12. Mai 2016

Kirchenburgen und Kirchenburgruinen werden nebeneinander stehen!

Standpunkte von Kurt Franchy, ehemals Stadtpfarrer und Bezirksdechant in Bistritz
Auf dem siebenbürgischen Kirchentag unseres Hilfskomitees (heute: Gemeinschaft Evangelischer Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben im Diakonischen Werk der EKD e.V.; die Redaktion) 1983 in Drabenderhöhe hatte unter anderem eine emotionale Diskussion stattgefunden, in der die Sorge um die Kirchenburgen, aber auch allgemein um die in Siebenbürgen zurückgelassenen Kulturgüter die Anwesenden aufwühlte. In der Absicht, die von Sorgen erfüllten Gemüter zu beruhigen, machte ein Vertreter der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) einen Vergleich mit den an Rhein und Mosel stehenden Burgen. Viele wären zu Ruinen verfallen, andere würden restauriert von Erhabenheit strahlen. Die einen wie die anderen würden von guten und von bösen Zeiten vergangener Jahrhunderte erzählen. Ähnlich könnte es, sagte er, späteren Besuchern in Siebenbürgen ergehen, wenn sie von Ort zu Ort reisen werden. 850 Jahre der Geschichte der Siebenbürger Sachsen werden nicht aus dem Gedächtnis gelöscht werden.
Ruine der ehemaligen evangelischen Kirche in ...
Ruine der ehemaligen evangelischen Kirche in Senndorf; im Hintergrund die neue orthodoxe Kirche. Fotos: Agnes Franchy-Kruppa
In jenen Jahren stritten unsere Landsleute hüben wie drüben, weil „Gehen oder Bleiben“ noch nicht entschieden war. Weitaus dringlicher war für viele unter uns die Frage: „Wie bekomme ich meine Angehörigen aus dem in Not versinkenden Land heraus?“ In den 1980er Jahren hatte sich in Rumänien die Versorgungsfrage von Tag zu Tag zugespitzt. Sogar Grundnahrungsmittel fehlten im täglichen Angebot. In den letzten Monaten vor der Wende hatte der Mangel bedrohliche Formen angenommen. Kleinkinder konnten nicht ausreichend ernährt werden. Um einen Liter Milch standen verzweifelte Mütter oft bei Eiseskälte schon nachts vor der Ausgabestelle und gingen nicht selten leer aus. Elektrischer Strom, Gas und Trinkwasser waren knapp geworden. Die Straßen auch größerer Städte lagen nachts in völliger Finsternis.

Angestellte und leitende Persönlichkeiten verrichteten ihre Amtsgeschäfte in Decken und Mäntel gehüllt. Treibstoffe, Benzin und „Motorin“ waren außer auf Zuteilung nur auf dem Schwarzmarkt zu ­bekommen. Verzweifelte griffen zu lebensgefährlichen Mitteln. Mit Benzin gefüllte Kanister wurden in Koffern getarnt, in überfüllten Personenzügen von A nach B gebracht. Im Fall eines Brandes hätte eine nicht vorstellbare Katastrophe ausgelöst werden können. Im Schutz der Finsternis zapften beherzte Männer haltenden Zügen Treibstoff aus den Dieselloks ab. Es ist verständlich, dass unter diesen Umständen die Sorge der Ausgesiedelten um die in der Heimat verbliebenen Angehörigen die Kontroverse „Gehen oder Bleiben“ in den Hintergrund drückte. Existenzielle Fragen der Verbliebenen wurden vorrangig. Ängste und Panik, man könnte hilflos und verlassen in einem hoffnungslosen Land zurückbleiben, ließen den Gedanken „Was geschieht mit dem, was zurückgelassen wird?“ in den Hintergrund rücken. Gab es nach oft jahrelangem Warten die Möglichkeit zu gehen, war der Schmerz des Abschieds groß. Aber wenige machten sich Gedanken über das Kulturgut, das zurückbleiben musste.

