16. August 2008

Dr. Martin Armgart: Geschichte lebendig werden lassen

An der Heidelberger Akademie der Wissenschaften erschließt Dr. Martin Armgart siebenbürgische Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts. Dank umfangreicher Förderung durch den Bundesbeauftragten für Medien und Kultur starten vorzeitig die Arbeiten am Band „Kirchenordnungen der Siebenbürger Sachsen“ der Reihe „Die Evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts“. Bald werden diese außergewöhnlichen Quellen zur Alltagsgeschichte Siebenbürgens nun der Öffentlichkeit als Buch vorgelegt.
Seit April 2008 ist Dr. Martin Armgart Mitarbeiter der Forschungsstelle „Evangelische Kir­chen­ordnungen des XVI. Jahrhunderts“ der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Er studierte Geschichte und Germanistik in Bochum und arbeitete am Landesarchiv Speyer sowie in Karlsruhe und München an der Erschließung mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Archivbe­stände, bevor er an die Heidelberger Akademie wechselte. Deren Pressereferent Dr. Johannes Schnurr befragte den 47-jährigen Historiker über seine siebenbürgische Forschungsarbeit.

Sie arbeiten am Forschungsprojekt „Evangeli­sche Kirchenordnungen“ der Heidelberger Aka­demie der Wissenschaften. Was sind Kirchenord­nungen eigentlich?

Regionale Rechtstexte für das gesamte Umfeld von „Kirche“. Die zentralen Regelungen des römischen Kirchenrechtes galten nach der Reformation nicht mehr in den evangelischen Gebieten. Rechtsunsicherheiten kamen auf. Die jeweiligen Obrigkeiten reagierten mit eigenen Verordnungen, die zusammenfassend als „Evan­gelische Kirchenordnungen“ bezeichnet werden. Von besonderem Interesse sind die ältes­ten, reformationszeitlichen Ordnungen. Sie im gesamten deutschen Sprachraum zu sammeln und in einer wissenschaftlichen Reihe abzudru­cken – das war vor über 100 Jahren die Idee des Rechtsprofessors Emil Sehling. Die ehren- und nebenamtlichen Arbeiten gerieten mehrfach ins Stocken, bis 2002 die Heidelberger Akademie der Wissenschaften eine Forschungsstelle „Evan­gelische Kirchenord­nungen des XVI. Jahrhun­derts“ einrichtete. Dort arbeiten jetzt mehrere Wissenschaftler hauptberuflich an Abdruck und Kommentierung dieser Rechtstexte. Mittlerweile erscheint fast jährlich ein umfangreicher Band.

Der Historiker Dr. Martin Armgart erarbeitet ...
Der Historiker Dr. Martin Armgart erarbeitet derzeit den Siebenbürgen-Band „Evangelische Kirchenordnungen“. Er enthält wichtige und bislang unbekannte Dokumente zur Geschich­te Siebenbürgens. Foto: Schnurr
Welche Lebensbereiche im Alltag der Men­schen des 16. Jahrhunderts wurden durch die Kirchenordnungen neu geregelt?

Im Prinzip das gesamte gesellschaftliche Leben: vom Taufgottesdienst und Gültigkeit von Nottaufen über Schule, Ehe (Wer darf wen heiraten? Kann eine Ehe geschieden werden?), Disziplinarfragen (Kirchenversäumnis, Gottes­dienststörung), Feiertage und Armenfürsorge bis zur Beerdigung. Es sind ungemein wichtige Quellen für das Alltagsleben, für die Sozial-, Rechts- und Verfassungsgeschichte des betreffenden Landes. Bezeichnend finde ich den Titel einer 2006 unter Mitwirkung der Heidelberger Forschungsstelle erstellten Ausstellung „Kirche ordnen. Welt gestalten. Von der reformatorischen Kirchenordnung zur europäischen Ver­fas­sung“.

Weshalb gab es auch in Siebenbürgen eigene Kirchenordnungen?

