15. März 2021

Hellmut Seilers "Gnomen": Er schreibt sich und uns "etwas her"

Besprechung des Buches von Hellmut Seiler: „Gnomen. Gedankensplitter und lyrische Launen“. edition offenes feld, Dortmund, 2021, 102 Seiten, 16,50 Euro, ISBN 978-3751-998-383, auch als E-Book erhältlich.
Es ist kein Meisterstück von Kurt Tucholskys Dicht- und Reimkunst („hat“ – „hat“), aber ein Tröpfchen Weisheit wollen wir aus seinen Versen über das Lächeln der Mona Lisa vulgo Lieschen im Louvre dennoch schlürfen, lächelnd noch dazu: „Du lehrst uns still, was zu geschehn hat./ Weil uns dein Bildnis, Lieschen, zeigt:/ Wer viel von dieser Welt gesehn hat,/ der lächelt, legt die Hände auf den Bauch und schweigt.“

Des Bauches nun ermangeln wir Siebenbürger Sachsen dem gemeinen Augenschein nach ebenso wenig wie die Mutterlandsleute, am Lächeln sollten wir vielleicht noch arbeiten, wenn wir derzeit allesamt auch wenig zu lachen haben. Schweigen aber, das können wir nicht, das konnten wir weder früher, noch können wir’s jetzt, noch werden wir’s demnächst können, und schriftlich schon gar nicht. Je kleiner das Völkchen, desto zahlreicher die Schreibendinnen und Schreibenden – irgendwann wird das Völkchen voraussichtlich in Text aufgehen, analog zur einstigen Prophezeiung eines bulgarischen (wirklich!) Denkenden: Europa werde dereinst in den Kameras japanischer Touristen verschwinden.

Nicht eben diese, sondern ganz eigene, aber solcherlei Einsichten bietet Hellmut Seiler zuhauf, launisch durchaus und zumeist trefflich formuliert. Er versteift sich auf Aphorismen, weil er wissen mag, dass dazu „der längste Atem“ gehört. Wieso er die Launen „lyrisch“ nennt, muss er mit sich selbst ausmachen, er dürfte es sogar besser wissen. Und wieso er es Tucholskys Lieschen nicht ein wenig nachtut, ebenso. Schließlich ist alles schon gesagt, und nicht erst seit diesen unselig redseligen Zeiten. Das wiederum weiß auch Seiler, aber er hat in seiner rumänischen Vorzeit gelernt: Die Wirklichkeit kriegt man auch durch Zerreden ein bisschen kleiner.

Das haben allerdings auch schon andere gewusst: Von den Mühen der Demokratie wie in „Nach einer Landtagswahl 2019“ steht schon bei Bertolt Brecht Erhellendes zu lesen („Wäre es da/ Nicht doch einfacher, die Regierung/ Löste das Volk auf und/ Wählte ein anderes?“). Und dass „Das Berliner Kabinett“ kein Mensch braucht, wir es uns trotzdem leisten und es selbst sich „ein Stückchen / nach dem anderen“ leistet – nun ja. Das kommt dauernd im Fernsehen und sonst wo und müsste nicht noch gedruckt werden, es sei denn, es wäre ein Gedicht daraus geworden, was hier nicht stattgefunden hat.

Wenn nun Hellmut Seiler aber macht, was er gut kann, Lyrik eben jenseits der „Launen“, dann (um paritätisch Tucholskys Antipoden Rilke zu bemühen) „geht ein Bild hinein“: „Helle Spuren“ heißt es da, „im herbstlichen Wald./ Gezogen haben die Nachdenklichen sie.“ Das ist so schön nachzuvollziehen wie die Spuren – wo wir uns doch selbst zu den Nachdenklichen zählen wollen. Selbst das Spiel mit der Sprache funktioniert, wenn der Poet es nicht auf verspielte Witzigkeit angelegt hat wie in „Des Trinkers Zeiterfassung“ oder den wohlfeilen Fingerfertigkeiten mit „Beeren“ und „Bären“ und „entbehren“ und „entbären“. „Comedians“ sind besser darin, mit der Komik verhält es sich allerdings hier wie dort meist wie mit dem Lächeln bei den Siebenbürger Sachsen.

