10. Dezember 2022

Architekt und Stratege der rumäniendeutschen Literatur: In Berlin starb der Literaturkritiker und Übersetzer Gerhardt Csejka

Ein umsichtiger Architekt und visionärer Stratege der deutschen Literatur Rumäniens ist tot – ein Großer des mühevollen und bewegt-bewegenden deutschsprachigen Literaturrandes weilt nicht mehr unter uns. Der Literaturkritiker und -theoretiker, der Redakteur und Übersetzer Gerhardt Csejka hat über Jahrzehnte Maßstäbe gesetzt. Für mich bleibt er zuvorderst der Architekt und Stratege dessen, was wir im deutschsprachigen Literaturdiskurs Rumäniens über viele Jahre – oft verschwörerisch raunend, zunehmend selbstbewusst – rumäniendeutsche Literatur genannt haben.
Gerhardt Csejka bei einem Vortrag auf der Tagung ...
Gerhardt Csejka bei einem Vortrag auf der Tagung des Arbeitskreises für Siebenbürgische Landeskunde in Hamburg im September 1989 („Die siebenbürgisch-deutsche Literatur als Beispiel einer Regionalliteratur“). Foto: Konrad Klein
Den Grundstein für das überzeugende und hochwirksame Narrativ der kleinen deutschen Literatur an der Peripherie Europas hatte er 1973 mit seinem Essay „Bedingtheiten der rumäniendeutschen Literatur: Versuch einer soziologisch-historischen Deutung“ gelegt (Neue Literatur, Heft 8/1973). Als sein Architekt hat er dieses Narrativ beharrlich und mit der Besessenheit dessen, der weiß, dass er ein unumstößliches Axiom in die Welt gesetzt hat, über viele Jahre verfolgt, ausgebaut und differenziert. Seither sprachen wir unter Freunden und in den Kreisen der Literaturkenner verknappt von den „Bedingtheiten“. Und auch jenseits der Grenzen verfügte man endlich über ein scharfes Sezierinstrument. Es war eine klare Begrifflichkeit, eine operativ erfolgreich einsetzbare Kategorisierung, eine theoretische Differenzierungs- und Präzisierungsleistung der Extraklasse. Wir Literaten, die wir in zunehmendem Maße mit Verortungsschwierigkeiten rangen, hatten nun unseren literaturtheoretischen und -geschichtlichen Anker, wir hatten endlich einen wuchtigen Grundstein für unser Selbstverständnis: Wir hatten Gerhardt Csejkas „Bedingtheiten“, aus denen alles Weitere, für die Anliegen junger, unverbrauchter Literatur Wesentliche abgeleitet werden konnte.

Als visionärer Stratege der rumäniendeutschen Literatur setzte er die Bukarester Zeitschrift Neue Literatur ein – ganz wie ein zielstrebiger Verleger sein eigenes Blatt. Mit Beharrlichkeit und Geschick löste er die junge deutsche Literatur Rumäniens von ideologischen Fesseln. Sein Programm war Modernisierung und Weltläufigkeit, Herauslösung aus der Provinzialität und Zeitlosigkeit. Und Förderung – wieder und wieder Entdeckung und Förderung von Werten. Kleine wie große Namen der rumäniendeutschen Literatur verdanken Gerhard Csejka sehr viel. Er agierte in allem mit fast traumwandlerischer Selbstverständlichkeit – auch unter Gefährdung und strenger Beobachtung durch die Macht, wie seine Securitate-Akte bezeugt und seine kurzzeitige Verhaftung 1975. Denn er war zusammen mit einer Handvoll Gleichgesinnter bei einer Zeitung (Bernd Kolf), an einem Germanistiklehrstuhl (Peter Motzan) und in einem Verlag (Franz Hodjak) einer der wenigen, die ein sicheres Gespür für international gültige Werte jenseits geopolitischer Grenzen hatten und jede einengend-rückständige Provinzialität ablehnten und bekämpften.

Nach seiner Umsiedlung nach Deutschland hat er die Neue Literatur zwischen 1992 und 1999 in einer neuen Folge in Frankfurt und Bukarest als Literaturzeitschrift des Ost-West-Transits und -Dialogs herausgegeben. Auch diesmal betrieb er sein schwieriges Geschäft mit der Leidenschaft, ja dem Furor dessen, der durch kulturellen Transfer gegen Provinzialität kämpft, der der tödlichen Erstarrung die lebendige Dynamik der Vielfalt entgegensetzt, der die Welt der Literatur stets als globale Welt begriffen hat, in der auch die reiche Peripherie deutliche Werte anzubieten hat und wahrgenommen werden muss.
Germanisten unter sich: Edith Konradt, Georg ...
Germanisten unter sich: Edith Konradt, Georg Aescht und Gerhardt Csejka (v.l.) auf der Tagung des Arbeitskreises für Siebenbürgische Landeskunde in Hamburg im September 1989. Foto: Konrad Klein
Im Herbst seines Lebens hat er sich mehr und mehr Übersetzungen aus der rumänischen Literatur gewidmet. Auch in dieser stillen literarischen Disziplin – wer redet schon von Übersetzern? – war er ein Meister. Auch hier paarten sich Können mit Leidenschaft, Umsicht mit Sorgfalt, Wissen mit Erfahrung und Beharrlichkeit. Vor allem war er wie im Leben so auch in der Sprache „zweiheimisch“: sicher, zuhause und gewandt im Deutschen – meisterlich im Umgang und bemerkenswert affin mit dem Rumänischen. Durch die unvergleichliche Übersetzerleistung Gerhardt Csejkas ist beispielsweise dem bedeutenden rumänischen Gegenwartsautor Mircea Cărtărescu der Durchbruch im deutschsprachigen Raum spektakulär gelungen. Dafür wurde Csejka mit dem renommierten Übersetzerpreis der Kunststiftung des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen ausgezeichnet.

