24. September 2012

Verlassene Erzählungen: Eginald Schlattners frühe Prosa

Ein Koffer unbekannten Inhalts sowie weitere Papiere wurden 2009 vom Pfarrhof in Rothberg ins Zentralarchiv der Evangelischen Kirche A.B. in Rumänien in Hermannstadt gebracht, um in Eginald Schlattners Vorlass eingepflegt zu werden. Dort stellte man fest, dass es sich um Manuskripte von Erzählungen handelte, entstanden lange vor dem ersten Roman „Der geköpfte Hahn“ von 1998, der den Hydrologen, Pfarrer und Schriftsteller auf einen Schlag bekannt machte. Die in diesem Jahr erschienenen Bände „Odem“ und „Mein Nachbar, der König“ offenbaren, was Schlattner schrieb, bevor er ein gefeierter Romanautor wurde, geben Einblick in die frühe Prosa, zeichnen die Entwicklung vom Studenten zum spät berufenen Pfarrer nach.
„Ein Mensch stieg den steilen, gedehnten Berghang in die Höhe. Aus der Ferne geschaut, schrumpft er zu einem kriechenden Punkt zusammen, den die schneeige Weite überwältigte. Mühselig tastete sich der Schwankende vorwärts. Jeder Schritt, eine Spanne Höhe erzwingend, stanzt einen knietiefen Schacht in den Schnee. Die Last der Steile riß jede seiner Bewegungen in die Tiefe.“

So beginnt Odem, eine 1957 entstandene, bislang nicht bekannte Erzählung Eginald Schlattners, deren Manuskript von der Literaturwissenschaftlerin Michaela Nowotnick gefunden wurde, die den Text in der vorliegenden kritischen Edition erstmals der Öffentlichkeit zugänglich macht. Odem war 1957 vom Staatsverlag für Literatur und Kunst (Editura de Stat pentru Literatură și Artă – ESPLA) in Bukarest angenommen, lektoriert und für den Druck vorbereitet worden. Ein Auszug, betitelt „Der Bruch“, erschien am 17. Oktober 1957 als Vorabdruck in der Volkszeitung. Das Erscheinen der Erzählung jedoch wurde durch die Verhaftung des Autors am 28. Dezember 1957 verhindert.

Odem erzählt auf zwei Zeitebenen das Leben des Arbeitersohnes Gernot, krank an Lunge und Seele seit dem frühen Tod des Vaters, seit Kindertagen (un)glücklich verliebt in die Arzttochter Elisabeth. Immerzu wird Gernot das Atmen schwer, fühlt er „den Stein in seiner Brust“ und sehnt sich nach Weite und Helligkeit: „Ich glaube, daß Menschen, die immerfort ein großes Stück Himmel sehen können und vielleicht auch Wiesen und Wälder, gute und glückliche Menschen sein müssen. Soviel Luft zum Atmen! Soviel Platz zum Schauen!“ Der Text ist so dunkel, beschwört eine so düstere Atmosphäre herauf, dass man sich fortwährend nach einer Lampe sehnt. Das Ende der Erzählung kann man dennoch als Happy End verstehen – oder doch als tragisch? Vorhersehbar? Es bleibt Raum für Interpretation.

Zu den Materialien in diesem Band gehören u.a. Faksimiles aus Odem und ein Gespräch der Herausgeberin mit Eginald Schlattner über die Entstehungsgeschichte der Erzählung. Der Buchumschlag wurde einem Entwurf von Schlattners Mutter Gertrud nachempfunden, der zwar nicht erhalten ist, an den sich der Autor aber erinnern kann: „Unten der Titel Odem, Majuskeln, die sich auf einem Schneefeld bewegen, der Umschlag wird nach oben zu immer dunkler, spielt ins Bläuliche, zuletzt ganz oben blauschwarz. Und dort oben mein Name wie Sterne.“

