4. Februar 2021

Zwei Frauen – zwei Leben. Dagmar Dusil in der Reihe „Lebendige Worte“ (VII)

Dagmar Dusil, geb. 1948 in Hermannstadt. Studium der Anglistik und Germanistik an der Universität „Babeș-Bolyai“ in Klausenburg. 1985 Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland. Übersetzerin für Englisch, Rumänisch und Spanisch. Veröffentlicht Lyrik und Prosa. Bekannt geworden ist sie durch „Blick zurück durchs Küchenfenster“ (2001), das auch in rumänischer und englischer Übersetzung erschienen ist. Für den Prosaband „Wie die Jahre verletzen“ erhielt sie 2014 den Förderpreis der GEDOK. 2017/2018 wurde sie Dorfschreiberin von Katzendorf. Sie erhielt mehrere Preise, u.a. den 1. Preis in der Kategorie Prosa beim Landschreiber Wettbewerb „Sprache und Flucht“ für den Text „Mioara“. Mitgliedschaften: GEDOK Franken, Europäische Autorenvereinigung „Die KOGGE“, Künstlergilde Esslingen, Exil-Pen.
Dagmar Dusil. Foto: Any Maurer ...
Dagmar Dusil. Foto: Any Maurer

Anna Simonis – von Hamruden nach Paris

Wir fahren durch Hamruden (Homorod). Von da stammte eine Anna Simonis, schön und begabt, Tochter eines sächsischen Pferdehändlers, die es mit ihrem Bruder Georg nach Bukarest, in die Walachei, verschlagen hat. Er, der Bruder unterrichtete die Kinder des Bojaren Dumitru Polizu. Doch mit Anna, die ein Mädchenpensionat in Bukarest besuchte, hatte das Schicksal anderes vor. Als 1848 russische und türkische Truppen nach Bukarest kamen, veranstalteten die Russen im Hause des Bojaren Polizu einen Ball zu Ehren der türkischen Armee. Mit von der Partie war auch der türkische General Omer Pascha.

Georg spielte an jenem Abend Klavier, gab sich dem Spiel hin, träumte sich durch den Abend, während Anna für ihren Bruder die Noten umblätterte. Wie ein Gemälde saß sie neben ihm. Auch ihre Gedanken verfingen sich in Träumen. Die blutjunge Anna, nicht nur schön sondern auch gebildet und musikalisch, entzündete wie in einem Groschenroman den Funken der Liebe im Herzen des fünfzigjährigen verheirateten Omer Pascha. Wie ein funkelnder reiner Stern schoss es ihm durch den Kopf. Er, der es gewohnt war, sich auf dem Schlachtfeld zu tummeln, zu kämpfen und zu siegen, wurde von diesem Mädchen, das so verloren wirkte, aus dem Gleichgewicht gebracht. Die Gier, das Verlangen oder vielleicht war es so etwas wie Liebe auf den ersten Blick (schwer nachzuweisen wie in den meisten Fällen dieser Art) ließen den alternden Pascha (heute würden wir sagen, dass er ein Mann in den besten Jahren war) kühne Pläne schmieden.

Vom Schlachtfeld gewohnt, strategisch vorzugehen, fiel es ihm nicht schwer, die richtige Taktik anzuwenden. Die fünfzehnjährige Anna wäre genau das richtige Kindermädchen für seine Kinder und die ideale Mätresse für ihn. In Gedanken vollführte er Luftsprünge. Nichts schien seinem Glück im Wege zu stehen, das er an diesem Abend gefunden hatte. Das verspürte er zu wissen. Bedeutungslos waren alle gewonnenen Schlachten, alle Triumphe, was zählte, war dieses Mädchen, das Anna hieß.

Der Pascha, erfahren in der Kunst der Kriegsführung, doch nicht im Verhandeln mit der Mutter Annas, einer bodenständigen sächsischen Bäuerin aus Hamruden, hatte die Rechnung ohne den Wirt, das heißt ohne Frau Simonis, gemacht.

Annas Mutter sagte ein klares NEIN zu der Stelle als Kindermädchen im Hause Omer Paschas, obwohl dieser die Mätresse nicht erwähnt hatte, was auch nicht nötig war, denn Annas Mutter war eine kluge Frau.