Die 1979 an die orthodoxe Ortsgemeinde übergebene ...
Die 1979 an die orthodoxe Ortsgemeinde übergebene evangelische Kirche von Wallendorf.
Bedenken wir, wie sehr die Existenzgrundlage unseres sächsischen Volkes in den beiden letzten Jahrhunderten Erschütterungen ausgesetzt war, und dass meine Generation in vielerlei Weise erfahren musste, wie ihr der Boden unter den Füßen sehenden Auges entrissen wurde, so verstehe ich Bauern, Handwerker und Intellektuelle, dass sie in den 1980er Jahren an eine Zukunft nicht mehr glauben konnten. Schließlich waren es Regierungen und Diktaturen, die uns ausgenutzt und ausgeliefert hatten. Dazu war unsere Identität durch Ideologien in Gefahr. Unser evangelisches Gesangbuch, Bibel und Katechismus waren an entscheidenden Kreuzungen unserer Wege das letzte Gepäck. 1945 auf dem Weg in die Deportation, Gefangenschaft oder Fremde. Auch auf dem Weg in die westliche Freiheit blieb der Glaube an Gott, den Herrn, der Kraft zu einem Neuanfang schenkt, zu Versöhnung und Vergebung, Kompass unserer Wege.

Erst als wir uns, fern der Heimat, nicht mehr von existenziellen Alltagsängsten geplagt Rechenschaft gaben, was alles zurückgeblieben war, und als wir die alte Heimat besuchten, und den Verfall unserer Kirchen und Kirchenburgen sahen, bewegte uns der Gedanke: „Rettet das Kulturgut!“ Doch wer soll es retten?

Deutlicher als in der Zeit meines Wirkens in Bistritz weiß ich heute, dass es nur die sein können, die den Wert des ihnen vererbten Kulturgutes für ihr Land und seine reiche Vielvölkergeschichte erkennen und schätzen lernen. Die Porta Nigra, Xanten und der Limes werden heute noch von Menschen gehütet und geehrt, ­deren Vorfahren sogar als Barbaren bezeichnet worden waren. Erbfolgegesetze scheinen manchmal unbarmherzig.

Als heute 81-jähriger alter Mann weiß ich die Zeit zu schätzen, die mir Gott schenkte, um Erfahrungen zu sammeln. Ich sah den Hochmut der Nazis und ihrer Anhänger, ich habe die Judenhetze, Evakuierung, Flucht und Zwangsrückführung erlebt. Die kleine Zahl der in die Heimat Zurückgebrachten stand 1945 vor dem Nichts. Das Letzte hatte man uns auf dem „Heimweg“ genommen. Angekommen stellten wir fest: Alles war verloren. Ansehen, Ehre, Hab und Gut. Wir waren zu Fremden, zu Geduldeten geworden. In unseren nordsiebenbürgischen Dorfkirchen waren wir Gäste. Man gestattete uns nur dann Gottesdienste abzuhalten, wenn der Kirchenraum von den in Besitz gesetzten rumänisch-orthodoxen Popen nicht gebraucht wurde. Es gab keine kirchliche Obrigkeit, kein Gesetz und keine Polizei, die uns hätte Recht verschaffen können. Einzig das Evangelium und die Aufforderung Gottes: „Tröstet, tröstet mein Volk“ (Jes. 40, 1) konnte zu Besinnung, Einsicht, Buße und Vergebung führen.

Wir Nordsiebenbürger Sachsen waren zu einer Minderheit geworden. Wir waren nicht mehr wie früher die Starken, Wohlhabenden. Wir waren nicht mehr autark. Wir waren längst auf allen Gebieten aufeinander angewiesen. Hermannstadt war weit, und für manchen war Bistritz und seine Umgebung ein ohnehin aufgegebenes Gebiet. Unter diesen Voraussetzungen sahen wir uns genötigt, mit denen zusammenzuarbeiten, die uns wohlgesonnen und freundlich begegneten. Wir wurden gewahr, dass wir nicht mehr nebeneinander, sondern miteinander lebten. Sollte das in Kirchen nicht auch möglich sein? Mehr zwangsläufig als freiwillig lernten wir Sachsen und Rumänen uns von innen kennen. Das war gut und nützlich. Die Hürde des vom Sozialismus gestützten Nationalismus musste behutsam überwunden werden. Unsere orthodoxen Brüder und Schwestern hatten Ikonen, Ikonostasen und andere in ihren Augen unantastbare Heiligtümer in unseren Kirchen installiert. Von dem Eigentumsrecht unserer Kirche sahen sie sich bedroht. Diese Ängste galt es auszuräumen. Unsere orthodoxen Mitchristen aus unseren Kirchen mit dem Rechtsanspruch zu verdrängen, wäre einer Sünde gleich, und letztlich nicht zu realisieren gewesen. So traten beide Seiten in einen Dialog ein. Erst mussten unsere Gemeindeglieder lernen, dass Unrecht nicht durch neues Unrecht wiedergutgemacht werden kann. Es bedurfte der Achtung, des Feingefühls und seelsorgerlicher Gespräche, bis beide Seiten lernten, dass Gott unter einem Dach und in zwei Sprachen und verschiedenen Riten angerufen werden kann. Es vergingen viele Jahre bis eine Gesinnungsänderung langsam einsetzte.