Jede Obrigkeit, jede evangelische Landeskir­che schuf eigene Ordnungen. In Sieben­bür­gen entwickelte sich dieses komplizierter als im „Reich“. Fürst und Landtag steckten lediglich den großen Rahmen ab, insbesondere mit den Toleranzbeschlüssen. Bei der lutherischen Kir­che, die sich bekanntlich bei den Deutschen aus­bildete, wirkte deren weltliche Vertretung, die Nationsuniversität der Siebenbürger Sachsen, ebenso kirchenordnend mit wie Versammlun­gen von Geistlichen. Mitunter gab es gemeinsame Texte. In anderen Fällen erfolgte eine nachträgliche Bestätigung. So erklärte 1550 ein Beschluss der Nationsuniversität die von Geistlichen ausgearbeitete große „Kirchen­ordnung aller Deut­schen in Siebenbürgen“ von 1547 zur verbindlichen Ordnung für das sächsische Gebiet.

Welche Bedeutung haben Kirchenordnungen für die Geschichte Siebenbürgens? Sind sie nicht nur eine Sache für wenige Spezialisten?

Ganz und gar nicht. So stieß ich beim Blättern im Lehrbuch für die Schulen mit deutscher Unter­richtssprache auf eine Abbildung der Kir­chenordnung von 1547. Das Honterus-Denkmal zeigt den ersten „kirchenordnenden“ Text des Landes, das „Reformationsbüchlein“ von 1543. Diese beiden und über 60 weitere Texte werden im Buch nachzulesen sein – eine denkbar reichhaltige Materialgrundlage für verschiedenste Fragestellungen zur siebenbürgischen Ge­schich­te dieser wichtigen landesgeschichtlichen Epoche Reformationszeit.

Titelblatt der ersten, alle Deutschen in ...
Titelblatt der ersten, alle Deutschen in Sie­benbürgen betreffenden Kirchenordnung aus dem Jahre 1547. Sie wurde zur Grundlage der späteren evangelischen Kirche A.B. in Sieben­bürgen. Foto: Thomas Șindilariu
Wie darf man sich die Arbeit eines Forschers wie Ihnen vorstellen?

Grundlage ist ein Text anhand von Photos der alten Drucke bzw. Handschriften. Diese liegen verstreut in verschiedenen kirchlichen und staatlichen Archiven und Bibliotheken. Ich vergleiche verschiedene Fassungen auf Varianten, suche eventuelle Vorlagen, gebe Sacherläute­rungen und verfasse jeweils einen eingehenden Einleitungstext unter Sichtung der gesamten Literatur. Nur gut, dass es die Siebenbürgische Bibliothek in Gundelsheim gibt. Sie besitzt mitunter als einzige deutsche Bibliothek ein in Siebenbürgen oder Ungarn erschienenes Buch – und liegt auch noch nahe bei Heidelberg.

Wer hat diese wissenschaftliche Arbeit besonders gefördert?

Die Arbeit am Siebenbürgen-Band wurde überhaupt erst möglich durch erhebliche För­de­rung seitens des Bundesbeauftragten für Kultur und Medien. Er trägt den größten Teil der Per­sonal- und Sachkosten. In der ersten Planung des 2002 begonnenen Akademieprojektes war Siebenbürgen nicht vorgesehen. Eine externe Kommission regte die Einbeziehung an. Die beiden damaligen Mitarbeiter ermittelten, unter an­derem durch eine Archivreise nach Siebenbür­gen, dass reichlich Quellen vorliegen. Siebenbür­gen wurde in die Planungen aufgenommen, zunächst als Band 24 am Schluss der Reihe. Dank der Bundesmittel können die Arbeiten jetzt schon starten – wo die For­schungsmöglichkeiten günstig sind und allgemeines Interesse an Sie­benbürgen groß ist. Zahlreiche Hilfen gaben der Arbeitskreis für Siebenbürgische Landeskunde und das Sie­benbürgen-Institut. Besonders nennen möchte ich hier Ulrich Wien und Harald Roth. Und ganz besonderer Dank gebührt Tho­mas Șindilariu, dem Kronstädter Kirchenarchi­var. Seinen eingehenden Kenntnissen der siebenbürgischen Archivlandschaft, seiner Unter­stützung vor Ort verdanke ich ganz wesentlich die große „Ausbeute“ insbesondere aus dem Hermannstädter Staatsarchiv.

Wie sieht denn die Arbeit im Archiv aus?

