20. Februar 2013

Zu Iris Wolffs autobiographisch gefärbtem Debütroman „Halber Stein“

Das beschauliche Michelsberg (Cisnădioara) und seine Umgebung scheinen in den letzten Jahren nicht nur touristisch, sondern auch literarisch erschlossen zu werden. Nach „Die Kinder von Michelsberg“ von Karin Gündisch (2011) spielt auch der Erstlingsroman „Halber Stein“ (2012) der jungen Autorin Iris Wolff in diesem schmucken Dorf, das nun von der Nachbarstadt Heltau (Cisnădie) aus verwaltet wird und seinen besonderen Charme bisher bewahren konnte.
Iris Wolffs autobiographisch gefärbtes literarisches Debüt erzählt die zeitweilige Heimkehr einer jungen Frau nach Michelsberg. Als Kind war sie mit ihren Eltern 1986 nach Deutschland ausgewandert. Der Tod ihrer Großmutter Agneta und deren Beerdigung führen sie und ihren Vater nach 20 Jahren zum ersten Mal wieder in die alte Heimat. Der Prolog setzt mit einer Frage ein, die das Thema des Romans vorgibt: „Was denkst du, gibt es Orte, die uns in die Vergangenheit blicken lassen und uns gleichzeitig die Zukunft zeigen?“ Die Wiederbegegnung mit dem Haus ihrer Großmutter, von der Sine als Kind betreut wurde, weckt verdrängte Erinnerungen, birgt aber auch zahlreiche Geheimnisse, die sich erst allmählich enthüllen. Von Anfang an erzeugt das Buch eine wehmütige Stimmung, keine Nostalgie, sondern Sehnsucht nach dem Land der verlorenen Kindheit, die von der Autorin in wunderbaren Bildern beschworen wird. Durch die ländlichen Sinneseindrücke, in denen Farben, Gerüche, Berührungen und Geräusche verschmelzen, findet Sine wieder Zugang zum Dorf und seinen Bewohnern.

Auch die Herkunft und die Geschichte der Siebenbürger Sachsen kommen nicht zu kurz. Daten und Fakten stören jedoch den Erzählfluss nicht, sondern werden mit den Gesprächen verwoben, die Sine mit ihrem Vater und Julian Eminescu, dem Spielkameraden aus Kindertagen, führt. Da wird die Sage vom Brauch der Michelsberger erzählt, heiratswillige Männer einen Rundstein aus dem nahen Silberbach den steilen Burgberg hinaufrollen zu lassen, um sie im Kriegsfall von der Burgmauer den Angreifern entgegenzuschleudern. Die Jahrhunderte währende Abwehrbereitschaft der Sachsen habe auch die „siebenbürgische Seele geprägt“. Zerstörtes immer wieder aufzubauen, erkläre ihre „Eigenheiten, (…) ihre Gewissenhaftigkeit und Geduld, ihr Pflichtgefühl, ihren Gemeinschaftssinn und Realismus, ihre Großzügigkeit, (…) ihre Treue, ihre Sturheit und ihren Stolz.“ (Seite 43). Die Ich-Erzählerin stellt sich und anderen viele Fragen, die häufig keine endgültige Antwort finden. Die Frage nach der „Schuld“ am massenhaften Exodus der Siebenbürger (vor allem nach 1989) kann letztlich nicht geklärt werden: „Wieso träumen die Menschen immer von besseren Orten?“ (Seite 33) Die titelgebende Symbolik des „Halben Steins“ im Michelsberger Silberbachtal (wie auch anderer steinerner Zeugen) ist nicht immer leicht zu entschlüsseln.

Am Ende des Buches wird er als „unvollendete Brücke“ bezeichnet – eine Brücke zwischen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft der Siebenbürger Sachsen?

Der Roman erzeugt beim Leser ein Gefühl des Verlustes, der Melancholie und Traurigkeit, aber Iris Wolff vermeidet eine „heimattümelnde“ Nostalgie. Ihr erfrischender Stil, poetische Metaphern und Vergleiche, der sparsame Einsatz sächsischer und rumänischer Ausdrücke, die allerdings nur teilweise (für deutsche Leser) übersetzt wurden, – all das kennzeichnet diesen gelungenen Roman, der bis zuletzt spannend bleibt. Ein anspruchsvolles und dennoch leicht zu lesendes, uneingeschränkt zu empfehlendes Buch!

Konrad Wellmann




Iris Wolff: „Halber Stein“, Roman, Otto Müller Verlag, Salzburg, 2012, 295 Seiten, Preis: 21,00 Euro, ISBN978-3-7013-1197-2.

Schlagwörter: Rezension, Roman

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Neueste Kommentare

  • 20.02.2013, 15:57 Uhr von bankban: Kurze, prägnante und damit aussagestarke Rezension. Mehr braucht's nicht. Danke! [weiter]

Artikel wurde 1 mal kommentiert.

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