Der Pascha kam ins Schwitzen. (So hatte er sich seinen Plan nicht vorgestellt.) Mit solchen Hindernissen hatte er nicht gerechnet. Die Schlacht, die er theoretisch fast gewonnen sah, drohte er zu verlieren. Das unkalkulierbare Risiko war Annas Mutter. Doch er wäre nicht der große Feldherr gewesen, fiele ihm nicht eine andere Lösung ein. Der Pascha überschlug in Gedanken die Anzahl seiner Haremsfrauen und schien den perfekten Schlüssel für die bevorstehende Aufgabe gefunden zu haben. Eine Lösung, die Frau Simonis aus Hamruden und Angetraute des mächtigen Pferdehändlers nicht ausschlagen konnte. Der Pascha überlegte, dass das Angebot auch für Annas Vater eine Ehre sein, ja dass dieser geradezu euphorisch darauf reagieren müsse. Und so sah seine Lösung aus: Anna sollte seine Zweitfrau werden. Manch ein Mädchen aus den besten türkischen Kreisen würde sich glücklich schätzen. Was für Einwände sollte ein Pferdehändler aus Hamruden haben?

Der Pascha war guten Mutes, als er erneut vor dem Hause Polizu in seiner prächtigen Kutsche vorfuhr. Durch die Straßen von Bukarest rollend, hatte er sich so seine Gedanken gemacht. Alles könnte so einfach sein. Doch andere Völker, andere Sitten, ging es ihm durch den Kopf. Man erzählte sich so einiges über die Siebenbürger Sachsen. Ein starrköpfiges Völkchen sollte es sein. Er erinnerte sich, dass türkische Truppen oft in Siebenbürgen gekämpft hatten, und es nie einfach gewesen war. Eigensinnig und hartnäckig. Ein Volk, das Kirchenburgen gebaut hatte, sich in denselben verschanzte und dort ausharrte, nie aufgab. Anna war eine Tochter dieses Volkes, noch jung und unerfahren, was man von ihrer Mutter nicht behaupten konnte.

Frau Simonis ließ Tee in bauchigen Gläsern servieren, was der Pascha mit Genugtuung feststellte. Annas Mutter bewegte sich durch den Salon, als ob sie ihr Leben lang nichts anderes getan hätte. Der Bruder lehnte verträumt am Flügel. Anna war nicht anwesend, doch der Besucher schien ihren zarten Duft zu spüren. Allein der Gedanke an Anna ließ sein Blut schneller durch seine Adern fließen. Er nahm schnell einen Schluck Tee, der in allen Lebenslagen half. Der Pascha nickte anerkennend, denn er war heiß, stark und hatte die richtige Süße. Ein gutes Omen, dachte er. Wer solch einen Tee servierte, konnte keine falschen Entscheidungen treffen.

Zweitfrau. Frau Simonis lächelte, ein Lächeln, das der Pascha nicht deuten konnte. Zweitfrau, wiederholte Frau Simonis und blickte zu Georg, dem Sohn, der in seiner ursprünglichen Position am Flügel lehnte und nichts sagte. Der Pascha nahm einen letzten Schluck Tee, der plötzlich einen leicht bitteren Geschmack hatte, als Frau Simonis zu sprechen begann und erklärte, dass es bei den Siebenbürger Sachsen eine Zweitfrau nicht gebe, er, der Pascha solle doch bitte schön bedenken, was der Pferdehändler, ihr Mann, dazu sagen würde? Und das ganze Dorf, wie stünde sie als Mutter da, in deren Obhut sich Anna befand? Und überhaupt spräche sich so etwas schnell herum, bis nach Streitfort und Draas, nach Galt und nach Katzendorf, sogar bis in die nahe Stadt nach Reps würde die Nachricht sich verbreiten. Wie stünde sie, als Annas Mutter da? Was hielte ihr Sohn von ihr? Georg sah unbeteiligt zum Fenster hinaus. Frau Simonis hatte sich in Rage geredet. Und wie könnte sie noch in den Spiegel blicken? Ihr eigenes Spiegelbild käme ihr fremd und verräterisch vor. Nein, auf keinen Fall. Das sei ihr letztes Wort. Insgeheim verdrängte sie aufrührerische Gedanken. Selbstverständlich gab es keine Zweitfrauen bei den Siebenbürger Sachsen, doch sie dachte an den Misch und die Kathi, na ja und die Tenni. Doch das war etwas ganz anderes. Nicht zu vergleichen mit einer offiziellen Zweitfrau. Wenn auch das ganze Dorf wusste, dass Misch der Vater von Tennis Sohn war. Jeder wusste es im Dorf und tat so, als ob er es nicht wüsste. Oft sorgte die Waffe des Schweigens für Frieden.

