23. Januar 2021

Exodus – Zeitzeugen berichten

Das Ende des totalitären Ceaușescu-Regimes markiert einen epochalen Einschnitt in der Geschichte der rumäniendeutschen Minderheit der Siebenbürger Sachsen. Mit den komplexen Prozessen des Exodus hat sich der Historiker Prof. Dr. Hans-Christian Maner in seinem Beitrag „Das Ende der Geschichte? Siebenbürger Sachsen 30 Jahre nach dem Exodus“ auseinandergesetzt. Die Redaktion der Siebenbürgischen Zeitung hat Zeitzeugen dazu aufgerufen, über ihre persönlichen Erfahrungen von Heimatverlust und neuer Existenzgründung zu berichten. Wie bereits in der Siebenbürgischen Zeitung (SbZ) Online vom 23. November 2020 und der SbZ Online vom 23. Dezember 2020 können Sie nachfolgend weitere ausgewählte Zeitzeugenberichte lesen.
Flucht aus Siebenbürgen am 2. November 1989

Ich bin aus Großpold. Meine Fluchthelfer waren mein Schwager, mein Nachbar Martin und ein Hirte aus Jina, der nebenberuflich auch Busfahrer war. Zehn Jahre habe ich vergeblich versucht, über einen legalen Pass nach Deutschland auszureisen. Meine Verlobte war schon 1986 mit ihren Eltern nach Deutschland ausgewandert und sie war schwanger mit unserem ersten Kind. 1987 wurde dann meine Tochter Sigrid geboren. Meine Verlobte und meine Tochter durften aber wegen der 1-Jahres-Regelung nicht ins Land einreisen. Von 1986 bis 1989 habe ich alle legalen und illegalen Wege versucht, um das Land zu verlassen. 1988 habe ich dann begonnen, meine Flucht aktiv zu planen. In diesem Jahr wurde ein Rumänienatlas offiziell über einen Verlag gedruckt, der Militärkarten enthielt, auf der die ganzen Grenzregionen Rumäniens abgebildet waren. Der Grenzstreifen war eingezeichnet, sogar die Grenztürme waren alle 500 Meter eingezeichnet. Mein Nachbar Martin hatte ihn sich als Autoatlas für seine Reisen mit der „Dacia“ gekauft. Der Druckfehler wurde erst eine Woche später festgestellt und der Atlas eingezogen. Da waren schon viele verkauft, weil sie sehr genau und gut waren. Den Weg über die Grenze auf dem Festland bei Bela Crkva (der andere Weg wäre Schwimmen über die Donau gewesen) hat mein Schwager von anderen Flüchtlingen erhalten und ich konnte ihn mit dem Kompass nach militärischer Art auf die Karte übertragen.

Ich habe mir schwarze Kleidung und geeignetes Schuhwerk für die Flucht besorgt und die Taschenlampen abgedeckt (nur ein kleiner Punkt von zwei Millimeter durfte sichtbar sein, damit man nicht entdeckt wird). Als Nächstes habe ich Kontakt mit den Hirten aufgenommen, die ihre Schafe in der Grenzgegend hatten (einer der Hirten war gleichzeitig unser Busfahrer, mit dem ich als Pendler immer nach Mühlbach zur Arbeit gefahren bin). Ein Bekannter aus Mühlbach wollte mit mir zusammen die Flucht wagen. Er hat sich genauso wie ich auf den Tag X vorbereitet.

Fluchttag 1: Der Treffpunkt mit den Hirten aus Jina war morgens um vier Uhr am Dorfausgang. Da lief schon alles schief. Wir hatten nicht besprochen, an welchem Dorfausgang wir uns treffen wollen. Es gab zwei Dorfausgänge: Mit den Bus aus einer Richtung und mit dem Jeep „ARO“ über einen Feldweg aus der anderen Richtung. Natürlich stand ich am falschen Dorfende und habe gewartet. Nach einer gefühlten Ewigkeit sind doch noch Scheinwerfer aufgetaucht. Der Hirte hat gedacht, dass wir einen Rückzieher machen, und das Gleiche habe ich auch von ihm gedacht.

