30. Januar 2013

Dem Himmel ganz nah

Grau-weiße Wollknäuel lösen sich aus dem schwarzen Rechteck des Bildschirms, hüpfen vom Betrachter weg, entwirren sich schließlich zu Schafen. Der Zoom gibt bald den Blick auf eine Herde frei, die über eine steile Wiese himmelan trabt, während sich ein klagender Flötenton wie aus dem Nichts löst und anschwillt und die Kamera von der Herde weg über die sanft gewellten Rücken des Zibinsgebirges schwenkt. In ihrem Film laden Titus Faschina (Buch und Regie) und Bernd Fischer (Bild) dazu ein, zusammen mit der Hirtenfamilie Stanciu „dem Himmel ganz nahe“ zu kommen.
„In einem filmischen Jahreszyklus wird vom Leben der Hirtenfamilie erzählt, die mit ihren Tieren im Bergdorf Jina bei Hermannstadt in ­einer wilden, abenteuerlichen Welt in spektakulärer Szenerie, hoch oben auf den Almen der Karpaten, fern der Zivilisation in einer entschleunigten Welt lebt.“ Hinter dieser knappen, dem Begleittext entnommenen Inhaltsangabe verbirgt sich ein bezaubernder Film, in dem wir Dumitru und Maria Stanciu und ihren Sohn Radu durch ein ganzes Hirtenjahr begleiten dürfen. Dem in vieler Hinsicht archaisch anmutenden Leben der Hirtenfamilie meinten die Produzenten am ehesten mit einem Rückgriff auf die Anfangszeit der Fotografie gerecht zu werden: Sie drehten einen Schwarzweiß-Film! Der durch farbige Reize überflutete Bilderkonsument des 21. Jahrhunderts darf plötzlich faszinierende Spitzlichter entdecken, wenn tanzende Mücken im Gegenlicht schwärmen, sein Blick folgt dem zottigen Meer der Schafleiber, die sich über die saftigen Wiesen ergießen, oder den weißen Tupfen trocknender Schafwolle auf den Bergwiesen. Nur kurz stutzt man – und vermisst das satte Grün der Bergwiesen bald nicht mehr, wenn der Blick in die sanften Strukturen der welligen Berghänge eintaucht, ohne von Farbenpracht abgelenkt zu sein. Aber auch die Härte und das Kontrastreiche des Lebens auf der Alm, den Wechsel von Tag und Nacht, von Hitze und Kälte meint Bernd Fischer wirkungsvoller einfangen zu können, indem er auf die Farbe verzichtet.

Drei Mal fuhren die Produzenten zu den Hirten auf den Berg, den vorher noch nie ein Auto erklommen hatte; sie wohnten und lebten 36 Drehtage lang mit den Stancius unter einem Dach. Dabei entstand eine Vertrautheit, die einen tiefen, manchmal fast intimen Einblick in den Alltag dieser Menschen erlaubte. Freimütig, das Schwere seines Tagwerks nie beschönigend, aber gleichwohl voller Stolz erzählt Dumitru Stanciu von seinem Hirtenberuf, den er von seinen Altvordern erlernt hat. Dies alles, und seine Liebe zu diesen Bergen, wo man dem Himmel in doppeltem Sinne stets nahe ist, versucht er seinem Sohn Radu weiterzugeben. Ob ihm dies gelingen wird, bleibt am Ende des Films offen.

Dass immer weniger Bewohner der rumänischen Bergdörfer sich mit der klassischen Schäferei behaupten können und in den Mühlen des Übergangs von der traditionellen rumänischen Landwirtschaft in die EU-Moderne zur Aufgabe gezwungen werden, thematisieren Titus Faschina und Bernd Fischer nicht im Hauptfilm, der gut und gerne als eine Liebeserklärung an einen urtümlichen Menschenschlag durchgeht. Deutlich wird dies in den Extras: Ein „alternativer Anfang“ berichtet davon, dass die Hirtenfamilie, die zunächst für den Film ausgesucht worden war, kurz nach Beginn der Dreharbeiten „abhandenkam“, weil sie die Schäferei aufgaben. Dumitru Stanciu war plötzlich „der letzte seiner Art“ in Jina. Eine Kurzreportage über dies höchstgelegene Bergdorf in den Karpaten, eine Galerie von Schwarzweißfotos von Bernd Fischer und ein Interview mit den Produzenten runden die Beigaben auf der DVD ab. Ein Tipp zum Schluss: Wer das Interview bis zum Ende verfolgt, wird erfahren, dass Dumitru Stanciu, der zu einer Vorführung des Films nach Wiesbaden eingeladen wurde, seine Gastgeber mit einem unerwarteten, ganz aus seiner Lebenswelt geborenen Wunsch überraschte: 100 handgeschmiedete Hufnägel wünschte er sich. Ob er sie bekommen hat? Schauen sie selbst nach …

Hansotto Drotloff


Der erfolgreiche Kinofilm „Dem Himmel ganz nah“ von Titus Faschina und Bernd Fischer ist seit Kurzem auf DVD zum Preis von 15 Euro erhältlich. Der Vertrieb erfolgt über die Webseite www.GMfilms.de.

Schlagwörter: Film, Rumänien, DVD

Bewerten:

19 Bewertungen: ++

Noch keine Kommmentare zum Artikel.

Zum Kommentieren loggen Sie sich bitte in dem LogIn-Feld oben ein oder registrieren Sie sich. Die Kommentarfunktion ist nur für registrierte Premiumbenutzer (Verbandsmitglieder) freigeschaltet.