Frau Simonis löste sich von ihren Gedanken und bot ein weiteres Glas Tee an.

Der Pascha begann sich mehr und mehr unwohl zu fühlen. Anverwandte und Orte und Spiegelbilder hatte Annas Mutter erwähnt, und sie begannen sein Denken zu beeinflussen.

Frau Simonis ließ frischen Tee bringen. Es müsse doch eine Lösung geben, warf der Pascha ein. Ob eventuell Frau Simonis eine wüsste?

Annas Mutter lächelte. Das Einfachste sei stets das Nächstliegende. Und es sei nicht nur für die Familie, sondern für ganz Hamruden eine Ehre, wenn der Pascha Anna zur Frau, zur einzigen und Hauptfrau nehme, so wie das bei den Siebenbürger Sachsen üblich sei. Und, doch das sei selbstverständlich und müsse nicht explizit erwähnt werden, Anna würde ihrem Glauben, ihrem evangelischen Glauben treu bleiben und nicht zum Islam konvertieren.

Der Pascha kam leicht ins Schwitzen. Die Siebenbürger Sachsen wussten, was sie wollten, folgerte der Pascha, bei jedem einzelnen von ihnen galt es eine harte Nuss zu knacken. Jeder einzelne Siebenbürger Sachse war eine Kirchenburg en miniature, die es zu erobern galt. Er hatte sich sein Vorhaben anders vorgestellt. Doch er wollte Anna, koste es, was es wolle, er wollte Anna um jeden Preis. Diese Frau, die ihm gegenüber saß, wusste auch, was sie wollte. Nun denn, dann sollte es so sein, wie diese Frau es wollte. Wahrscheinlich, nein ganz bestimmt war es Allahs Wille. Und er war bereit, dass Allahs Wille geschehe.

Mit Anna an seiner Seite machte Omer Pascha eine steile Karriere, er wurde zum Oberkommandierenden der türkischen Armee ernannt, feierte weitere Siege und erhielt vom Sultan zwei schöne Tscherkessinnen, ein Geschenk, das Omer Pascha nicht ausschlagen konnte, das Anna jedoch zutiefst kränkte. Als Folge davon tut sie, was der Pascha nie für möglich gehalten hätte, sie verlässt ihn gemeinsam mit ihren beiden Brüdern in Richtung Paris, wo sie ein Leben in Luxus führt, jedoch ihre musikalischen Studien nicht vernachlässigt und gewissenhaft weiterführt, teilweise bei Carl Czerny in Wien, der auch Franz Liszt unterrichtet hat.

Als die türkischen Truppen aus Rumänien abberufen werden, wird Omer Pascha nach Anatolien und danach nach Bosnien entsandt. Anna hat ihm inzwischen verziehen und kehrt zu ihrem Mann zurück. Sie begleitet ihn, beginnt sich für Militärmusik und vor allem für Märsche zu interessieren und auch zu komponieren. Der Pascha ist stolz auf seine schöne und begabte junge Frau und sieht es als ein Geschenk Allahs an, als sie ihm einen Sohn schenkt. Das Glück ist jedoch von kurzer Dauer, das nur sieben Monate anhält, als der Säugling einen tragischen Tod erleidet. Die Straßen sind holprig und die Wege weit, die Reisenden müde. Es war wahrscheinlich ein Augenblick der Unachtsamkeit, als auf einer bergigen Straße der Säugling den Armen der Großmutter entgleitet, die Türe der Kutsche sich just in dem Moment öffnet, das Baby hinausfällt, unter die Räder gerät und stirbt.

Nichts mehr ist, wie es war. Die Beziehung zwischen Anna und Omer Pascha erhält einen Knick und hält dieser Belastungsprobe nicht stand. Das Band, das die beiden einst verband, zerreißt, die Gefühle füreinander erkalten.

Da Omer Pascha jedoch unbedingt einen männlichen Erben haben möchte, hält er um die Hand der Tochter von Hafiz Pascha an. Anna bietet er einen Platz in seinem Harem an, was diese gekränkt in ihrem Stolz ausschlägt und die Scheidung verlangt. Anna ist nach diesem ereignisreichen Leben 23 Jahre alt.

Danach lebt Anna erneut in Paris als bewunderte Frau und Musikerin. Sie komponiert, gibt Konzerte und ist in den Salons der Stadt ein gern gesehener Gast. Über ihre beiden Brüder gibt es verschiedene Informationen. Johann soll in Galați einen Klavierladen eröffnet, Georg hingegen in Craiova die dortige Philharmonie gegründet haben.