In Langendorf angekommen, wo der Bekannte gewohnt hat, der mitkommen sollte, war es schon Tag; nur die Fensterläden bei meinem Bekannten waren noch geschlossen. Das nächste Fiasko stand mir bevor. Er wollte jetzt nicht mehr mitkommen. Er hatte natürlich auch große Angst, dass ihm etwas passiert, und daher musste ich ihn erst einmal lange dazu überreden. Ich muss noch dazu sagen, dass wir uns mit einem Dreitagebart und unserer Kleidung den Hirten angepasst haben und sogar Hirtenhütchen aufhatten. Die Feldwege und der Jeep haben uns gut durch die Westkarpaten, nahe an Reschitza vorbei, in die Nähe der Grenze gebracht. Dort wurden wir von Grenzsoldaten kontrolliert, die über das Autoschild wussten, dass wir aus Hermannstadt kamen. Sie meinten, dass „es dort guten Schnaps gibt“. Ich kann mich noch gut erinnern, dass ich dann drauf geantwortet habe: „Schnaps habe ich keinen, aber der Kaffee ist dieses Jahr besonders gut gereift“. So wechselte ein Kilo Deutschlandkaffee den Besitzer und wir durften endlich weiterfahren.

Irgendwo im Nirgendwo der Landkarte sind wir nachmittags ausgestiegen und zu Fuß losmarschiert. Wir mussten gleich am Anfang unseres beschwerlichen Weges durch dichtes Gestrüpp. Nachher hat sich der Wald dann gelichtet und viele alte hundertjährige Eichen haben unseren Fluchtweg gesäumt. Wir waren mit allen Sinnen aufs Äußerste angespannt, die Angst war allgegenwärtig. Plötzlich hörten wir komische Geräusche, die wir nicht kannten und daher auch nicht einordnen konnten. Ein Grenzsoldat ritt plötzlich an uns vorbei, einige Hundert Meter weiter hat ein Hirsch einen Brunftschrei ausgestoßen, einige Hunde haben gebellt und Schafherden und Hirten waren in der Nähe. Jedes Geräusch war beängstigend für uns, da es auch immer bedeuten konnte, geschnappt oder erschossen zu werden.

Wir haben dann endlich den Grenzfluss Nera gesehen. Diesen Fluss mussten wir ungesehen durchwaten, dann noch einen Berg hoch und über einen sechs Meter breiten Grenzstreifen, der mit Grenztürmen, Stacheldraht, Sandstreifen, Tretmine und Dornenzäunen unsere Flucht verhindern sollte. Wir haben uns am Fluss unsere Kleider ausgezogen und haben diese wie die Indianer zusammengebunden und hoch über unsere Köpfe gehalten und sind durchgewatet. Das Wasser reichte uns zum Glück nur bis ans Knie. Wir haben uns dann schnell angezogen und sind weitermarschiert. Parallel zum Fluss war ein Bewässerungsgraben ausgehoben, der Wasser führte. Unsere Überlegung war, dass der Fluss Nera nur bis ans Knie geht, da der Graben auch nicht tiefer ist. Dem war leider nicht so und das Wasser ging uns bis zur Brust und alle Kleider wurden nass. Zum Glück war es ein wunderschöner warmer Novembertag mit viel Sonnenschein, sonst hätten wir uns wahrscheinlich den Tod geholt.

In der Zwischenzeit wurde es dunkel und wir waren an der richtigen Grenze. Wir sind einfach drübermarschiert, haben die Sandstreifen mit zwei Sprüngen überquert und waren in Serbien. Als „Begrüßung“ fuhr ein Jeep der Grenzpolizei vorbei, ohne uns zu sehen. Wir liefen über einen frisch umgepflügten Acker und versteckten uns an der Hauptstraße im Graben, wo meine Verlobte uns mit ihrem Vater abholen sollte.

