13. April 2023

Ein dem Buch der Wörter gewidmetes Leben: Hermannstädter Sprachwissenschaftlerin Dr. Sigrid Haldenwang wurde 80

Dr. Sigrid Haldenwang ist Teil einer Institutsgeschichte. Ihrem Fleiß, Einsatz und Pflichtbewusstsein, ihrer Disziplin, Entschlossenheit und Zuverlässigkeit hat das Forschungsinstitut für Geisteswissenschaften in Hermannstadt viel zu verdanken. Sigrid Haldenwang widmete sich nämlich einer edlen und lebensfüllenden Aufgabe, ein wertvolles Kulturgut zu erschließen und der Nachwelt zu erhalten. Am 15. März feierte sie ihren 80. Geburtstag.
Dr. Sigrid Haldenwang. Foto: Mariana Vlad ...
Dr. Sigrid Haldenwang. Foto: Mariana Vlad
Seit 1956 ist an der Stätte ihres Wirkens, einer Außenstelle der Rumänischen Akademie, ein lexikografisches Großprojekt angesiedelt, das Dr. Sigrid Haldenwang über ein halbes Jahrhundert hinaus umsichtig begleitet hat: das Siebenbürgisch-Sächsische Wörterbuch (SSWB). Dr. Sigrid Haldenwang ist seit 1971 an der 1956 eingerichteten Wörterbuchstelle tätig, deren Leitung sie 1986 übernahm. Unter ihrer Mitwirkung entstanden ab 1975 sieben Wörterbuchbände [Bd. 5 (K) 1975, Bd. 6 (L) 1993, Bd. 7 (M) 1998, Bd. 8 (N-P) 2002, Bd. 9 (Q–R) 2006, Bd. 10 (S-Sche) 2014, Bd. 11 (Schentzel-Schnapp) 2020], die im Verlag der Rumänischen Akademie in Bukarest, Walter de Gruyter & Co. und ab 1993 auch im Verlag Böhlau veröffentlicht wurden. In Anerkennung ihrer Verdienste erhielt Sigrid Haldenwang 1995 den Timotei Cipariu-Preis der Rumänischen Akademie und 2000 den Hans-Christian und Beatrix Habermann-Preis für Wissenschaft und Forschung, der von der Siebenbürgisch-Sächsischen Stiftung vergeben wird.

Von den hundert Jahren Wörterbuchgeschichte, Band (A-C) erschien 1924 im Karl Trübner Verlag in Straßburg, ist also Sigrid Haldenwang über ein halbes Jahrhundert lang dabei gewesen und hat darin auch ihre Lebensaufgabe gefunden. Dafür gebührt Sigrid Haldenwang Respekt und uneingeschränkte Schätzung. Für ihre langjährige Wörterbucharbeit und ihren verdienstvollen Beitrag um den Erhalt der siebenbürgisch-sächsischen Kultur wurde Sigrid Haldenwang mit dem Siebenbürgisch-Sächsischen Kulturpreis 2021 geehrt.

Die Ausarbeitung und Fertigstellung des SSWB, ein Gemeinschaftswerk mehrerer Generationen von Gewährspersonen und Forschern, das wohlwollende Aufnahme gefunden hat, ist ein Hauptanliegen dieser Einrichtung, die sich der Erkundung der Geschichte und Kultur der deutschen Minderheit widmet. Da das SSWB einen im Untergang begriffenen Dialekt erfasst, ist das Werk eine Fundgrube für Sprachjuwelen eines fast ausgestorbenen deutschen Siedlungsgebiets und für viele Adressatengruppen ein Lese- und Nachschlagebuch zugleich.

Das Wörterbuch belegt den allgemeinen Wortschatz des bäuerlichen Lebens von rund 240 Ortschaften und damit die Lebensart der Siebenbürger Sachsen. Da das Siebenbürgisch-Sächsische als Kolonistenmundart auch ältere Sprachformen bewahrt, erfasst das SSWB altes dialektales, lateinisches und fremdes Wortgut, wobei die ab dem 13. Jahrhundert eingebrachten Urkundenbelege – über den Einfluss der Mundart hinaus – die Eigenständigkeit der Schriftsprache in Siebenbürgen bezeugen, wodurch das SSWB für die Mundartforschung und Sprachgeschichte wertvoll ist.

Dr. Sigrid Haldenwang bei ihrer Dankesrede in ...
Dr. Sigrid Haldenwang bei ihrer Dankesrede in Dinkelsbühl nach der Verleihung des Siebenbürgisch-Sächsischen Kulturpreises im Juni 2022. Foto: Konrad Klein
Angesichts des Dialektabbaus und der Überalterung der Mundartsprecher ist die Sicherung siebenbürgisch-sächsischer Dialekte und der Abschluss des SSWB eine dringende Aufgabe der Dialektforschung und Speziallexikografie. Allerdings gefährden das Schwinden kompetenter Dialektsprecher und der Fachkräftemangel die Beendigung dieses einzigartigen Nachschlagewerks von ethnografischem und kulturgeschichtlichem Wert. Das im Laufe von etwa hundert Jahren von Sammlern und Forschern zusammengetragene Wortschatzarchiv umfasst heute etwa eine Million Zettel.

