9. Februar 2014

Pfarrer Ungar und der adlige Flüchtling

Kurz nach meinem Einstand als Pfarrer in Reußdörfchen im Januar 1968 erzählten meine Presbyter Georg Roth, Michael Roth und Johann Löw über eine Begebenheit, die sich gleich nach dem Eintreffen der Roten Armee im September 1944 abgespielt hatte. Pfarrer Hans Ungar, um den es sich gehandelt hatte, klärte mich daraufhin, während einer Pastoralkonferenz, über das Vorgefallene wie folgt auf.
Er habe sich in Neudorf, in der Gegend von Großliebenthal aufgehalten, wohin ihn die Landeskirche 1944 als (kommissarischen) Diasporapfarrer beordert hatte. Dort habe er sich mit einem Adligen angefreundet. Er nannte ihn Graf Wenzel von Straßburg oder Straußberg oder so ähnlich. Als Hans Ungar nach Reußdörchen zurückkam, stand jener Graf eines Tages vor seiner Tür. Er war aus Großliebenthal geflohen, weil die Rote Armee die Ortschaft eingenommen hatte. Pfarrer Ungar nahm den Flüchtigen auf und beherbergte ihn.

Als aber die Russen im September 1944 nachrückten, kamen russische Soldaten nach Reußdörfchen, um jenen Adligen zu suchen. Hans Ungar konnte sich nicht erklären, woher sie Wind bekommen hatten, darüber, dass er sich bei der Pfarrfamilie in Reußdörfchen aufhielt.

Es ging in den Abend, und ein friedliches Dämmern lag über der Gemeinde. Die Büffel kamen aus der Herde zum Tor herein. Mit ihnen drei russische Soldaten. Während die drei russischen Frontkämpfer mit einigem Gepolter die Treppen des Pfarrhauses hochgingen, flohen der Pfarrer und der Adlige durch ein Fenster im Erdgeschoss nach draußen. Sie überquerten den geräumigen Krautgarten, den es damals vor dem Tor des Pfarrhauses noch gab, und gingen über den Berg nach Großau und von dort zu Fuß über Hermannstadt nach Alzen. Pfarrer Ungar erzählte mir: „Im Harbachtal waren die Russen nicht so ,auf dem Haufen’ wie in Hermannstadt und in der Gegend um Hermannstadt“.

Wer die beiden in Alzen aufgenommen hat, weiß ich nicht mehr. Es kann sein, dass sich Alzen in einer Pfarrvakanz befunden hatte. Der Graf jedenfalls ist den Russen entkommen und westwärts geflohen. Er soll sogar den „Zusammenbruch“ in Deutschland überlebt haben.

Hans Ungar wurde über kurz oder lang in Alzen zum Pfarrer gewählt. Erst im Alter von achtzig Jahren hat er sich zur Ruhe begeben. Ende der siebziger Jahre starb er in Schäßburg.

Bei der Beisetzung des Pfarrers Hans Ungar erwähnte der damalige Hermannstädter Dechant Dr. Hellmut Klima in seiner Grabrede auch den tapferen Einsatz des inzwischen Verstorbenen in der Bessarabischen Diaspora unserer Kirche.

Bliebe noch zu klären, wie jener Adlige wirklich geheißen hat.

Walther Gottfried Seidner

Schlagwörter: Zeitgeschichte, Weltkrieg, Pfarrer

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