erst einmal wird in Hermannstadt kulturell so ungeheuer viel geboten, dass man ständig angeregt wird. Während vieler Wochen auf der Baustelle wurde ich aber auch von Neuem Teil der Gegenwart in Rumänien. Es war die Zeit der allwöchentlichen Demonstrationen gegen die Korruption in Bukarest. Häufig schloss ich mich dem Protestzug an, der vom Großen Ring begann und die Heltauer Gasse hinaufführte, mit einer kleinen Europaflagge auf der Schulter, die meine Frau mir aus Deutschland geschickt hatte. Hier reifte dann die Entscheidung, die rumänische Staatsbürgerschaft, die ich ja seinerzeit kostenpflichtig hatte abgeben müssen, abermals zu beantragen. Unser deutsches Recht ermöglicht in bestimmten Fällen eine doppelte Staatsbürgerschaft, und ich wollte mir auf diesem Weg meine politische Stimme zurückholen, und zwar um sie dann, bei den nächsten Wahlen, wiederum abgeben zu können. Allerdings stellte sich dieser Prozess mit fast ebenso vielen Hürden versehen und langwierig heraus, wie es damals die Ausreise gewesen war.

Durch die Auseinandersetzung mit der Identitätsfrage, die nicht zuletzt durch die Heimattage und Sachsentreffen immer im Raum steht, habe ich einen Teil wieder integrieren können, der verloren worden war. Hierzu war für mich ein Besuch des Museums auf Schloss Horneck in Gundelsheim sehr wichtig und hilfreich, als Impuls, mich intensiv mit der Geschichte der Siebenbürger Sachsen zu befassen. Mit 17 habe ich ja nicht selbst entschieden, das Land zu verlassen, sondern meine Eltern haben das für meinen Bruder und mich getan. Sie haben das insofern gut gemacht, als wir in Deutschland beruflich sicher viel mehr erreichen konnten, als dies zu jener Zeit in Rumänien möglich gewesen wäre. Aber es war für uns als Flüchtlinge, Habenichtse, die keiner gerufen hatte, „Rucksackdeutsche“ und „Balkanfuzzis“ auch nicht ausschließlich angenehm, sich im neuen Land zu behaupten. Inzwischen habe ich feststellen dürfen, dass ich mich meiner Herkunft durchaus nicht schämen muss, sondern mich sehr identifizieren kann damit, Siebenbürger Sachse zu sein.

Damit steht das Tor zur Entdeckung Rumäniens als Land ganz offen. Ich habe in den letzten zehn Jahren viele Teile Rumäniens besucht und finde es faszinierend, unser Geburtsland neu kennenzulernen? Welche drei Wunschziele, außer Kirchenburgen, möchtest du in Rumänien noch kennenlernen?

Im vergangenen Jahr haben meine Frau und ich bereits eine kleinere Fahrt unternommen, und zwar sind wir nach einem alten Reisetagebuch meines Vaters vom Sankt-Annen-See, immer am Alt entlang bis nach Niklasmarkt / Gheorgheni, von dort bis zum Mördersee und durch die Bicazklamm gefahren. Mein Vater hatte diese Fahrt im Jahre 1949 gemacht, zu den einzelnen Stationen sind damals wunderschöne Aquarellbilder als Illustration entstanden. Diesen Ansichten haben wir nachgespürt. Natürlich wollen wir auch einmal Bukarest besuchen, Zeit am Schwarzen Meer verbringen, und das Donaudelta reizt uns ebenfalls. Aber wir wollen in allererster Linie so viele Kirchenburgen wie möglich in Siebenbürgen sehen und ablichten, das hat im Moment für uns Vorrang vor anderen Zielen. Diese Fahrten durch die weite und teils unvergleichlich urwüchsige Landschaft Siebenbürgens genießen wir sehr.