Nach der Auswanderung aller Mitarbeiter blieb Sigrid Haldenwang dem SSWB weiterhin treu und fördert weiterhin Verschollenes und Vergessenes zutage – auch nachdem sie 2016 in den Ruhestand verabschiedet wurde. Seit zehn Jahren ist Sigrid Haldenwang nicht nur der Kopf, sondern auch die Seele des SSWB und führt das Nachschlagewerk alleine ehrenamtlich weiter. Als wissenschaftliche Hauptforscherin kann sie über das Rentenalter hinaus an der Wörterbuchstelle noch aktiv sein. Der jüngste Band 11 (Schentzel-Schnapp) wurde vollständig von ihr bearbeitet und erschien 2020.

Gewiss ist das SSWB nicht nur ein lebendiges Zeugnis einer historischen Sprachgemeinschaft, sondern auch ein Zeugnis menschlicher Verbundenheit über Grenzen und Zeiten hinaus. Ehemalige Mitarbeiter haben als Ruheständler oder nach ihrer Ausreise ehrenamtlich an der Fertigstellung der Bände mitgewirkt, u. a. Anneliese Thudt (1927-2018), Dr. Helmut Protze (1927-2015), Dr. Grete Klaster-Ungureanu (1927-2015), Gisela Richter (1931-1998). In den letzten Jahren haben Malwine Dengel und Prof. em. h.c. Dr. Dr. h.c. Stefan Sienerth die Gegenlesung der Manuskripte übernommen.

Dr. Sigrid Haldenwang bei ihrem Vortrag über den ...
Dr. Sigrid Haldenwang bei ihrem Vortrag über den Wortschatz der siebenbürgisch-sächsischen Mundarten aus historischer Sicht auf dem Heimattag in Dinkelsbühl 2022. Foto: Konrad Klein
Als Mundartforscherin und Lexikografin verschaffte Dr. Sigrid Haldenwang der siebenbürgisch-sächsischen Dialektforschung und dem Institut einen soliden Ruf. Sigrid Haldenwang hat bereits früh Mundartforschung betrieben und sich mit den Mundarten aus der Umgebung ihres Heimatortes Hermannstadt beschäftigt, zunächst unter der Betreuung der beliebten Hochschullehrerin Dr. Grete Klaster-Ungureanu (1927-2015). Als ihr die geschätzte Sprachforscherin und Lexikografin Dr. Grete Klaster-Ungureanu vorschlug, unter ihrer Anleitung die Diplomarbeit („Die Syntax der Landlermundart von Großpold“) zu verfassen, zögerte Sigrid Haldenwang nicht. Nach dem Studium an der Universität Bukarest (1961-1966) und einer kurzen Tätigkeit als Deutschlehrerin in den Ortschaften Gierelsau und Großpold in der Nähe von Hermannstadt wechselte Sigrid Haldenwang Anfang der 1970er Jahre zur Wörterbuchstelle am Hermannstädter Forschungsinstitut, wo sie mit der aufwendigen Wörterbucharbeit vertraut gemacht wurde. Ihre unter der Betreuung von Prof. Dr. Speranţa Stănescu (1948–2013) verfasste Dissertation erschien 1999 unter dem Titel „Die Wortbildung des Adjektivs in der siebenbürgisch-sächsischen Mundart aufgrund der Mundartbelege vom Ende des 19. bis in die Achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts“ im Hermannstädter hora-Verlag. Ein Jahr darauf wurde sie zur wissenschaftlichen Hauptforscherin am Forschungsinstitut befördert, wo sie ab 1990 und bis zu ihrer Verrentung 2016 auch Mitglied des wissenschaftlichen Beirats war.

Ihre Forschungsarbeiten zur Mundartforschung, Dialektgeografie, Sprachgeschichte, Etymologie, Wortbildung, Namenforschung oder Volkskunde sind in Fachzeitschriften, Tagungs- und Sammelbänden erschienen. Die Zahl ihrer Veröffentlichungen ist beträchtlich und umfasst Rezensionen, Aufsätze und kulturgeschichtliche Beiträge. Sigrid Haldenwang gehört zu den geschätzten Stammgästen der Tagungsreihe der Hermannstädter Germanistik und ist auch eine langjährige Mitarbeiterin der Lehrstuhlpublikation Germanistische Beiträge, wo sie ab Heft 3 (1995) regelmäßig mit Beiträgen vertreten ist (vgl. hierzu u.a. die Hefte 5/1996, 11/1999, 15-16/2001, 27/2010, 30/2012, 38/2016, 40/2017, 44/2019, 48/2022). Dabei geht Sigrid Haldenwang besonders ausführlich auf das im Neuhochdeutschen fehlende oder daraus verschwundene Wortgut ein, das jedoch in der Mundart weiterlebt. Ihr Interesse gilt aber auch Wörtern, die das Siebenbürgisch-Sächsische mit anderen Mundarten des deutschen Sprachraums gemeinsam hat, sowie Begriffen oder Einrichtungen, die im binnendeutschen Sprachraum nicht belegt sind, oder die in der Mundart mit einem Bedeutungswandel verbunden sind.