Ich habe den Kompass immer 280 Grad in Richtung Westen gehalten und bin mit einer Abweichung von 100 Metern nach 26 Kilometern endlich in Jugoslawien (Straßengraben) angekommen. Keine 20 Minuten später fährt ein Ford mit Pforzheimer Nummer vorbei. Ich springe aus meinem Versteck heraus und pfeife kräftig. Das Auto hält an, fährt rückwärts. Meine Verlobte und mein Schwiegervater steigen aus und wir begrüßen uns kurz. Mein Gedanke: Nur weg von der Grenze. Mein Bekannter und ich steigen beide ins Auto und wir fahren los Richtung Belgrad mit unserem Endziel Maribor. Die beiden „Fahrer“ haben uns die ganze Nacht durch Jugoslawien gefahren. Ich kann mich nur vage an unbeleuchtete kleine Dörfer und Ortschaften erinnern, durch die wir durchgefahren sind.

Tag 2: In Maribor angekommen hat der Tag gegraut. Wir konnten die Flucht nicht mehr fortsetzen, weil wir sonst gesehen worden wären. Mein Schwiegervater hat kurzerhand ein Häuschen auf einem Campingplatz außerhalb Maribors gebucht. Dort haben wir den ganzen Tag ausgeharrt und auf die Nacht gewartet. Ich weiß wirklich nicht mehr, ob wir überhaupt geschlafen haben, so angespannt war die Situation noch immer für uns. Die nächste Etappe war ein Weg nachts über einen Friedhof, dann hoch in die Karawanken und von da rüber nach Österreich. Der Tag ist schnell verstrichen. In der Abenddämmerung sind wir dann wieder los. Am Friedhof, der außerhalb der Stadt war, sind mein Bekannter und ich rausgesprungen und losgegangen. Keiner von uns wusste, dass an diesem Tag Totensonntag war. Der Friedhof, der sonst vollkommen leer war, war an diesem Abend von Menschen überlaufen. Alle gedachten ihren Toten und entzündeten Kerzen an den Gräbern. Wir hofften einfach nur, da durchzukommen und dass uns keiner anspricht, da wir sonst sofort aufgeflogen wären.

Glücklich kamen wir am Ende des Friedhofs an, kletterten durch die Büsche und machten uns auf den Weg hoch in die Karawanken. Zwischendurch haben wir Schüsse gehört, die von der anderen Bergseite herüberhallten. Wir glaubten aber, dass die Schüsse an der Grenze gefallen wären. Die Angst hatte uns wieder im Griff. Im Nachhinein waren es Schüsse von Jägern, die auf der Jagd waren. Es ging steile Abhänge hinauf und rasant wieder hinunter, oft auch auf dem Hosenboden. Die umgestürzten trockenen Tannen mit ihren Ästen haben uns sehr zu schaffen gemacht beim Durchkriechen. Plötzlich standen wir vor einer „Sandschlange“, die im Wald ausgestreut war. Der Mond hat uns mit seiner Beleuchtung sehr unterstützt. Pflöcke im Boden zeigten uns die Richtung. Auf einer Seite stand SFJ (Jugoslawien) auf der anderen AU (Österreich). Nach ca. zwei Stunden Marsch wurde die Unsicherheit immer größer, wo wir eigentlich sind. Plötzlich hörte der Wald auf. Weinberge auf Spalier waren vor uns und in der Nähe ein beleuchtetes Haus. Wir lagen im Graben des Weinbergs. Da öffnete sich die Türe und eine Frau schüttete die Waschschüssel zur Türe raus. Sie sprach mit ihren Mann österreichisch, den Dialekt, den ich selbst spreche. Da fiel uns ein Stein vom Herzen, denn wir wussten nun, wir waren endlich in Österreich. Wir sahen zwei Kilometer weiter eine Tankstelle, die das Logo mit dem schwarzen feuerspeienden Hund trug (AGIP). Die Tankstellen gab es nur im „Westen“. Da wussten wir endgültig, dass wir es geschafft hatten.