Gerhardt Csejka ist am 25. November dieses Jahres im Alter von 77 Jahren in Berlin verstorben. Eine Ära neigt sich ihrem Ende zu. Passend empfinde ich für ihn das sehr herzliche Abschiedswort aus der anderen Sprache, der er verhaftet war und die einige von uns auch heute noch als Bereicherung empfinden: Fie-i ţărîna uşoară!

Walter Fromm

Elegischer Nachgang

Als Walter Fromm sich Mitte Juni 1980 auf der Hohen Rinne bei Hermannstadt von den Literatenfreunden, die ihm am nächsten standen, verabschiedete, war Gerhardt Csejka, damals fünfunddreißigjährig, – nebst Richard Wagner, Rolf und Gudrun Bossert sowie mir (Franz Hodjak, Peter Motzan und Werner Söllner konnten aus persönlichen Gründen nicht dabei sein) – mit von der Partie, eine Party wurde nicht daraus. Es waren fünf Jahre vergangen seit Gerhardts Festnahme zusammen mit Mitgliedern der „Aktionsgruppe Banat“, fünf weitere sollten vergehen, bis er Rumänien, in dem der Geheimdienst seine „Umtriebe“ argwöhnisch überwachte, ihn bespitzelte und drangsalierte (wie seine umfangreiche Opferakte zeigt), endgültig verließ.

Aber nicht den Rücken kehrte: Einen kompetenteren Vermittler einiger der unbestritten originellsten Romane und Gedichtbände konnte die rumänische Literaturszene nicht finden. Er genießt daher ein ungebrochen hohes Ansehen und die Freundschaft zahlreicher ihrer Vertreter, bis zu diesem Tage, und wohl darüber hinaus.

Entscheidend hat er als Redakteur der Neuen Literatur – zusammen mit Paul Schuster, Dieter Schlesak, Annemone Latzina und Helga Reiter – deren Ausrichtung mitbestimmt, durch richtungsweisende Aufsätze und Essays Wegmarken gesetzt, deren Weltoffenheit und emanzipatorische Ansätze in bleierner Zeit richtiggehend auffallen; diese Merkmale aber kennzeichnen auch die neue Reihe dieser Zeitschrift, die er von 1992-1999 zusammen mit Gudrun Bossert, der Witwe Rolf Bosserts, in Deutschland betreut und herausgegeben hat.
Als Übersetzer auch sprachlich „zweiheimisch“: ...
Als Übersetzer auch sprachlich „zweiheimisch“: Gerhardt Csejka (r.) mit Mircea Dinescu (l.) und dessen Übersetzer Werner Söllner (M.) bei einer Lesung des bekannten rumänischen Autors und Dissidenten in München („Der Tod liest Zeitung“), in dessen Werk Csejka einführte. (30. März 1990). Foto: Konrad Klein
Seine Wohnung gegenüber vom Bukarester Nordbahnhof bot dem Wartenden Asyl, war eine Oase rauchgeschwängerter Mitteilsamkeit; abgewiesen wurde keiner aus der „Minderheit“. Gerhardts Wahlspruch, ließ er mehr als einmal wie nebenbei fallen, klang so: „Bei uns kommen allerlei Minderheiten zusammen: Rumänen, Juden, Ungarn, Deutsche – und andere. Das Motto also lautet: „liberté – égalité – minorité“ (im Übrigen auch ein Schwerpunkt der späteren Ausgabe der Neuen Literatur und der Titel eines seiner Aufsätze).

Gerhardt Csejka war kein Vielschreiber, dafür aber eine einzigartige Stimme, unverkennbar in ihrer funkelnden Klugheit und bestechenden Klarheit. Die unangepasste und avantgardistische rumäniendeutsche Literatur hat hauptsächlich ihm in schwierigen Zeiten ein verlässliches Forum zu verdanken. Aus voller Überzeugung muss ich geradezu behaupten: Ich hätte mir einen weniger betroffenen Nachgang und unbefangeneren Rückblick gewünscht als diesen elegischen.

Hellmut Seiler

Schlagwörter: Kultur, Nachruf, rumäniendeutsche Literatur, Banater

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  • 01.02.2023, 20:34 Uhr von Jacobi: Ein feiner Nachruf auf einen feinen Literaten Peter Jacobi [weiter]

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