24. September 2019

Elf Fragen an Dagmar Dusil, die Dorfschreiberin von Katzendorf

Am Rande der Autorenlesung im Zeitungs-Café Hermann Kesten in der Stadtbibliothek Nürnberg am 28. März 2019 fand ein Interview-Gespräch zwischen der Autorin Dagmar Dusil und dem Moderator des Abends, Josef Balazs, statt. Einen gut gelenkten Zufall nannte Balazs diese Lesung und das Interview, denn wenige Tage davor hatte Dagmar Dusil ihr neues Buch „Auf leisen Sohlen. Annäherungen an Katzendorf" (Pop-Verlag, Ludwigsburg, 2019) auf der Leipziger Buchmesse vorgestellt. Dagmar Dusil war 2018 die fünfte Katzendorfer Dorfschreiberin. Ihr neues Buch ist das Resultat ihres einjährigen Aufenthaltes in der Dichterklause im Katzendorfer Pfarrgarten.
(1) Als Sie den Dorfschreiber-Preis von Katzendorf bekommen haben, kündigten Sie an, sich auf die stille Zeit im Wohnturm des Pfarrhauses zu freuen. War es denn eine stille Zeit?

Es stimmt, dass ich angekündigt habe, mich auf die Zeit in Katzendorf, auf die geschenkte Zeit in der Dichterklause zu freuen, ohne die alltäglichen Pflichten des Alltags. Zeit ist ein zentrales Thema, um das wahrscheinlich nicht nur mein Denken immer wieder kreist und die Frage aufkommen lässt, was Zeit überhaupt ist, was Zeit mit uns macht. Das Thema meiner Diplomarbeit hatte zum Thema die Zeit als vierte Dimension im Roman „Das Alexandria Quartett“ von Lawrence Durrell. Wir existieren durch die Zeit, die in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zerhackt wird, obwohl es im Grunde genommen nur den Augenblick gibt. Zeit wird auch geographisch verschieden empfunden. Der Indologe Glasenapp erzählte seinen Studenten, dass die Zeit westlich des Hindukusch laufe, während sie östlich davon stehe. Doch zurück zu Ihrer Frage, ob es eine stille Zeit war? Es war eine intensiv gelebte und erlebte Zeit. Mit beiden Begriffen Zeit und Stille beschäftige ich mich in meinem Buch „Auf leisen Sohlen“ in den Kapiteln „Der Klang der Stille in den Jahreszeiten“ bzw. „Zeit in Katzendorf – ein Stück Siebenbürgische Zeit“.


(2) Auf der Leipziger Buchmesse 2015 haben sie Ihr Buch „Blick zurück durchs Küchenfenster“ präsentiert, dabei ein Gespräch geführt und ein kleines Drei-Gang-Kostprobenmenü siebenbürgischer Spezialitäten serviert. Was haben Sie den Leipzigern damals aufgetischt?

Es war ein sehr gelungener Abend, die Veranstaltung bis auf den letzten Platz ausverkauft. Für das Menü war ein Koch verantwortlich, der Rezepte aus dem Buch nachgekocht hat. Das ist nun vier Jahre her, und ich versuche mich zurück zu erinnern, was es zu essen gab: Als Vorspeise Vinetesalat (Auberginensalat) und Schinken in Aspik, als Hauptgang Rahmschnitzel mit Beilagen und als Nachtisch Zitronencreme. Für mich persönlich waren stets die Geschichten um die Rezepte wichtig. Im Juni erscheint zu meiner Freude das Buch in englischer Übersetzung.
Dagmar Dusil und Josef Balazs während des ...
Dagmar Dusil und Josef Balazs während des Interviews im Zeitungs-Café Hermann Kesten in der Stadtbibliothek Nürnberg am 28. März 2019. Foto: G. Balazs
(3) Ihrem Buch „Blick zurück durchs Küchenfenster“ ist zu entnehmen, dass das Leitmotiv Ihrer Kindheit „Bist du Gottes Kind, so hilf dir" war. Inwiefern gilt dieser wunderbare Spruch auch heute noch für Sie?

Dieser Spruch ist für mich noch immer aktuell. Sich selbst zu helfen, ist die einzige Möglichkeit des Überlebens, wenn man keine Lobby hat, und die hatte ich nie, weder in Rumänien, noch hier in Deutschland. Sich selbst helfen, bedeutet auch nichts erzwingen zu wollen, Dinge auf sich zukommen zu lassen und wenn nötig Altes loszulassen, sich auf Neues einzulassen, Unabänderliches zu akzeptieren, auf das kleine Quäntchen Glück zu vertrauen, das nötig ist, und hoffen, am richtigen Ort, zur richtigen Zeit, den richtigen Menschen zu begegnen.