Sigrid Haldenwang hat in den fünf Jahrzehnten ihrer „Wortklauberei“ (Hannelore Baier, „Auch Sprachen haben Denkmäler. Das Siebenbürgisch-Sächsische Wörterbuch, sein Werden und seine Bedeutung“. In: Allgemeine Deutsche Zeitung für Rumänien, 30. Juni 2013, S. 6) Redensarten und bildliche Vergleiche, Sprichwörter und Zaubersprüche, Ortsneckereien und Schmähsprüche, Ethnorealia und Sachmodernismen, Pflanzen-, Flur-, und Ortsnamen, Familiennamen, Vogel-, Tier- und Insektenbezeichnungen, Sitten und Brauchtum sowie Wortschöpfungen, Komposita und Konkurrenzformen, Lehneinflüsse aus den Nachbarsprachen Rumänisch und Ungarisch detailgenau untersucht und mit Beispielen aus unterschiedlichen Ortsmundarten die Besonderheiten des dialektalen Wortschatzes beleuchtet und die Vielfalt der Ortsmundarten aufgezeigt. In diversen Zeitschriften und in Vorträgen hat Dr. Haldenwang Entstehungsbedingungen, wissenschaftlicher Hintergrund, Fragen der Wörterbucharbeit und der Zusammenstellung der Materialgrundlage erläutert. Erläuterungen zur Herkunft und Bedeutung siebenbürgisch-sächsischer Ausdrücke, Sprüche, Bräuche und Bauernregeln hat Sigrid Haldenwang ab Mitte der 2000er-Jahre auch in der Mundartecke „Im Jahreslauf“ der Hermannstädter Zeitung (HZ) und in der ADZ eingebracht.

Sigrid Haldenwang war Mitglied mehrerer Fachverbände und über Jahre Redaktionssektretärin der ältesten Publikation des Forschungsinstituts, Forschungen zur Volks- und Landeskunde, die unter der Schirmherrschaft der Rumänischen Akademie ab 1959 erscheint, sowie Mitglied im Redaktionskomitee weiterer institutsinterner Publikationen.

Als eingeladener Gast auf Arbeitstreffen der Akademie-Wörterbücher, Kongressen und Tagungen zur Regionalsprachenforschung, Dialektologie oder Sonderlexikografie in Deutschland, Österreich oder Ungarn und auch bei Kulturveranstaltungen hat Sigrid Haldenwang dem Publikum Einblicke in die langjährige und aufwendige Wörterbucharbeit und in ausgewählte „Kabinettstückchen“, wie die Jubilarin die Belege aus ihrer siebenbürgisch-sächsischen Schatzkammer liebevoll nennt, gewährt und damit die historisch bedeutsame deutsche Sprachinsel Siebenbürgen einem Fach- und Laienpublikum nähergebracht. Als Gastgeberin und Leiterin der deutschsprachigen Sondersektion innerhalb der Jahrestagung des Instituts hat Dr. Haldenwang die Fachgemeinschaft über den Fortschritt des Wörterbuchs informiert und einen treuen Stamm an Tagungsgästen anwerben können.

Zu ihrem Ehrentag würdigen Freunde der Mundartkunde und treue Wegbegleiter die Verdienste einer Jubilarin, die durch ihre reiche wissenschaftliche Tätigkeit einer sprachhistorisch wichtigen Sprachinsel des Deutschen und der Stätte ihres Wirkens Beachtung und Anerkennung eingebracht haben. Sprachen haben nicht nur Denkmäler, sondern auch Schutzengel. Dr. Sigrid Haldenwang gebührt zu ihrem runden Geburtstag Respekt für ihre lexikografische Leistung und Dank für die bewundernswerte Schaffenskraft und Beharrlichkeit mit der sie ein halbes Jahrhundert lang am Buch der „Wörter“ und darüber hinaus gewirkt hat. Mögen es noch viele segensreiche Jahre werden.

Doris Sava (Hermannstädter Zeitung)

Unsere Redaktion schließt sich den guten Wünschen herzlich an.

Artikel in der Hermannstädter Zeitung lesen

Schlagwörter: Porträt, Linguistin, Haldenwang

Bewerten:

39 Bewertungen: o

Noch keine Kommmentare zum Artikel.

Zum Kommentieren loggen Sie sich bitte in dem LogIn-Feld oben ein oder registrieren Sie sich. Die Kommentarfunktion ist nur für registrierte Premiumbenutzer (Verbandsmitglieder) freigeschaltet.