Beim Parkplatz an der Tankstelle haben meine Verlobte und mein Schwiegervater, die in der Zwischenzeit offiziell mit deutschem Pass über die jugoslawische Grenze gekommen sind, auf uns gewartet. Das Wiedersehen war einfach großartig!

Tag 3: Der Weg zur deutschen Grenze war voller neuer Eindrücke. Die vielen Lichter, Schilder, Reklamen und Autos waren etwas Unvorstellbares für uns. Wir sind aus dem Staunen gar nicht mehr herausgekommen. Vor der deutschen Grenze haben wir den Bekannten zwischen die Stühle gelegt, eine Decke über ihn geworfen und das Gepäck darauf gestapelt. Für mich hatte meine Verlobte den Pass ihres Bruders mitgenommen, der mir dank seines Schnauzers ähnelte. An der Grenze angekommen, passierte etwas, das eigentlich sehr selten vorkam: Grenzkontrolle! Alle Pässe wurden verlangt, die Zöllner leuchteten ins Auto, fragten, von wo wir kommen und wohin wir fahren, ließen uns aber schlussendlich passieren. Endlich hatten wir das „gelobte Land“ nach 48 Stunden Angst und lebensgefährlichen Anstrengungen erreicht. Endlich konnte ich meine Tochter sehen und in die Arme schließen. Viele vor uns und nach uns haben es nicht geschafft, kamen ins Gefängnis, wo sie halb zu Tode geprügelt wurden, oder sie wurden an der Grenze erschossen.

Ein gefühltes Jahr hat meine Frau mir Dornenspitzen aus der Schädeldecke mit der Pinzette entfernt. Auch noch bis heute habe ich ein Trauma, wenn ich durch den Schwarzwald gehe, wo ich zu Hause bin: Bei jedem kleinsten Geräusch schrecke ich hoch und sehe hinter jedem Baum nach, ob dort etwas ist. Mittlerweile macht es mir nichts mehr aus, aber die Dämonen der Vergangenheit lassen mich auch noch nach 30 Jahren nicht los.

Hans-Helmut Wallner, Schömberg



Tränenreicher Abschied: Der Pfarrer von Schaas ...
Tränenreicher Abschied: Der Pfarrer von Schaas Hannes Pitters (mittlerweile selbst ausgewandert) verabschiedet im August 1989 nach dem Kirchgang ein sächsisches Ehepaar, das vor der Auswanderung steht. Foto: Konrad Klein
Gelobtes Land

„Das Gelobte Land liegt immer jenseits der Berge.“ (Washington Irving) – Geboren bin ich 1950 in Kronstadt nach der Rückkehr meiner Eltern aus der Deportation. Aufgewachsen in den düsteren 50er Jahren in Stalinstadt. Mitte der 60er Jahre, als immer mehr Siebenbürger auswanderten, stellten meine Eltern auf mein Drängen ebenfalls einen Ausreiseantrag. Jahrelang erhielten wir keinerlei Antwort, umso überraschender die Genehmigung Anfang 1972. Wir glaubten an Zufall und wussten nicht, dass wir Teil des staatlich organisierten Ausverkaufs der Siebenbürger Sachsen waren. Inzwischen waren meine Eltern Rentner und ich Student der Philologie in Hermannstadt. Nach allseits bekannten Schikanen bestiegen wir am 13. April 1972 das Flugzeug nach Frankfurt am Main.

