5. Juli 2014

Vortrag über Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller in Stuttgart

Wer war, wer ist Herta Müller? Was war ausschlaggebend dafür, dass ihr 2009 der Literaturnobelpreis verliehen wurde? Dürfen sich auch die Siebenbürger Sachsen in dem Ruhm sonnen? Diesen und anderen Fragen ging Horst Göbbel in seinem Vortrag am 30. Mai im Stuttgarter Haus der Heimat nach. Der Referent, der 1973 aus Siebenbürgen nach Deutschland ausgesiedelt ist und bis zu seiner Pensionierung 2009 als Studiendirektor in Bayern Geschichte, Deutsch und Sozialkunde gelehrt hat, weiß: „Ruhm kann anstrengend sein. Aber Nobelpreisruhm ist mehr als anstrengend.“ Geschichte definiert er als „Art und Weise, wie wir mit der Vergangenheit umgehen, neu beurteilen, neu bewerten.“
Auch in Herta Müllers Buch „Atemschaukel“ geht es um Erinnerungen, die man nicht wegpacken kann. Erinnerungen, die den Protagonisten gegen seinen Willen „im Rudel heimsuchen“ und deswegen nicht nur „im Kopf bleiben“ sondern ein „Magendrücken“ verursachen, „das in den Gaumen steigt“ und „die Atemschaukel“ zum Überschlagen bringt. Oskar Pastiors Erinnerungen an die Zeit der Deportation, sein detailliertes Erzählen darüber ließen Herta Müller seine Angst spüren. Sie reiste mit ihm in die Ukraine zu den Orten der Lager. Und so gelang der Autorin ein „überwältigender, poetischer Roman vom Schicksal eines jungen Mannes aus Siebenbürgen im russischen Arbeitslager.“ Oskar Pastior starb im Oktober 2006 und Herta Müller musste das Buch alleine schreiben. Für den Roman „Atemschaukel“ erhielt sie als zwölfte Frau in der Geschichte des Literaturnobelpreises im Jahre 2009 diese höchste Auszeichnung der literarischen Welt, eine Auszeichnung, die laut Alfred Nobels Testament vom 27. November 1895 dem Werk verliehen werden soll, das „im vergangenen Jahr der Menschheit den größten Nutzen erbracht hat.“

„Atemschaukel“ ist „hochbrisant politisch“ und „sprachlich meisterhaft.“ Auch wenn der Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki sich äußerst zweifelhaft über Herta Müller, das Buch und diese Preisverleihung geäußert hat, hat dieses „bewegende wie bedrückende Prosawerk“ diese hohe Auszeichnung verdient, informiert es doch über die Geschichte der Siebenbürger Sachsen, die noch vor Ende des Zweiten Weltkriegs von den Russen zur Zwangsarbeit in die Ukraine verschleppt wurden – als „Strafe“ dafür, dass Rumänien bis zum Sommer 1944 mit den Nazis paktiert hatte. Auf Anforderung des sowjetischen Generals Vinogradov wurden die in Rumänien lebenden Deutschen zwischen 17 und 45 Jahren zum „Wiederaufbau“ in die UdSSR deportiert. Mit diesem Buch hat die Autorin den vielen Deportierten eine „mächtige Stimme“ verliehen.

Die Autorin Herta Müller war auch vor „Atemschaukel“ keine Unbekannte auf dem Gebiet der Literatur. Noch als sie in Rumänien lebte, erschien ihr Debütband „Niederungen“; Prosa, für die viele ihrer Landsleute ihr „Nestbeschmutzung“ vorwarfen. Aus diesem Band las der Referent Horst Göbbel den Text „Schwäbisches Bad“ und berichtete über seinen Briefwechsel mit einem gewissen Herrn Dr. Dama, der Herta Müller „bewusste Demontage deutscher Wertvorstellungen und Sitten“ vorgeworfen hatte.

Mittels einer Videoeinblendung bekamen die Zuschauer auch einen kleinen Einblick in den Ort Nitzkydorf im Banat, wo die Autorin 1953 als Angehörige einer deutschen Minderheit geboren wurde. Sie lebt seit 1987 in Berlin und hat viele weitere Bücher veröffentlicht. Bücher, in denen sie sich mit den Erfahrungen und Verletzungen auseinandersetzt, denen Menschen in einem diktatorischen Regime ausgesetzt sind. Sie selbst ist von der Securitate beschattet worden, wie der Referent belegte.

Mit seinen Ausführungen über Herta Müller, die er schon viele Jahre kennt, zeichnete Horst Göbbel das Porträt einer komplexen Persönlichkeit. Zuhörerfragen zu Oskar Pastior und seinem Beitrag zur „Atemschaukel“ sowie zur Mutter von Herta Müller, die das Lagerleben selbst kennengelernt hat, rundeten den ansprechend gestalteten und informativen Vortrag ab. Auch dieser Abend im Stuttgarter Haus der Heimat fand seinen Ausklang in altbewährter Tradition bei Fettbrot mit Zwiebeln und einem gemütlichen Glas Wein.

Waltraut Stirner-Lohrmann, Bad Wimpfen

Schlagwörter: Vortrag, Stuttgart, Herta Müller, Literatur

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