2. Juli 2012

Bleiben oder gehen? Fluchtgeschichten

In seiner Reihe „edition DAH“ veröffentlicht das Deutsche Auswandererhaus Bremerhaven (DAH) seit 2005 in loser Folge Publikationen zu Forschungsfeldern des Museums. Der Band „Fluchtgeschichten. Aus und nach Deutschland. Biographien und Hintergründe 1933-2011“ ist die jüngste Veröffentlichung und präsentiert die Ergebnisse eines dreijährigen Forschungsprojekts. Im Mittelpunkt stand die Frage: Wie prägt die Erfahrung einer Flucht den zukünftigen Lebensweg? Durch Interviews, umfangreiche Recherchen zum heutigen internationalen Flüchtlingsgeschehen sowie Rückblicke in die Geschichte gibt das Buch objektive, aber vor allem sehr persönliche Antworten.
Sieben Menschen aus sechs Ländern erzählen von ihrer Flucht nach Deutschland, Männer und Frauen aus dem Iran, der Türkei, Sri Lanka, Kamerun, Togo und Dagestan. Jede Geschichte ist in drei Teile (Leben im Heimatland, Flucht, Leben in Deutschland) gegliedert und wird von einer Zusammenfassung in der jeweiligen Landessprache begleitet. Auf diese Weise kann man das Schriftbild von Kurdisch, Farsi oder gar Tamil kennenlernen, was nicht nur für Sprachbegeisterte interessant ist, sondern auch ein genialer Schachzug des Layouters. Eine maximal zwei Seiten lange Abhandlung über die politische Situation des Landes, aus dem die Erzählenden geflohen sind, rundet jede Geschichte ab.

Dass eine Flucht meist erzwungen und kein Spaziergang ist, wissen auch viele Siebenbürger Sachsen, die es gewagt haben, dem rumänischen Regime den Rücken zu kehren und illegal die Grenze zu überqueren – sei es im Boot, schwimmend oder gar zu Fuß. Die Flüchtlinge im vorliegenden Band berichten ausnahmslos von Repressalien in ihren Heimatländern: Verhaftungen auf offener Straße, Ausgrenzung, Beschattung, Bürgerkrieg, Terrorismus, Gewalt sind prägende, oft traumatische Erlebnisse und Auslöser für den Wunsch, Heimat, Familie, Freunde für immer zu verlassen in der Hoffnung auf ein besseres Leben – in diesem Fall in Deutschland. Doch der Weg ist steinig, lang und macht manchmal sogar krank. Die Mühlen der deutschen Bürokratie mahlen langsam, daher bleiben manche der Flüchtlinge im Buch anonym; ihre Asylanträge sind noch in Bearbeitung oder sogar abgelehnt worden, sie werden hier nur geduldet.

Ein Themenblock zur Flucht der Juden aus Deutschland in den Jahren 1933 bis 1945 bildet das Gegengewicht zu den aktuellen Fluchtgeschichten. Eine kurze Einführung in die Thematik und zwei historische Biographien zeigen Unterschiede, aber vor allem Gemeinsamkeiten: Die unerträgliche Situation in der Heimat, die innere Zerrissenheit zwischen bleiben oder gehen, die beschwerliche Flucht und der Neuanfang in einem fremden Land, dessen Sprache man nicht spricht und dessen Gewohnheiten einem nicht vertraut sind, finden sich damals wie heute als Eckpfeiler der Lebensläufe.

Die persönlichen Geschichten bilden das Herzstück des Buches und werden begleitet von theoretischen Essays zu den Themen Flucht und Asyl in Deutschland, Europa und der ganzen Welt vom 19. Jahrhundert bis heute. Viele Graphiken und aktuelle Statistiken illustrieren die Thematik, ein Glossar zum Asylrecht in der BRD klärt die wichtigsten Begriffe und Sachverhalte, Selbstportraits von ausgesuchten Organisationen aus dem Bereich der Flüchtlingshilfe (unter ihnen das weltweit wohl bekannteste, UNHCR – United Nations High Commissioner for Refugees, und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Nürnberg) zeigen, wie zahlreich und vielfältig die Aufgaben hier sind.

Aber nicht nur der Inhalt, sondern auch das Layout und die Ausstattung des Buches „Fluchtgeschichten“ überzeugen. Das Papier, die Schriften, die Farbgestaltung und das Verhältnis von Text und Bildern bzw. Graphiken zeugen von viel Liebe zum Detail und sorgen dafür, dass das Lesen nicht nur ein geistiger, sondern auch ein optischer und haptischer Genuss ist.

Doris Roth


„Fluchtgeschichten. Aus und nach Deutschland. Biographien und Hintergründe 1933-2011“, herausgegeben von Simone Blaschka-Eick und Karin Heß, edition DAH, 149 Seiten, 14,50 Euro, ISBN 978-3-00-036581-2. Das Buch kann im Museumsshop des DAH oder im Buchhandel erworben werden.

www.dah-bremerhaven.de

Schlagwörter: Flucht und Vertreibung, Rezension, Museum

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