Angespannt und übermüdet nach einer schlaflosen Nacht erlebte ich die Kontrollen, den Einstieg und Flug wie im Traum, unwirklich, immer gefasst aufzuwachen. Erst als das Flugzeug zur Landung ansetzte und man das Gewirr von Autobahnen und die Hochhaussiedlungen erkennen konnte, kam ich in der Gegenwart an. Der Anblick erinnerte an Bilder amerikanischer Großstädte, wie ich sie aus Zeitschriften kannte. Das also war Deutschland.

Das Gewirr im Flughafen war nicht minder, nach Gepäckausgabe und Passkontrolle gingen wir durch die Tür und standen einer Menschenmenge gegenüber, die alle auf ankommende Passagiere warteten. Obzwar wir wussten, dass wir nach Nürnberg ins Aufnahmelager mussten, hatten wir keine Vorstellung, wie das im Einzelnen ablaufen sollte. Empfangen wurden wir dann von drei Frauen, die unsere Namen auf Listen überprüften und uns anschließend in einen abgeschiedenen Bereich der Ankunftshalle führten. Hier wurde uns die weitere Reise erläutert und jeder erhielt drei Mark fünfzig, um sich für die Weiterfahrt etwas zu trinken zu kaufen.

Unsere Gruppe war recht groß, und so wurden wir zu einem wartenden Bus gebracht, der uns nach Nürnberg fahren sollte. Wir stiegen ein, der Bus fuhr los und ich stellte fest, wie wenig ich von Deutschland wusste. Zwar war ich mit dem Neckermann-Katalog vertraut, doch wo Nürnberg lag und wie weit es bis dahin war, wusste ich nicht. Die Fahrt zog sich hin und ab und zu tauchten Ortsschilder mit bekannten Namen auf, andere waren mir völlig fremd.

Die Gebäude des Aufnahmelagers waren wenig einladend, doch auch hier wurden wir freundlich empfangen, uns wurde ein Zimmer zugewiesen, wir erhielten ein Verpflegungspaket und da es bereits später Nachmittag war, einen Laufzettel mit den einzelnen Stationen der Aufnahme für den nächsten Tag. Erschöpft vom Erlebten und der Anspannung der letzten 24 Stunden schlief ich ein, zum ersten Mal in meinem gelobten Land. Der nächste Tag bestand aus einem Behördenmarathon. Wir folgten den Abkürzungen des Laufzettels, mussten unsere vorhandenen Papiere vorweisen und Fragen beantworten. In einem der Zimmer wurden wir nicht als Familie, sondern einzeln eingelassen. Der Beamte fragte mit amerikanischem Akzent nach meinem Studienort, den er aber bereits kannte, da er mir einen genauen Stadtplan von Hermannstadt vorlegte. Jetzt fragte er nach bestimmten Gebäuden und was ich darüber wusste. Offensichtlich war er vom Geheimdienst und besser informiert als ich und wollte nur Bestätigungen von bereits Bekanntem. Jeder Geheimdienst aber war mir verhasst und so weigerte ich mich, ihm Informationen zu geben, und wir trennten uns wenig freundlich. Teil dieses Beamtenmarathons war auch ein Sprachtest. Nachdem Deutsch meine Muttersprache ist, ich vom Kindergarten bis zum Abitur deutsche Schulen besucht hatte und fünf Semester deutsche Sprache und Literatur studiert hatte, fand ich den Sprachtest lächerlich, aber ebenso diskriminierend. In Rumänien wunderte man sich, dass ich gut Rumänisch konnte, hier wunderte man sich, dass ich Deutsch konnte. Hätten diese Beamten nicht die vorhandenen Informationen zur Kenntnis nehmen können? So unterhielten wir uns sinnlos über Fragen von der, die, das.

