3. November 2012

„Zigeunerinnenfluch“ und andere Gedichte

Die Berliner Edition Noack & Block brachte innerhalb einer relativ kurzen Zeitspanne drei Bücher von Hans Bergel heraus: 2011 erschienen die fesselnden Erzählungen bzw. Novellen des Bandes „Am Vorabend des Taifuns, Geschichten aus einem abenteuerlichen Leben“ und im Frühjahr 2012 unter dem Titel „Der schwarze Tänzer“ über hundert ausgewählte Gedichte; vor Kurzem legte nun der Verlag den Band „Verlorener Horizont. Fünfzig Gedichte aus dem Rumänischen“ vor. Bergel wählte die Gedichte selber aus und verfasste ein kurzes Nachwort, über das der in Deutschland lebende, in Rumänien ehemals zum Tod verurteilte Arzt Dr. Nicholas Catanoy – einer der übersetzten Autoren – schrieb: „Nicht allein die Übersetzungen sind virtuos, auch das Nachwort ist als Synthese (...) einer Untersuchung der rumänischen Lyrik auf der Höhe der Kompetenz und profunden Analyse.“ (Brief an Bergel, 28. September 2012)
Dass Bergel die Gedichte der zehn Autoren – darunter Lucian Blaga, Mihai Eminescu, George Bacovia, Ana Blandiana – nicht einfach aus einer Sprache in die andere übersetzte, sondern sie so übertrug, dass sie, ohne Verletzung des Originals, zu deutschen Ge­dichten wurden, denen man in keiner Zeile die Übersetzung anmerkt, bestimmt die ungewöhnliche Qualität seiner Arbeit. Das lässt sich u.a. an den beiden „Odysseus“-Gedichten Blagas und Gyrs besonders erkennen: Sie wurden im Deutschen zu poetischen Aussagen von großer Geste (Seite 62-62 und 56-75). Gleiches gilt auch für die modernen Gedichte jüngerer Autoren wie die Kronstädterin Dr. Mihaela Stroe, die Hermannstäder Luminița Mihai-Cioabă und Dan Dănilă, wobei der „Zigeunerinnenfluch“ („Blestem de țigancă“) der Roma-Königstochter Luminița Mihai-Cioabă zu einem Feuerwerk artistischer Sprachkunst geriet (S. 22-23). Das „Hölderlin“-Gedicht der Ana Blandiana, die globalen Visionen des als Pilot, Mönch, Arzt und Universitätslehrer durch die ganze Welt gestromerten Catanoy, die subtilen Gedankengebilde der 1957 geborenen Romanistin Dr. Mihaela Stroe stehen dieser Glanzleistung um nichts nach. Dass sich Bergel auch an den schwer übersetzbaren Rechtsanwalt und Maler Bacovia heranwagte und sogar vor den dutzendfach ins Deutsche übersetzten legendären Eminescu-Gedichten „Mai am un singur dor“ sowie dem „Venedig“-Sonett nicht zurückschreckte und sie in „deutsche Gedichte umwandelte“, sei eigens festgehalten.(S. 88-89 und 87).

Das Nachwort (S. 95-98) bietet auf knappen dreieinhalb Seiten eine in dieser Konzentration und Präzision einmalige Erklärung und Deutung der rumänischen Lyrik, Bezeichnend für sie sei neben der Latinität der gedanklichen Strukturen der historisch bedingte Unterton der Melancholie, ja der Klage, die sich im Sprachklang äußere. Die Präsenz des Gedichtes im rumänischen Alltag quer durch alle Bildungsschichten, so Bergel, sei vormals selbstverständlich gewesen; dass sich die Tradition nach 1989/90 zu verflüchtigen beginne, komme einem Kulturbruch gleich, der wiederum sei eine allgemeine europäische Erscheinung unserer Epoche.

Der Broschurband mit Schutzumschlag ist geschmackvoll gestaltet: Auf dem Umschlag findet sich ein handschriftlicher Gedichtentwurf von Ana Blandiana, jeder der zehn Autoren/innen wird mit einem Porträtfoto und einer knappen Biografie vorgestellt.

„Verlorener Horizont. Fünfzig Gedichte aus dem Rumänischen“ ist jedem Freund guter Literatur als Zeugnis des anderen Rumänien zu empfehlen!

M. W.

Verlorener Horizont. Fünfzig Gedichte aus dem Rumänischen. Auswahl, Übersetzung und Nachwort von Hans Bergel, Edition Noack & Block, Berlin, 100 Seiten, 14,80 Euro, ISBN 978-3-86813-012

Schlagwörter: Gedichtband, Bergel, Übersetzungen, Rezension

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