Unsere Kirchenburgen als Kulturerbe ermöglichten unser Kennenlernen. Ich bin im Schatten der Meschner Kirchenburg als Dorfjunge aufgewachsen. Wie kommt ein Städter dazu, diese doch sehr dörflichen Anlagen zu bewundern?

Was ich bewundere, ist der unabhängige Geist und der Freiheitsdrang unserer Vorfahren, die sich aus gesellschaftlichen Zwängen und Engpässen losgerissen haben und sich auf eine lange, beschwerliche Reise ins Ungewisse machten, um dort ganz von vorn anzufangen. Ohne Leibeigenschaft, ohne adlige Grundherren, ohne Polizei, aber auch ohne einen anderen Schutz als den, für den sie selbst sorgen mussten. Jede Kirchenburg ist somit eine Gemeinschaftsleistung eines Dorfes, wo es idealer Weise „basisdemokratisch“ zuging: alle wurden in die Pflichten der Gemeinschaft eingebunden, genossen aber – grundsätzlich - auch weitgehend Gleichberechtigung, zumindest ja auf dem Königsboden. Schon die Dorfanlagen mit den ehemals gleich großen Hufen sind geschichtliche Zeugen einer ursprünglich auf Recht und Glauben basierenden Sozietät. Im Unterschied zu Ritterburgen, die unter anderem möglichst repräsentativen Charakter hatten, sieht man an der Kirchenburg, dass sie der Dorfgemeinschaft gehörte und diente, vom gemeinsamen Gebrauch des Speckturms bis zum Fluchtort im Falle einer feindlichen Belagerung, mit Unterkünften für alle, Schulräumen und, wenn möglich, sogar Brunnen.

Die Aktivitäten unseres Vereins Kulturerbe Kirchenburgen e.V. spielten für deine Auseinandersetzungen mit dem Thema Kirchenburgen auch eine kleine Rolle. Wie wirkte sich dieses in deinen Aktivitäten aus?

Ich habe ja nicht sofort nach einem Projekt gesucht, das ich ganz alleine machen will, sondern habe mit verschiedenen Akteuren und Gruppen Kontakt aufgenommen, um auszuloten, wo man sich gegebenenfalls einbringen kann. An erster Stelle natürlich mit der „Stiftung Kirchenburgen“, wo wir angeregt haben, alle Kirchenburgen mit einem QR-Code vor Ort zu versehen, damit Besucher sich informieren können über die jeweilige Kirchenburg und ganz konkret, wo man z. B. den Schlüssel bekommen kann. Oft haben wir vor einem Zaun, einer verschlossenen Tür, gestanden und es gab kein Schild, das irgendwie weitergeholfen hätte. Wir hatten natürlich das kleine Büchlein der Stiftung mit den Hinweisen immer bei uns; aber auch das muss man erstmal wissen und es funktioniert nicht immer. Wir haben dann verstanden, dass die Stiftung Kirchenburgen mit ihrer Menge an anstehenden Aufgaben gegenwärtig andere Prioritäten setzt.

Bei einem eurer Online-Treffen, wo ich durch dich sehr anregende Vorträge hören durfte, hielt im März 2021 Stefan Sauer, Dozent an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt, einen für mich faszinierenden Vortrag zum Thema digital angereicherte Realität („augmented reality“). Die weitere Beschäftigung mit diesem Thema führte mich dann zu der 360°x180°-Panorama-Fotografie. Ich sah darin eine zeitgemäße Möglichkeit, die Kirchenburgen in Siebenbürgen mittels interaktiver Panoramen im Internet zu präsentieren. Erstens dient das Projekt dazu, den Jetzt-Zustand der Bauwerke zu dokumentieren. Zweitens ermöglicht es Interessierten, sich im Internet solche Kirchen von innen anzugucken. Das können sie von zu Hause aus tun, vielleicht, weil sie an einer bestimmten Kirche interessiert sind. Oder weil eine Reise nach Siebenbürgen gerade nicht möglich ist. Oder sie sehen sich diese interessanten Kirchenburgen an und bekommen richtig Lust, selber hinzufahren, was wiederum den Tourismus fördert und letztlich zum Erhalt dieses Kulturerbes beiträgt.