(4) Heimat ist in unserer Zeit ein inflationärer Begriff. Menschen, die nie die Gelegenheit hatten, ihre Heimat verlassen zu müssen, haben wenig Verständnis für diesen Begriff. Auf der Buchmesse 2019 in Leipzig wurden Neuerscheinungen, darunter auch Ihr Buch, im Forum OstSüdOst, Halle 4, unter der Überschrift „Heimat als Versuchung – Das nackte Leben. Das Gedicht ist Heimat für alle, die keine haben!“ präsentiert. Ist für Sie Heimat als Versuchung zu verstehen?

Der Begriff Heimat ist in den letzten Jahren salonfähig geworden. Jeder muss den Begriff für sich definieren. Heimat kann Sprache sein, angestammte Umgebung, vor allem jedoch ein Gefühl, ein bestimmter Geruch oder der Geschmack gewisser Speisen. Heimat ist nicht zuletzt Kindheit, Orte der Kindheit, Heimat ist Erinnerung. Wir tragen Heimat in uns als Sehnsucht oder als Verdrängung. Es gibt keine pauschale Definition der Heimat. In der heutigen Zeit bekommt der Begriff Heimat eine neue Bedeutung. Die Globalisierung drückt ihren Stempel dem Begriff Heimat auf. Nicht nur „dort“, sondern auch „hier“ ist Heimat. Ich bin in einer Familie aufgewachsen, die geprägt war von Heimatlosen, die eine neue Heimat in Siebenbürgen gefunden haben, für die Siebenbürgen Heimat als Versuchung zu verstehen war. Mein Urgroßvater kam aus Italien, um Brücken in Siebenbürgen zu bauen, Brücken, die später für mich Symbolcharakter hatten. Mein Großvater mütterlicherseits war Möbeltischler, der sich eine eigene Welt gezimmert hat, der Großvater väterlicherseits hatte seine Heimat in der Musik. Meine Wurzeln liegen in Siebenbürgen, in Deutschland meine Luftwurzeln.


(5) Der Schweizer Schriftsteller Max Frisch hatte die Gabe, ungewöhnliche Fragen zu stellen. In seinem Tagebuch hat er eine Gruppe Fragen, die sich auf die HEIMAT beziehen; z.B. die bekannte und berüchtigte Frage: Wieviel Heimat brauchen Sie? Wie würden Sie auf diese Frage antworten?

Kann man Heimat quantifizieren? Ich brauche so viel Heimat, damit ich mich komfortabel fühle, nicht zu viel und nicht zu wenig. Heimat muss passen wie ein maßgeschneidertes Kleidungsstück.


(6) Für Sie, liebe Frau Dusil, hat Max Frisch eine andere, ganz auf Sie zugeschnittene Frage hinterlassen: Welche Speisen essen Sie aus Heimweh [...] und fühlen Sie sich dadurch in der Welt geborgen?

Nein, ganz und gar nicht. Ich kenne kein Heimweh, eher eine latente Sehnsucht, ein Zulassen der Erinnerung kann diese Sehnsucht zeitweilig stillen. Wahrscheinlich ist mit dem Essen aus Heimweh eine große Gefahr verbunden, nämlich dass es in Frustessen ausartet. Das ist mir fremd. Ich verstehe auch nicht die Hysterie um das Mici-Essen. Speisen können für mich nicht Geborgenheit bedeuten. Es sind Erinnerungen, die ich damit verbinde. Manchmal ist ein bestimmter Geruch oder Duft eher der Auslöser, um Erinnerungen lebendig werden zu lassen und in eine längst vergangene Geborgenheit zu führen.


(7) Der Preis des Dorfschreibers von Katzendorf ist verbunden mit folgendem Angebot: „der Dorfschreiber kann wohnen nach Schreibeslust ein Jahr lang im Pfarrhaus von Katzendorf/Cața und das Preisgeld als tägliches Brot hinnehmen. ER/SIE kann und soll sich umsehen, in die Sprache der Dorfbewohner hineinhören, sich wundern, mitreden, um einen Dichterbeitrag zum gegenwärtigen Transsilvanienbild hinzuzufügen.“ Haben Sie sich in Katzendorf umgesehen? Worüber haben Sie sich gewundert?

Oh ja, ich habe mich gründlich umgesehen und auf die Zwischentöne genau geachtet. Ich habe mich gewundert und gestaunt, über jene, die die Zeit zurückdrehen möchten, über jene, die das Jetzt nicht akzeptieren, über die Schere, die immer mehr auseinanderklafft zwischen Arm und Reich. Gestaunt habe ich über ein Land, in dem ich so viele Jahre gelebt habe und das sich mir von einer gänzlich neuen Seite präsentiert hat.