Neben „Odem“ hat Michaela Nowotnick den Band „Mein Nachbar, der König“ mit sechs weiteren Erzählungen herausgebracht, entstanden zwischen 1956 und 1992. Er beginnt mit der Erzählung Gefährte Rebhuhn, die als „einziger literarischer Text Eginald Schlattners im sozialistischen Rumänien veröffentlicht wurde“, wie es in der Einführung heißt: im „Almanach für das Jahr 1957“ der Tageszeitung Neuer Weg unter dem Pseudonym Klaus Fahrenkrog. Bis auf die zweite Erzählung Gediegenes Erz, entstanden in der ersten Hälfte des Jahres 1956 und damit die älteste, wurden alle Texte 2011 von Schlattner durchgesehen und überarbeitet – einigermaßen erstaunlich, nachdem er 2010 in einem Interview in der Zeitschrift Sinn und Form gesagt hatte: „Als ich die Trilogie [seine drei Romane; Anmerkung der Redaktion] abgeschlossen hatte und wieder ganz zu dem zurückgekehrt bin, was ich als Beauftragung empfinde, ist mir aufgegangen, daß das Schreiben eine Episode war.“

Obwohl Einführung nach Anfang klingt, stehen die Einführungen zu den Erzählungen im hinteren Teil des Bandes, und dort sollte man sie auch lassen, sprich: die literarischen vor den literaturwissenschaftlichen Texten lesen – so ist das Leseerlebnis unmittelbarer und man kann sich zunächst seine eigenen Gedanken machen und mit Hilfe der Prosa eine Entwicklung verfolgen, die bis in die Zeit nach der politischen Wende und damit in die Entstehungszeit des ersten Romans reicht. Die letzte Erzählung Mein Nachbar, der König entstand 1992 und hebt sich deutlich von den anderen ab, allein schon durch die Wahl des Schauplatzes, der nicht mehr Siebenbürgen, sondern das österreichische Bad Gastein ist. Das Manuskript zu „Der geköpfte Hahn“ war zu dieser Zeit bereits fertiggestellt und Schlattner „gelüstete es“, wie er im Gespräch mit Michaela Nowotnick sagt, „mich in kürzeren Texten zu versuchen“.

Schlattner schöpfte als junger Mann aus dem Leben, das er kannte, dem Leben in Rumänien, in Siebenbürgen in den 50er und 60er Jahren, und schrieb über die Rolle der Siebenbürger Sachsen in der damaligen Gesellschaft. In allen Texten finden sich autobiographische Züge – das Erlebte wurde verarbeitet oder vorweggenommen wie in der Erzählung Das Apfelbett, in der es um einen jungen Pfarrer und seine Frau geht. Wie selbstverständlich nimmt der Autor in dieser Erzählung von 1967 die Perspektive eines Pfarrers ein und blickt so in die eigene Zukunft; sein in den 50er Jahren abgebrochenes Theologiestudium nahm er erst 1973 wieder auf. Der persönliche Bezug ergibt sich aus der vorangestellten Widmung: „Diese Geschichte schenke ich meiner Frau Susanna Dorothea, weil sie für sie und durch sie wurde.“ Wie schwer es ist, als junge Frau „mit wild wehendem Haarschweif und hochroten Backen“, scheinbar kaum der Schulbank entwachsen, die „Frau Mutter“ zu sein, lässt sich hier mit wohltuender Ironie nachlesen. Ihrem Ehemann, der sie mit „Aber liebes Kind, du siehst die Dinge durchaus in der verkehrten Perspektive“ sehr von oben herab zurechtweist, antwortet die eigenwillige Ehefrau trocken: „Absolut, und zwar in der richtigen.“ Über mehrere Seiten Schlagabtausch in diesem Stil kann man sich in Das Apfelbett amüsieren.
Eginald Schlattner, 2011. Foto: Christoph Binder ...
Eginald Schlattner, 2011. Foto: Christoph Binder
„Nostalgischer Schmerz war noch nie in der Stimme Schlattners“, schreibt Götz Kubitschek in einem Porträt über Eginald Schlattner in der Zeitschrift Sezession im April 2012. So ist es auch in seinen frühen Erzählungen, von deren Herausgabe ihn Michaela Nowotnick zum Glück überzeugen konnte. Er ist ein großer Erzähler, auch in der kurzen Form.

Doris Roth


Eginald Schlattner, „Odem. Kritische Edi­tion“, herausgegeben von Michaela Nowotnick, Schiller Verlag, Hermannstadt/Bonn, 2012, 135 Seiten, 16 Euro, ISBN 978-3-941271-73-9

Eginald Schlattner, „Mein Nachbar, der König. Verlassene Erzählungen“, herausgegeben von Michaela Nowotnick, Schiller Verlag, Hermannstadt/Bonn, 2012, 208 Seiten, 16 Euro, ISBN 978-3-941271-42-5
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Schlagwörter: Schlattner, Bücher, Rezension, Erzählungen

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