Ein Archiv besteht aus einzelnen Beständen, z.B. den Archivalien eines kirchlichen Kapitels (in heutiger Sprache: einem Kirchenbezirk). Sie sind in Findbüchern verzeichnet, die ich durchsehe und einzelne Archivalien zur näheren Durchsicht in den Lesesaal bringen lasse. Leider sind die Findbuch-Angaben öfters sehr unscharf. So verbarg sich unter „Acte … anni 1224-1875“ im Bestand Reener Kapitel ein ganzer Karton unverzeichneter Originale und Ab­schriften. Obenauf lag eine großformatige Pergamenturkunde mit Siegel und Unterschrift des Fürsten Sigismund Bathory: Die Bestätigung der 20 Artikel umfassenden Statuten der Nachbar­kapitel Tekendorf und Schogen. Als wesentliche Erleichterung können seit kurzem die alten Dokumente mit der eigenen Digitalkamera photographiert werden. Sie ist neben dem Laptop wichtigstes Arbeitsgerät.

Welche Zeitpläne haben Sie für Ihre Publi­kation?

Im April fing ich an. Im Juni machte ich eine Archivreise nach Siebenbürgen. Bis zum Jah­res­ende erarbeite ich einen ersten Teil vom „Reformationsbüchlein“ von 1543 bis 1572, als die Confessio Augustana für das Sachsenland verbindlich wurde. Andere Bände der Reihe enden mit Beginn des Dreißigjährigen Krieges 1618. Ähnliches ist für die Kirchenordnungen der Siebenbürger Sachsen vorgesehen: als Abschluss eine Kirchenordnung von 1616 („Sta­tuta der geistlichen und weltlichen Universität in Bezug auf die Copulation, Disziplin, Kirchen­güter und Taufe“). Dieser zweite Teil, bis 1616, soll im Laufe des Jahres 2009 erfolgen.

In welchem Zusammenhang steht Ihr Band mit der gesamten Reihe?

Die Forschungsstelle besitzt das größte Know-how für diese Rechtstexte im Allgemeinen und hat bewährte Richtlinien entwickelt. Die Kir­chenordnungen der Siebenbürger Sachsen werden in einer renommierten wissenschaftlichen Reihe erscheinen, die in vielen Bibliotheken einsehbar ist. Dort wird sie auch der am regionalen Vergleich interessierte Forscher zuerst suchen und parallele Texte nachschlagen. Zum Beispiel: die 1547 in Kronstadt bei Honterus gedruckte „Agenda für die Seelsorger und Kirchendiener in Sybembürgen“ und ihre Vorlage, die Leip­ziger Agende von 1540, die im ersten Band der Reihe zu finden ist.

Was verbindet Sie persönlich mit Sieben­bür­gen?

Viele persönliche Kontakte seit der Studenten­zeit, als ich zu den „Siebenbürgischen Ferien­akademien“ kam. Ich wurde Mitglied bei Stu­dium Transylvanicum und beim Arbeitskreis für Siebenbürgische Landeskunde und reiste mehrfach durchs Land, erstmals (besonders nachwirkend) im Sommer 1990. Daher freue ich mich ganz besonders, jetzt Grundlagenfor­schung für eine wichtige Epoche der siebenbürgischen Geschichte leisten zu können.

Herr Dr. Armgart, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Die Heidelberger Akademie der Wissen­schaften. ...
Die Heidelberger Akademie der Wissen­schaften.

Die Heidelberger Akademie

Die Heidelberger Akademie der Wissen­schaften., 1909 wiedergegründet, ist die Lan­desakademie Baden-Württembergs und eine der acht deutschen Akademien der Wissen­schaften. Als außeruniversitäre Forschungs­einrichtung verantwortet sie derzeit 21 For­schungsvorhaben mit 240 Mitarbeitern. Die rund 180 gewählten Mitglieder der Heidel­berger Akademie treffen sich regelmäßig zum fächerübergreifenden Gespräch, die Akade­mie veranstaltet wissenschaftliche Tagungen sowie öffentliche Vortragsreihen. Mit der 2002 erfolgten Einrichtung eines Nach­wuchskollegs (WIN-Kolleg), der Ausrichtung der „Akademiekonferenzen für junge Wis­senschaftler“ sowie durch die Ver­gabe von Forschungspreisen fördert sie jüngere Expo­nenten der Wissenschaft.

Schlagwörter: Wissenschaft, Geschichte, Urkundenbuch

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