Es kann aber auch sein, dass sie gerade vor einer zugesperrten Kirche stehen, und nicht hineinkönnen. Da gibt es dann nämlich, drittens, Verlinkungen zu weiterführenden Informationen, aber natürlich auch zur Website der Stiftung Kirchenburgen, die immer den aktuellsten Stand hat, wo der Schlüssel ist. Und wenn das alles nicht weiterführt, dann können sie trotzdem auf ihrem Smartphone oder Tablet das Kircheninnere aufrufen und sich virtuell im Inneren der Kirche bewegen und diese besichtigen. Durch die Zoom-Funktion kann man Details manchmal sogar besser sehen, als mit dem bloßen Auge vor Ort.

Deine Internetseite kirchenburgen-siebenbuergen.de ermöglicht einen sehr authentischen virtuellen Kirchenburgenbesuch. Kannst du uns kurz beschreiben, was du schon umgesetzt hast? Gibt es eine Vision, was diese Seite in zwei Jahren bieten könnte?

Meine Frau und ich haben bislang ca. 32 Kirchen und Kirchenburgen mit der Panorama-Fotografie aufgenommen. Da ich fotografischer Laie bin, habe ich mich da erst einmal in dieses komplexe Thema einarbeiten müssen im Sinne eines Learning by Doing, ein Prozess, der andauert. Dass man einen zweiten Akku als Reserve für die Kamera mitführen sollte, bemerkt man zum Beispiel erst, wenn man an einem heißen Sommernachmittag in Michelsberg zu Fuß ganz oben auf der alten Burg angekommen ist. Aber auch für die Weiterverarbeitung der pro Panorama 80 Fotos zu einem räumlichen Eindruck und erst recht für den Transfer dieser Datenmengen auf die Website muss man mehrere verschiedene Software-Hürden überwinden. Während man sich unter Parallaxenausgleich und Nodalpunktadapter direkt noch etwas vorstellen kann, musste ich nun meinen Horizont um Begriffe wie hyperfokale Distanz, Bracketing, Stitching etc. erweitern. Die letzte Hürde, die Präsentation im Internet, konnte ich nur dank der Hilfe von Christian Ehrich, Leipzig, und vor allem Michael Roth (roth-dtp), Kirchweidach, überwinden, denen ich an dieser Stelle herzlich danken möchte. In dem Maße, in dem es gelingt, noch routinierter zu werden, wollen wir möglichst viele Kirchenburgen von innen aufnehmen. Ob wir das in zwei Jahren schaffen? Wir arbeiten dran!

Meine Hochachtung für deinen Siebenbürger Weg möchte ich an dieser Stelle ausdrücken und gleichzeitig die Hoffnung, dass möglichst viele Menschen, auch Nichtsiebenbürger, Interesse an unseren Kirchenburgen entwickeln. Welche Erfahrung hast du mit dieser Zielgruppe inzwischen schon gesammelt?

Meine Frau ist gebürtige Hamburgerin. Wir leben in Schleswig-Holstein. In sechs Jahren haben wir sieben verschiedene Reisegruppen nach Siebenbürgen eingeladen, die meisten haben von sich aus danach gedrängt zu gucken, was wir da machen und was das Besondere daran ist. Sogar französische Freunde sind schon gekommen und mit uns gereist. Bis jetzt waren alle begeistert und so viel wir wissen, werden noch mehr kommen und einige wieder.

Erstmal danke für deine offenen Worte und ich freu mich auf noch spannende Kirchenburgenmomente, hoffentlich auch in Siebenbürgen.

Schlagwörter: Thrull, Arzt, Hermannstadt, Heimat, Interview

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