Nun könnte argumentiert werden, dass die Situation in Nordsiebenbürgen nicht repräsentativ und mit Südsiebenbürgen nicht vergleichbar ist. Das wird im Allgemeinen stimmen. Aber heute, im Jahr 2016 ist sie vergleichbar geworden. Die aus etwa 12000 Gemeindeglieder bestehende Heimatkirche kann die Erhaltung des Kulturgutes allein nicht bewältigen (siehe Zukunft Kirche. Leitsatz: „Aus Glauben Leben in Gemeinschaft gestalten“, EKR 2013). Wichtige Projekte sind angestoßen worden. Mit einer langfristigen Hilfe von Seiten der Heimatortgemeinschaften kann meines Erachtens nur bedingt gerechnet werden. Wie lange und in welchem Umfang die sog. EU-Mittel zur Verfügung stehen können, ist eine offene Frage. Hinzu kommt, dass Generationen gehen und andere kommen. Die Frage bleibt: Wer oder was kann helfen? Zweifellos ist die Suche nach Schuldigen der falsche Weg. Die historische Entwicklung beklagen, uns, die Ausgesiedelten auf der einen oder Verbliebenen auf der anderen Seite, gegenseitig zu beschuldigen und zu beleidigen, wird uns und den Kulturgütern nicht nützen. Aus Sicht eines Nordsiebenbürgers kann nur ein Umdenken und neue Wege wagen aussichtsreich sein. Bedenken wir Beispiele aus Nordsiebenbürgen.

Klassische Beispiele sind die spätgotische Kirche in Treppen / Tărpiu und die Basilika in Mönchsdorf / Herina. Besonders die Restaurierung der vom Brand 2008 schwer beschädigten Stadtkirche in Bistritz zeigt uns, dass nur mit massiver Hilfe der Stadtverwaltung Bistritz sowie der EU-Mittel eine Erhaltung dieses außergewöhnlichen Denkmals möglich wurde. Abgesehen von diesen Beispielen, die uns die Hilfen des rumänischen Staates und der Europäischen Union zu Gute kommen ließen, kommt es auf die ökumenische Begegnung der Menschen vor Ort an. Dort, wo staatliche oder kommunale Hilfe nicht möglich war, haben viele orthodoxe Gemeinden die Instandhaltung und Pflege unserer ehemaligen evangelischen Kirchen übernommen. In Senndorf / Jelna konnte die orthodoxe Gemeinde die Restaurierung der mit reichen vorreformatorischer Wandmalereien ausgestatteten Kirche nicht schultern. Dafür hat die Kreisverwaltung die Verantwortung für die Kirchenruine übernommen. Die Kirche meiner ersten Gemeinde Wallendorf ist intakt, und mehr als ein Dutzend ehemalige evangelische Kirchen im Umkreis von Bistritz wurden von den orthodoxen Gemeinden übernommen, restauriert und würdevoll erhalten.

Unverkennbar zeugen diese Kirchen auch heute für 850 Jahre sächsische Geschichte. Gebäude, Einrichtungen, und heute gepflegte Sitten und Bräuche in Bistritz haben ihre Vorbilder aus der sächsischen Vergangenheit. Die Stadt ist stolz auf die deutschen Gründer, und die Erben achten unsere Vorfahren und ihre Leistungen. Die heutige Situation in der Stadt meiner Vorfahren ist nur möglich geworden, nachdem wir Sachsen und Rumänen uns einander nähergekommen sind und uns besser achten und schätzen gelernt haben. Voraussetzung dafür war die gegenseitige Anerkennung und Wertschätzung der verschiedenen Traditionen, Konfessionen und deren Riten. Dabei haben wir nicht nur verzichten gelernt, sondern haben dort gewonnen, wo heute Früchte reifen. Diese Ergebnisse langjähriger und erfolgreicher Annäherung ermöglichen auch heute Begegnungen, die auch in Zukunft verbinden können.

Am Kirchentag 1983 hatte jener Kirchenvertreter für viele Unvorstellbares vorausgesagt. Inzwischen wissen wir, dass Restaurierungen stattfinden und dass trotzdem seit mehreren Jahren Kirchen im Süden Siebenbürgens vom Verfall bedroht sind. Kürzlich wurde eine zur Ruine, andere sind in Gefahr, es zu werden.

Kurt Franchy­

Schlagwörter: Kirchenburgen, Renovierung

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