Nachdem wir den Registrierschein und Flüchtlingsausweis erhalten hatten, wurden wir Baden-Württemberg zugewiesen und erhielten die Fahrkarten nach Rastatt, unserer nächsten Aufnahmestelle. Dass wir einen halben Tag unterwegs sein würden, wusste ich aufgrund meiner geografischen Unkenntnis nicht. Ohne Verpflegung kamen wir in der Aufnahmestelle recht erschöpft an. Hatten wir in Nürnberg ein eigenes Zimmer, so war das hier nur ein durch Stellwände abgeteiltes Bettenlager. Ein längerer Aufenthalt hier blieb mir erspart, da ich zwecks Studienberatung weiterfahren sollte. Es war ein Bildungszentrum, ähnlich einer Jugendherberge. Ich erhielt ein eigenes Zimmer, es waren eine Reihe junger Leute unterschiedlicher Herkunft da, es herrschte eine entspannte Atmosphäre. Das Beratungsgespräch am nächsten Tag war freundlich, aber wenig aufschlussreich. Nachdem ich meinen Werdegang erläutert hatte, wurde mir eine Fortsetzung meines Studiums empfohlen, allerdings ohne Rumänisch als zweitem Fach, Berufsziel Lehrer. Nach Alternativen gefragt, nannte man mir Jura, wieso, blieb mir unklar, hatte ich doch keine Ahnung vom deutschen Rechtswesen. Somit hatte ich zwar einen netten Ausflug unternommen, eine Hilfe für meine Entscheidung war es nicht. Zurück in Rastatt ging es gleich weiter nach Singen, der letzten Station unserer Deutschland-Odyssee. Auch hier empfing uns eine Hochhaussiedlung am Rande der Stadt. Man hätte den Eindruck haben können, der Stadt sei es peinlich, Aussiedler, Umsiedler oder Asylanten, d.h. Fremde aufzunehmen, und bringt sie am besten weit draußen unter.

Unsere Sprache, unser nicht einzuordnender Akzent, machte uns von Anfang an zu Außenseitern, zu Menschen von anderswo. Von klein auf waren wir es gewohnt, anders zu sein, wir waren „neamț“ oder „sas“, ob anerkennend oder abwertend, wir waren stolz, ja fühlten uns teils den anderen gegenüber sogar überlegen. Auch jetzt waren wir anders, doch hier war es meist abwertend, bestenfalls zeigte man sich interessiert. Später wurde ich oft gefragt, warum ich gerade Deutsch studieren würde, oder es wurde anerkennend bemerkt, dass mein Deutsch ganz gut sei. Wenn ich in einem Geschäft nach etwas fragte, dessen Namen ich nicht kannte, wurde mir in sehr einfacher Kindersprache langsam, dafür aber möglichst laut (zum besseren Verständnis?) erklärt, wie das hieße. So wurde mir erklärt, dass man hier „ebba hochdeitsch schwätze“ würde. Anfangs fehlte mir das notwendige Selbstverstrauen, um diesen Vorurteilen mit dem nötigen Selbstbewusstsein zu begegnen. Von Einfühlungsvermögen und „Willkommenskultur“ war hier nicht viel zu spüren.

Jeder von uns hat seinen eigenen Weg zur Bewältigung der Vergangenheit, des Abschieds von der Heimat gefunden, ob durch Abkehr von ihr oder verstärkter Beschäftigung mit ihr.

Alfred Schadt, Bernau bei Berlin


Auszüge aus: Alfred Schadt, Verba volant, scripta manent. Erinnerungen, Berlin 2020



Eine Zeitzeugin Jahrgang 1929 erinnert sich


Nach vergeblichem jahrelangen Bemühen, zufälligem Bekanntwerden mit „Geheimen“ (Securisten) – zum sicheren Weggehen im Tausch den Elternhof auf dem Präsentierteller darreichen; es gab auch noch eine Variante: mit einer gewissen Geldsumme (Valuta) gelang das Weggehen immer; doch dann die Ereignisse in Bukarest, die Revolution, die vielen Toten, das blutige Ende des Herrscherpaares. Auch in Kronstadt herrschten große Unruhen, es gab auch Tote. Wir in Neustadt bei Kronstadt verfolgten alles im Fernsehen. Wenn man bedenkt, welche Pläne der Conducător (Führer) vor kurzem mit den sächsischen Siedlungen hatte: Betonklötze, Wohnblocks sollten gebaut werden. Es stand auch fest, dass nur noch eine Sprache in Rumänien gesprochen werden solle, natürlich Rumänisch!