Und Anna? Sie wurde die Frau des ungarischen Barons Ottó Braunecker, der Lajos Kossuth, dem Führer der 48er Revolution in Ungarn, nach Frankreich ins Exil folgte.

Anna gebar ihrem Mann sechs Kinder, die allesamt Karriere beim Militär machten. Sie selbst, geboren 1834 in Hamruden, starb 1914 als hochgeachtete Komponistin in Paris.
(Aus: Dagmar Dusil „Auf leisen Sohlen. Annäherungen an Katzendorf“. Mit freundlicher Genehmigung von © Pop Verlag, Ludwigsburg)

Mioara

Wir sitzen im Zug. Passkontrolle. Ein Pass für Staatenlose. Keine Zeugnisse, kein Gold, keinen Schmuck, keine Bilder dürfen wir bei uns haben. Wir ohne Vergangenheit. Wir ohne Identität. Heimatlos. Wir dem Wechsel entgegen. Die Gedanken reihen sich aneinander, werden zu einer schweren Kette, einer Panzerkette. Die Gedanken werden zu Worten, Worten in meiner Sprache. In meinem Namen reihen sich drei Vokale aneinander. Ich heiße Mioara. Mein Name trägt den Raum meines Landes in sich. Ein Land, das ich gegen die Fremde eintausche. Ich wechsele in etwas Unbekanntes und etwas Bedrohliches. Ein Verrat an mir. Ein Verrat an meiner Sprache.

Doch du hast es unbedingt gewollt, denke ich und sehe mein Gegenüber an. Du bist mein Mann, und du gehörst einer Minderheit an, der deutschen Minderheit. Du wolltest in der Sprache deiner Heimat leben. Und ich ging mit dir.

Auch nach dreißig Jahren höre ich deine Stimme, die leise, doch bestimmt nach der Grenze sagt: Kein Wort mehr in deiner Muttersprache. Du heißt ab jetzt Marie.

Ich vermisse den Triphtong in meinem Namen. Marie klingt so streng, so gotisch. Ich bin ich, ich will nicht Marie sein, ich bin doch ich. Ich kann nicht Marie sein. In diesem neuen, fremden, für mich so unwirklichen Namen fehlt der mioritische Raum, der Teil meiner selbst ist, die Behausung meiner Seele. Du kannst mich nicht seelenlos machen.

Marie, ruft eine Stimme. Ich gleite auf Wolken aus. Marie, Marie. Sie hört uns nicht, sie kann uns nicht verstehen. Sie wird doch wissen, wie sie heißt. Es ist doch nicht zu viel verlangt, zu reagieren, wenn dein Name genannt wird? Oder?

Wer bist du? Mioara. Wie heißen Sie? Marie. Zaghaft nenne ich meinen Namen. Marie, sagt mein Gegenüber, Marie ein schöner Name.

Der Spiegel ist beschlagen. Nur diffus nehme ich mein Bild wahr. Ziehe mit dem Finger ein Herz nach. Herz, sage ich laut, Herz. Ein einsilbiges Wort. Herz. Wie kalt es klingt. Die Herz, der Herz, das Herz. In meiner Sprache ist das Herz weiblich und weich und dreisilbig. INIMA. Es hat länger Zeit zu schlagen. In der neuen Sprache heißt es das Herz. Es wird zur Sache. Die Sachlichkeit des Herzens. Das zur Sache mutierte Herz schlägt fremd in mir. Ich bin Marie. Hinter der Beschlagenheit des Spiegels raunt eine kaum hörbare Stimme Mioara.

Meine Erinnerungen sind zu Waisen geworden. Die Sprache war ihnen Vater und Mutter. Zaghaft versuche ich erste Sätze zu flüstern, nur für mich, Sätze in der fremden Sprache. Die neue Sprache wird ein Teil meines Selbst werden. Ich werde mich über diese Sprache neu definieren.

Irgendwann begannen die fremden Worte meine Muttersprache aufzufressen. Wie gierige Geier stürzten sie sich auf die Worte. Zu Beginn maß ich dem keine Bedeutung bei. Doch es wurden immer weniger Worte. Wie heißt Sonne in meiner Muttersprache, wollte ich eines Tages beim Frühstück wissen. Ich fragte es ernst, fast verzweifelt. Du hast mich nur komisch angesehen und gemeint, ich solle mich bloß nicht so anstellen.

