29. Oktober 2020

„Tief in mein Herz eingegraben“ - Begegnung mit der „Sinkenden“ von Margarete Depner

Ich erinnere mich, dass ich als Kind über Umwege erfuhr, dass unsere liebe Mutter einer Künstlerin in Kronstadt Modell gestanden habe und das war für mich damals schon etwas ganz Besonderes. Für unsere so nüchternen, fast ein wenig puritanischen, siebenbürgisch-sächsischen Hirne war ein Akt etwas Außerordentliches und lag im Grenzbereich des gerade noch Zulässigen. Der zu meiner Zeit geförderte sozialistische Realismus hatte alle „bürgerliche Kunst“ verdrängt und ganz besonders unsere Kunst und Geschichte.
Edda Petri bei ihrer „Sinkenden“. Foto: Volker ...
Edda Petri bei ihrer „Sinkenden“. Foto: Volker Petri
Heuer bekam ich Gewissheit, dass meine Mutter in ihren jungen Jahren 1933 von der damals berühmtesten Künstlerin abgebildet wurde. Den Stein brachte das Buch „Margarete Depner. Eine Bildhauerin in Siebenbürgen“ von Rohtraut und Joachim Wittstock ins Rollen. Sie beschreiben das reiche und einzigartige künstlerische Erbe ihrer Großmutter und vergegenwärtigen ihre Geschichte. Mit vielen Details, einfühlsam und gut dokumentierten Fakten wird ihr Leben und Schaffen dargestellt. Eine ihrer eindrucksvollen Plastiken ist „Die Sinkende“ (siehe dazu Margarete Depners „Sinkende“ im Kunstmuseum Stuttgart) Die bekannte siebenbürgische Schriftstellerin Karin Gündisch, meine Studienfreundin, machte mich auf das Buch aufmerksam und sagte mir, dass „Die Sinkende“ von 1933 meine Mutter Herta Wagner, geborene Dworak, darstelle. Ich kaufte das Buch und vertiefte mich in den Text und die Bilder der begnadeten Künstlerin. Das Dunkel kindlicher Vermutungen bekam Gewissheit. Eine große Unruhe befiel mich und ich wünschte unbedingt die Skulptur zu sehen und mich so meiner viel zu früh verstorbenen Mutter zu nähern.

Mitte August fuhr ich voller Anspannung und Erwartung ins Kunstmuseum Stuttgart. Ich lief an allen anderen Exponaten vorbei und suchte die „Sinkende“, die ich in dem letzten Ausstellungsraum fand. Sie schien mir wenig gekonnt platziert und kommt dort, meines Erachtens, zu wenig zur Geltung. Einfach in den Raum, direkt aufs Parkett gestellt, steht sie im Zwielicht von Tageslicht und Beleuchtung.

Ich nähere mich ihr mit schnellen Schritten, danach zögere ich und bleibe aufgeregt stehen. Ich lasse sie auf mich wirken, versuche jedes Detail zu erfassen und merke, wie mich das Kunstwerk in seinen Bann zieht. Ich suche die richtige Entfernung für die beste Nähe! Vom ersten Augenblick an erkenne ich meine Mutter, finde im Kunstwerk die mir vertrauten Züge. In meinem Gedächtnis tauchen ihre Jugendfotos auf und helfen mir, sie zu identifizieren.

Als 72-Jährige stehe ich ihrem steinernen Bildnis gegenüber, ihr, der damals 17-Jährigen, der schönen und wunderbaren Jugendlichen, meiner Mutter. Wehe Erinnerungen verdunkeln für Augenblicke ihr Bildnis, als sich das vom Tod gezeichnete liebe Antlitz aus der Erinnerung meldet und davor schieben will. Vor über 60 Jahren hatte sie mir der grausame Tod entrissen, ich war ein zwölfjähriges Kind. Ich bedauere, dass man mich damals „schonen wollte“, mir ihre todbringende Krankheit verschwieg, verheimlichte. Ich erinnere mich an die zitternde Stimme meines Vaters, als er mir am Heiligen Abend 1960 mit Tränen in den Augen sagte: „Mutti hat uns für immer verlassen!“ Meine kindliche Welt brach zusammen und ihr Tod beendete die unbeschwerte Zeit. Eine tiefe Wunde im Herzen hält die Erinnerung wach und immer wieder bricht der Schmerz auf.

Angesicht der wunderbaren Plastik schwindet die große zeitliche und räumliche Distanz und ich fühle mich ihr ganz nahe, bin ihr innig verbunden. Für kurze Zeit gehört sie jetzt mir allein und ich bin glücklich, dass kein Besucher stört. Ihr Bildnis nimmt Besitz von mir, ich fühle mich beschenkt und tiefe Dankbarkeit bewegt mich und lässt mich für Augenblicke in staunende, liebevolle Betrachtung versinken.