(8) Sie haben öfters bei der Herausgabe Ihrer Bücher mit anderen Künstlern zusammengearbeitet. Meistens Frauen, so die Malerin Sigrid Weinrich, oder Sieglinde Bottesch oder Sieglinde Wölfel. Wie ist diese Zusammenarbeit entstanden? Wer suchte wen?

Wenn von meinen Texten die Rede ist, bin ich auf die anderen Künstler zugegangen. Es gibt auch den umgekehrten Fall, wo ich Texte zu den Werken eines Bildhauers und einer Malerin verfasst habe. Klaus Jürgen Rückel ist ein politisch engagierter Bildhauer, seine Frau Veronika Strehlau-Rückel eine sensible Malerin. Ich habe viel von beiden gelernt. Es war eine wunderbare Zusammenarbeit, wir haben auf der gleichen Wellenlänge gedacht.


(9) Im Februar 2011 wurden Sie in Rottweil zur „siebenbürgischen Ritterin wider den tierischen Ernst" gekürt. Welche Rolle spielt Humor in Ihrem Leben? Worüber können Sie nicht lachen?

Humor ist eine der wichtigsten Eigenschaften, die für mich zählt. Humorlose Menschen sind mir ein Gräuel. Wer nicht über sich selbst lachen kann, ist ein armer Tropf. Ich kann nicht über rechtes, nationalistisches und rassistisches Gedankengut lachen. Oder über Menschen, die meinen, alles besser zu wissen, die sich ständig loben und für unfehlbar halten.


(10) „Das Schreiben ist zu mir gekommen", sagten Sie in einem Interview von Radio Bukarest 2017. Wie und wann ist das Schreiben zu Ihnen gekommen? Ihr Debüt, zumindest was das Gedicht betrifft, erfolgte 1980; wie ging es weiter?

Schreiben ist wie jedes andere Talent ein Geschenk, mit dem jedoch harte Arbeit verbunden ist. Ich habe schon immer geschrieben, doch spät begonnen zu veröffentlichen. Schreiben ist eine einsame Tätigkeit, man begegnet sich selbst, schafft sich eine eigene Welt. In Rumänien habe ich Gedichte, Kurzgeschichten, kleine Theaterstücke für die Schüler geschrieben. In Deutschland habe ich viele Jahre als Übersetzerin und in der Werbung gearbeitet. Irgendwann habe ich dann nur noch geschrieben, es war wie ein Akt der Befreiung nach meiner Arbeit in der freien Marktwirtschaft.


(11) Auf der Leipziger Buchmesse 2019, am Rumänien Stand, Halle 4, war eine Lesung und ein Gespräch mit Dagmar Dusil und ihrem neuen Verleger Pop angekündigt. Der Titel lautete: „Katzendorf, ein Ort in Siebenbürgen. Autoren aus Deutschland sprechen über dieses ungewöhnliche Dorf". Eines ist klar: die ganze Welt kennt nun Katzendorf. Wer freut sich am meisten, Frieder Schuller, der Initiator der Kulturtage, die Dorfbewohner von gestern, die Dorfbewohner von heute? Warum ist dieses Dorf so ungewöhnlich?

Nennen Sie ein Dorf in Siebenbürgen, über das drei Bücher geschrieben und eine Radiosendung ausgestrahlt wurde. Katzendorf ist zum „Weltdorf“ mutiert. Frieder Schuller wird sich über die verschiedenen Sichtweisen auf das Dorf freuen, eventuell auch die Dorfbewohner von gestern, doch dazu müssten sie die Bücher lesen. Damit die Dorfbewohner von heute sich erfreuen, müssten die Bücher ins Rumänische oder Ungarische übersetzt werden. Katzendorf ist wahrscheinlich durch die Zusammensetzung seiner Bevölkerung speziell. Es hat jedoch auch viel mit den anderen siebenbürgischen Dörfern gemeinsam: Es hat eine Kirchenburg, ein Romaviertel, Sommersachsen. Was es von den anderen Dörfern unterscheidet, ist wahrscheinlich das Kulturfest, das Frieder Schuller seit vielen Jahren organisiert; und welches Dorf kann sich schon mit fünf Dorfschreibern rühmen?


Liebe Frau Dusil, ich danke für dieses schöne Gespräch, wünsche Ihnen viel Erfolg bei ihren vielfältigen Projekten.

Schlagwörter: Interview, Dusil, Balazs, Nürnberg, Literatur, Katzendorf, Dorfschreiberin

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