Ich finde mich nicht zurecht. Ich weiß nicht, wer ich bin. Was soll ich tun? Meine Fragen prallten an dir ab. Dann geh, hast du gesagt. Zwei Worte, zwei Worte in der neuen Sprache: Dann geh.

Ich blieb.

Als der Sommer ausklang, nannte ich mich Marie. Ich führte Selbstgespräche, sprach nie in der ersten Person, sondern so, wie man mit kleinen Kindern spricht. Marie hat das gut gemacht. Marie spricht ganz gut. Ich sprach so oft mit mir, dass mein Mann mir immer gleichgültiger wurde. Er war angekommen. Er war dort, wo er immer leben wollte. Leben mit mir, so dachte ich. Doch wir lebten nicht miteinander, sondern nebeneinander.

Unangemeldet stand die Freundin aus der alten Heimat eines Tages vor der Türe. Nach dreimaligen Klingeln öffnete ich. MIOARA! Ich wich zurück. Ein Redeschwall fremder Worte bat um Einlass. Ich stand da. Ich stand einfach da. Den Sinn des Gesagten verstand ich, versuchte ihn zu verstehen. Eine Antwort wurde von mir erwartet. Doch ich brachte kein Wort in meiner Muttersprache hervor.

Verdrängung nennt man das. So erklärte es mir die Psychologin. Meine Muttersprache war mir abhandengekommen.

Ich suchte nach Worten.

Sie flohen vor mir. Ließen sich nicht einfangen.

In meinen Adern floss das Blut der Fremde.

Mein Herz schlug im Takt des fremden Landes.

Meine Niere urinierte fremd.

Einmal habe ich gelesen, dass Spione entlarvt werden, indem man sie unerwartet laut rechnen lässt. Das tue man in der Muttersprache.

Ich ertappte mich, dass ich es auch tat, obwohl mir damals meine Muttersprache verloren gegangen war.

Wäre ich doch eine Amsel, eine Lerche, eine Nachtigall. Dann hätte ich den Gesang.

Wäre ich doch eine Katze, die sich im Schnurren verliert.

Doch ich hatte nur mich.

Du gingst.

Ich erfand mich neu. Bastelte mir eine neue Identität wie einen Scherenschnitt. Filigran und verletzlich.

Zeitweise falle ich zurück in den Singsang der Triphtonge, an lichtgrünen Frühlingstagen.

Marie, ruft eine Stimme. Ich drehe mich um. Marie, bist du es, weißt du noch damals vor Jahren?

Wie es Mioara wohl geht? In Gedanken ist sie sehr weit und fern und fremd. Zwischen Hügeln, Bergen und Tälern, zwischen Lämmern und dem Gesang der Hirten. In einem Raum, der die Seele zusammenhält. Mit einer Sprache, die nach Sehnsucht klingt, mit Verben, die man nicht trennen muss. Meine Identität wird zum Verb. Ich händige ihnen ihre Papiere aus. Aushändigen. Wie mit einer Axt wird das Verb gesplittet.

Ich versuche nicht mehr zwischen Marie und Mioara zu balancieren. Ich muss in Marie ankommen. In der gotischen Marie. In der Marie, die mit erhobenem Kopf durch die Straßen geht, vorbei an den hastigen Menschen, mit gestohlenem Lächeln. Doch ich gehöre nicht zu den Menschen in diesem Land, in dem ich lebe. Ich gehöre auch nicht zu den Menschen in Mioaras Land. Ich versuche an meinem Selbstbild, an meinem Selbstverständnis zu gesunden wie nach einer schweren Krankheit.

Ich bin ein Zugvogel, auf den keiner Zugriff hat.

Ich bin ein Kaktus.

Ich bin ein Nachtschattengewächs.

Ich bin der unsichtbare Mond der Vergessenen.

Ich bleibe im Buckel meiner Einsamkeit.

Ich bin eine von vielen, doch ich gehöre nicht zu den vielen.

Ich bin die Veränderung und der Wandel.

Marie öffnet mir die Türen der Anderen, lässt mich Grenzen überschreiben, auch meine eigenen. Ich suche nach Übereinstimmungen, um nicht aus mir zu fallen.

Ich bin MIOARA, die Frau, die Marie heißt.

Schlagwörter: Schriftstellerin, Hermannstadt, Dorfschreiberin, Katzendorf, Bamberg

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