11. Juli 2012

Sensationell: Siebenbürgen 1939 im Farbfilm

Als Ernst Grelle aus Hannover im Frühsommer 1939 zu einer Reise nach Ungarn und Rumänien aufbrach, ahnte er nicht, dass er den im 21. Jahrhundert lebenden Menschen ein Andenken der besonderen Art hinterlassen würde, eine Hinterlassenschaft, für die bei aller Zurückhaltung das Wort sensationell nicht zu hoch gegriffen ist. Ernst Grelle war ein Amateurfilmer und drehte schon damals in Farbe, auf dem erst 1935 auf den Markt gekommenen Kodak-Film. Mehr als 70 Jahre nach dieser Reise tauchten seine Filmrollen wieder auf, und das in einem bemerkenswert guten Zustand. Sie vermitteln unter anderem ein bisher nie gesehenes Bild unserer siebenbürgischen Heimat.
Vor dem offenen Waggonfenster verschwinden das Bahnhofsschild und der Haltung annehmende Vorsteher von Pusztapó, als der Orient Express von Budapest Keleti pu, dem Ostbahnhof, kommend über die Grenze nach Rumänien hineinrollt. Bald schon zeigen vertraut anmutende Bilder die das nördliche Miereschufer säumenden Hügel mit ihrer Steppenvegetation, und der staunende Betrachter sieht zum ersten Mal überhaupt bewegte Bilder aus Siebenbürgen in Farbe, die aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg stammen. Man schrieb das Jahr 1939, als sich eine Reisegruppe aus Deutschland mit dem Zug aufmachte, um den Südosten Europas zu erkunden. Einer der Reisenden, Ernst Grelle, liebt das Filmen. In seiner Kamera hat er den neuen Kodak-Farbfilm eingelegt, damals beides eher eine Seltenheit, denn nur wenige verfügten über Filmkameras, und nur wenige konnten sich das Farbmaterial leisten. Ernst Grelle hat einen sicheren Blick für gute Bilder. Eher selten verweilt sein Blick auf den steinernen Zeugen der Vergangenheit, er hat den Menschen und sein Lebensumfeld im Visier. Vorbei an Coșlariu und Kleinkopisch (Copșa Mică), deren Bahnhofsschilder kurz aufscheinen, endet die Zugfahrt zunächst in Mediasch, dem ersten größeren Aufenthalt der Gruppe. Bilder, die das Herz höher schlagen lassen: Grelle filmt den Brand der Erdgassonde im Schemmertwald, der die Reisegruppe einen Besuch abstattet, so dass er spektakuläre Ansichten aus nächster Nähe auf Celluloid bannen kann. Ein Schwenk, und unter dem Tramiterturm ist das bunte Treiben am Mediascher Wochenmarkt zu sehen, Begrüßung durch Stadtpfarrer Carl Römer und Adolf Haltrich, ein Panorama der Kokelstadt, über der hoch und schwarz die Rauchwolke der brennenden Sonde steht. Noch ein fröhlicher Umtrunk mit Schnaps, den Anna und Adolf Haltrich in ihrem Weinberg auf der Burg servieren, und weiter geht die Fahrt.
Das bunte Treiben am Mediascher Wochenmarkt ...
Das bunte Treiben am Mediascher Wochenmarkt (1939).
Im Bild erscheint ein Linienbus mit der Aufschrift „Sibiu – Cisnădie“ (Hermannstadt – Heltau), den man offenbar für die Weiterfahrt gechartert hatte. In Heltau sind die Kirchenburg und eine Szene beim Kirchgang zu sehen, ehe es zum Roten Turmpass und dem Kloster Cornetu weiter geht. An einer Altbrücke zeigt ein stattlicher sächsischer Bauer im Trachtenhemd auf die Höhen der Karpaten, kurz bevor es zu einer Begegnung mit einer Gruppe Zigeuner kommt, die sich bereitwillig filmen lassen. Vorbei an den noch leicht mit Schnee bedeckten Kämmen der Karpaten geht die Reise nach Kronstadt und zur Törzburg. Rosenau wird in einem wunderbaren Panorama samt Burg gezeigt. Doch immer wieder filmt Grelle die Menschen, denen er begegnet, er bevorzugt Nahaufnahmen, verrät auch einen sicheren Blick für die weibliche Schönheit. Über Brenndorf fährt man nach Tartlau, wo eine der längsten Einzelsequenzen entsteht: Kirchgang, Jung und Alt in ihren vertrauten Trachten der Kirche zu strebend, in Gruppen zusammen stehend, freundlich lächelnd, stolz ihren Trachtenschmuck präsentierend. Abends beim Dorftanz. Zu sehen sind auch äußere Zeichen für das Wirken der „völkischen Bewegung“: vereinzelt werden die Besucher aus dem „Reich“ mit der damals verlangten Grußform der angehobenen Rechten begrüßt, aber eben auch nur vereinzelt. Und einmal erfasst die Kamera einen Aufmarsch, in den sich auch die Besucher einreihen. Nach Geschlechtern und Altersgruppen getrennt streben sie, von den neben der Kolonne zackig ausschreitenden Ordnern angewiesen, einem unbekannten Ziel zu.
Brand der Erdgassonde im Schemmertwald (1939). ...
Brand der Erdgassonde im Schemmertwald (1939).
Die Fahrt geht über Sinaia und Ploiești weiter. Eindrucksvoll sind die aus dem Zugfenster gefilmten Erdölfelder, mit unzähligen Bohrtürmen übersät, und der Besuch einer Bohrstelle, an der Grelles Film einen ungeahnten Einblick in die damalige Arbeitswelt vermittelt, dann Bukarest. Auch hier ist es nicht etwa das Königsschloss oder das Athenäum, die Grelles Aufmerksamkeit fesseln, sondern das Alltagsleben. So schaut er eher in eine „Mahala“ hinein, als auf die stolzen Boulevards, und auf die dort lebenden Menschen, deren Schönheit ihm auch unter vernachlässigtem Äußeren nicht entgeht. An der Donau entlang geht es schließlich mit dem Simplon Orient Express wieder heimwärts; nach einem kurzen Stopp in Temeswar endet die gut zehn Minuten lange Sequenz, die in Rumänien gedreht wurde.