Ich stelle mich hinter sie und berühre mit zitternden Fingern den fein gearbeiteten Marmor, streichle den Formen nach. Ich halte ihren Kopf mit beiden Händen, geh sanft über ihre Schultern und sag ihr in Gedanken: „Mutti, ich bin hier! Ich bin dir ganz nahe!“ Ein warmer Vorhang von Tränen trübt meinen Blick und ich fühle mich wie im Traum. Der kalte Stein jedoch sagt mir, sie ist es, die „Frühverlorene“, der ich nun im fremden Museumsraum nach so langen Jahrzehnten begegnen darf. Ich finde einen neuen und einzigartigen Zugang zu ihr.

Von den kunstbegnadeten Händen der Bildhauerin in Stein verewigt, steht sie vor mir und ich versuche neugierig und sehnsüchtig noch mehr Details aufzunehmen, ihr noch näher zu kommen. Von allen Seiten und aus allen möglichen Perspektiven betrachte ich immer von neuem die Plastik, das in Stein gearbeitete Bild meiner lieben Mutter.

Ich überlege, wie weltoffen und mutig sie damals war, als sie sich der Künstlerin anvertraute, ihren Blicken aussetzte, sich ihr mutig ergab! Nicht nur ihre Gestalt, ihre ganze Persönlichkeit floss durch die schöpferische Hand der Bildhauerin in das unverkennbare, steinerne Bildnis und verschmolz zu diesem Unikat. Einfühlsam, klassisch und naturgetreu beugt sie sich der künstlerischen Idee und wird zur „Sinkenden“, damit Deutung und Symbol. Mir fällt das Zitat der Künstlerin ein: „Ist Schönheit der Sinn der Kunst, oder ist Kunst der Sinn, das Ziel der Schönheit?“ Das Werk ihrer Hände zeigt natürliche Schönheit, vollkommene Formen, künstlerische Ästhetik und feinstes, kunsthandwerkliches Können und dieses weckt den Stein zum Leben, schenkt ihm Ausdruck und Kraft. Ich fühle ihre Sympathie für dieses Modell, ahne ihre einfühlsame Wertschätzung und höre ihre Worte, denen zufolge „Herta Dworak ein kluges, anmutiges Mädchen war. Oft lag ein leichtes Lächeln auf ihren Lippen, häufig nahm ihr Blick einen sinnenden Zug an.“

Ich ahne die innere Spannung dieses Kunstwerkes. Die natürliche Vollkommenheit des jugendlich-schönen Mädchenkörpers einerseits und die gebeugte Haltung der Sinkenden anderseits. Der jugendliche Nacken und der mit dem Konch/Dutt gezierte Kopf ist geneigt. Der zarte Mund mit den schmalen Lippen, die schöne Nase und das harmonische Antlitz mit den steinernen Augen blicken nach unten, in unsichtbare Tiefen, und es scheint mir, sie verweilt im stillen Sinnen. Mit Absicht hat Margarete Depner dem jugendlichen Körper nicht ein zuversichtlich nach vorne blickendes Gesicht gegeben, denn Kunst will mehr.

Ich frage mich, will die Künstlerin das „Sinken und Vergehen“ siebenbürgisch-sächsischer Wirklichkeit aufzeigen? Drückt diese Haltung nicht bewusst auch Schmerz und Trauer aus? Wird siebenbürgische Schwermut im geneigten Antlitz sichtbar? Für mich, ihre Tochter, deutet „die Sinkende“ auf ihren frühen Tod hin und bei diesem Gedanken erfasst mich Trauer und Schmerz. Nachdenklich verweile ich noch ein wenig im Betrachten, staune über das Werk, das künstlerisch veredelte und steinerne Abbild. Ich erkenne, wie das Werk anscheinend aus dem Marmorblock wächst und die Füße im Stein verwurzelt scheinen. Die zarten Hände, die über die Tastatur des Klaviers laufen konnten, sind an die Oberschenkel gelegt und plötzlich wirkt sie so ergeben.

Es fällt mir schwer, mich zu trennen und einfach wegzugehen, sie allein zurückzulassen. Auf halbem Weg kehre ich um und vertiefe mich ein letztes Mal in dieses, ab nun auch mein Kunstwerk. Traurig und unendlich beschenkt nehme ich Abschied und präge mir das Bild ein. Bald stelle ich fest, dass die vielen Fotos, die digitalen Bilder viel zu klein, unbedeutend und unscharf sind. Die Bilder meiner Erinnerung und „Die Sinkende“ haben sich tief in mein Herz eingegraben.

Edda Petri, geb. Wagner

Schlagwörter: Kunst, Bildhauerei, Skulptur, Depner, Künstlerin, Petri, Stuttgart, Ausstellung

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