Nach der Revolution wurden die Einwohner mit großen, gravierenden Veränderungen konfrontiert. Gleich Anfang des Jahres 1990 waren die meisten im Begriff, ihre Koffer zu packen. Auf in die Freiheit. Es war nun ganz normal, die Papiere für den endgültigen Antrag zum Weggehen anzufordern.

In den Jahren hatte sich bei einigen Familien etwas verändert, so auch bei uns. Der Sohn, 32-jährig, hatte eine rumänische Partnerin und hatte sich zum Bleiben entschieden. Mein Sohn sagte auch zu mir, es wäre angebracht, jetzt das Land neu aufbauen zu helfen. Doch mein Mann war 70 Jahre alt, ich 60 Jahre, die Jüngste, 18-jährig, hoffte auch, eine bessere Zukunft und andere Verhältnisse zu erlangen. Für uns war der Aufbruch kein spontaner. Man hatte den Drang, durch die Gassen zu gehen, die vertrauten alten Gebäude zu betrachten, wo man Jahrzehnte ein- und ausgegangen: Schule, Kirche, Rathaus, den großen Festsaal, wo man Hochzeiten feiern konnte, bis zu 300 Personen. In den 1940er Jahren. So hatte man sich von allem zu verabschieden, zuletzt im Elternhof, im Garten, und alles mit den Augen der Generationen, die hier einmal weilten, zu betrachten. Und als wir dann im Juni 1990 nach all dem Papierkram und dem Zoll mit den Kisten alles erledigt hatten, verabschiedeten wir uns und vergossen Tränen des Trennungsschmerzes gemeinsam mit dem Sohn und seiner Partnerin.

Die Eindrücke, nach 40-jährigem Eisernen Vorhang, versetzten uns in neue Welten: der wunderschöne Bahnhof in Budapest, die gepflegten Landstriche der Landwirtschaft; und dann in Nürnberg, wo wir in Bussen abgeholt wurden, um dort die erste Nacht zu schlafen. Die Pässe eintragen, um am nächsten Morgen zur Weiterfahrt in Fallingbostel den Registrierschein zu erhalten, und zu einem Übergangslager. Der Fahrer in Nürnberg fragte: „Seid Ihr überhaupt Deutsche?“ – Niemand außer mir ging zu ihm. Ich zeigte meinen Pass und las ihm den Namen vor: Hildegard Zintz, geborene Buchholzer. Die älteste Tochter mit ihrem Mann war schon in Koblenz. Freunde hatten eine Wohnung gemietet, möbliert. Ihnen können wir verdanken, dass wir uns kurz vor Weihnachten 1990 in das fertige Nest setzen durften: frisch renoviert, neuer Teppichboden, Schlafzimmer, saubere Betten, Küche in guter Funktion. Sogar ein Garten war da. Mit Hilfe der Freunde gab es zu Weihnachten auch noch ein geschmücktes Christbäumchen.

Bevor dies alles geschah, waren wir nach Erledigen des Papierkrams in Tübingen vorübergehend heimisch, wo man Einblicke in die Vielfalt der Ausgewanderten aus dem Banat, Siebenbürgen und Kasachstan bekam. Es war eine schöne Zeit auch hier. Doch dann ging es Richtung Koblenz, wo ich auch jetzt noch mit 91 Jahren mit meinen Töchtern, Enkeltochter und Schwiegersohn lebe.

Hildegard Zintz, Koblenz



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Schlagwörter: Zeitzeugen, Zeitzeugenberichte, Exodus, Integration, Siebenbürgische Zeitung, Geschichte, Zeitgeschichte, Securitate, Hermannstadt, Kronstadt

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