Über den Filmer Ernst Grelle ist kaum etwas bekannt. Dass jedoch ein Filmschatz wie seiner wiederentdeckt und vor allem digitalisiert, aufbereitet und öffentlich zugänglich gemacht wird, ist dem leidenschaftlichen Sammler Karl Höffkes zu verdanken. Er sagt, dass die Verknüpfung seiner beiden großen Leidenschaften, die Geschichtswissenschaft und das Medium Film, sein Leben bestimmt haben. So wurde Geschichtsforschung für ihn zu einer Mischung aus wissenschaftlichem Studium, leidenschaftlichem Hobby und Schatzsuche in seinen bevorzugten Forschungsfeldern: Kellern, Kammern und Dachböden. Mit großem Erfolg sucht er seit vielen Jahren überall in der Welt verschüttete filmische Quellen der deutschen Geschichte und hat immer wieder das Glück gehabt, spektakuläre Aufnahmen zu finden. Die Suche konzentriert sich dabei auf Filme, die Privatleute in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts insbesondere zwischen 1914 und 1945, gedreht haben, weil sie unverstellt die Wirklichkeit festhalten und nicht propagandistisch bestimmt sind. Natürlich zeigt jeder Film nur einen Ausschnitt aus der jeweiligen Zeit, aber viele verschiedene Filme ergeben ein Mosaik und vermitteln Einblicke in die Vergangenheit, wie wir sie aus keiner schriftlichen Quelle erhalten. Die eigentliche Arbeit beginnt aber erst, wenn die Filmrolle auf seinem Tisch liegt. Das Material muss gesichtet, gereinigt, digitalisiert und im Archiv katalogisiert werden, um es für Museen, Dokumentarfilmer und Sender nutzbar zu machen. Das trifft auch auf die Filmaufnahmen des Ernst Grelle zu. Es mag irritieren, dass die DVD unter dem etwas reißerischen Titel „Filmen ­unterm Hakenkreuz“ auf den Markt kam, vermutlich, weil die zeitgeschichtliche Metapher als verkaufsfördernd angesehen wurde. Zwar entstanden die Bilder während der Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten in Deutschland. Grelles Filmmaterial jedoch ist durchgehend privat und „politisch korrekt“ gedreht. Ein ausgewogener Kommentar begleitet die ursprünglich tonlosen Aufnahmen.

In Sachen Siebenbürgen tut man gut daran, über einige wenige Ungenauigkeiten hinwegzuhören. Die Aufnahmen beginnen mit der Probefahrt des KdF-Kreuzfahrtschiffs „Robert Ley“ 1938, an die sich die hier ausführlich besprochenen Reise durch Budapest und Rumänien anschließt. Grelle, der zu einer Pioniereinheit der Wehrmacht eingezogen wird, nimmt die Kamera schließlich mit auf den östlichen Kriegsschauplatz. Doch die Bilder, die er während dreier Kriegsjahre dreht, befriedigen keine zeitgeschichtliche Schaulust, denn auch hier steht Alltägliches im Mittelpunkt, und keine Propaganda. Der Blick verweilt auf der Landschaft und den Menschen darin, seien es nun die Einwohner des Sowjetreiches oder seine eigenen Kameraden beim Brückenbau oder im Quartier. Da Farbfilme irgendwann nicht mehr verfügbar waren, wechselt er gegen Ende des Films auf Schwarzweiß.

Wer die sensationellen Farbbilder aus Siebenbürgen zu Hause genießen will, kann die DVD „Filmen unterm Hakenkreuz. Der verschollene Filmschatz des Ernst Grelle“ für 14,95 Euro erwerben bei Polar Film + Medien GmbH, Schildarpstraße 10, 48712 Gescher, www.polar film.de, Telefon: (02542) 951313.

Karl Höffkes lädt darüber hinaus ein, seine Website zu besuchen, wo Fachleute und interessierte Laien eine breite Palette von Filmmaterial aus der Zeit vor und während des Zweiten Weltkriegs vorfinden. Er ist an weiterem Material interessiert und bittet um Kontaktaufnahme unter Telefon: (02542) 951350.

Hansotto Drotloff

Schlagwörter: Film

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