Klamm wird einem, wenn der Autor diese Technik des Umkrempelns von Redewendungen überreizt und einem Thema angedeihen lässt, das nun wirklich keinerlei „Launen“ verträgt. Da heißt es über den Balkankrieg „am hoffnungsvollen Beginn des 21. Jahrhunderts“: „Durch den Einsatz hartgesottener maulender Kläffer/ klaffen den ‚weichen Zielen‘ bis heute die Mäuler/ in der aufgewühlten Erde.“ Wir Zeitungsleser und Fernsehzuschauer meinen, den einen oder anderen Seilerschen Ausdruck mit dem verbinden zu können, was wir mit Grauen gelesen, gehört und gesehen haben, sind also halbwegs in der Lage, seinen sprachdynamischen Assoziationen zu folgen. Ob wir das aber wollen? Man weiß, dass damals dort viele Menschen ermordet worden sind, das alles bedarf keines sprachlichen Erfindungsreichtums.

Hellmut Seiler: „Zur Dummheit// gehören immer mindestens zwei:/ einer, der sie von sich gibt/ und einer, der sie nicht in Zweifel zieht.“ Einer der letzteren will man ja nun mitnichten sein. Nur reichen auch Zweifel nicht immer. Wenn da steht: „Als entnazifizierter Deutscher verwahre ich mich entschieden/ gegen den Begriff F Ü H R E R schein“, dann zweifelt man nicht allein an der historischen Legitimität der Aussage. (Wo soll die Entnazifizierung stattgefunden haben, in der Pionierorganisation im siebenbürgischen Reps oder im Verband der Kommunistischen Jugend des Honterus-Lyzeums in Kronstadt?) Man zweifelt an ihrer Notwendigkeit, und „lyrische“ Texte, selbst „Gedankensplitter“, wären vor der Veröffentlichung eben auf diese Notwendigkeit zu prüfen, was hier unterblieben ist.

Freude bereitet Hellmut Seiler mit Aus- und Weglassungen – Tucholsky schweigt beredt dazu: „Manchmal seh ich schwarz, und öfters seh ich rot,/ manchmal bin ich lebendig, und einmal bin ich“. Das ist die Kunst des Reims, wie nicht zuletzt Karl Kraus sie beschworen hat, hier tut die Sprache das Ihre, wenn man sie (K. K.) „beim Wort“ nimmt – und dieses Wort am Ende verschweigt.

Solch Schweigen kann beseligend wirken. Seiler beweist es, allerdings beharrt er auf seiner Unschweigsamkeit. Dabei kommt es vor, dass die Sprache ihm den Dienst verweigert: „Vor Zeiten bangte// die Weggefährten vor dem Absturz“ (den Weggefährten). Oder: „Ich suche niemand/ am Zeug zu flicken,/ der nicht das Zeugs dazu hat.“ (Zeugs ist Kram.) Zwei Ungeschicklichkeiten in zwei Dreizeilern eines Bändchens. Aber es stimmt ja: „Das Gedicht// ist spannender als ein Krimi/ und verschlungen wie ein Labyrinth:/ keiner kennt den Ausgang.“ Versuchen wir also gespannt drin zu bleiben und den Ariadnefaden zu entwirren im Bewusstsein, dass der Minotaurus lauert – und Ikarus kläglich abgestürzt ist. Metaphernfelder sind, nun ja: „ein weites Feld“, und es neigt zum Wuchern. Dann aber ist mit Lyrik – Sense.

Man mag sich trösten damit, dass alles auch spaßig aufgefasst werden kann: „Eine Schraubenfabrik produziert Schrauben,/ aus Metall,/ eine Denkfabrik Denken, schon klar./ Aber woraus?“ (Hellmut Seiler hat den Würth-Literaturpreis bekommen.) Kennt jemand eine Denkfabrik jenseits der überaus findigen Wortfindungen des Feuilletons? Die etwas produziert? Hellmut Seiler jedenfalls hat eine eigene Vorstellung von Produktion und von Rezeption: „Es sind lauter Doktoren, die darüber befinden,/ was ich schreibe oder bin:/ man könnte glatt meinen,/ ich sei krank und ihr Patient.“ Was sind das für Doktoren? Solche vielleicht: „Ein forscher Forscher verguckt sich/ in ein Schwarzes Loch.“ So forsch daher kam selten ein Doktor oder Patient.

Einem Autor muss natürlich jedweder Selbstbezug (Stichwort „lyrisch“) zugestanden werden, Selbstzufriedenheit eingeschlossen: „Lesen und Schreiben// Oft genug, wenn ich nicht weiß,/ was ich lesen soll, um mich/ – nun nach all den Zeitverlusten –/ nicht auch noch selbst zu verlieren// schwenke ich um und schreibe/ mir etwas her.“ Das tut Hellmut Seiler mit erquicklicher Nonchalance, und sein Vergnügen daran wollen wir „nun nach all den Zeitverlusten“ weidlich mit ihm teilen in der Erkenntnis: „Jeder Wichtigkeit wohnt/ ein Wicht inne.“ Einspruch: Er wohnt nicht inne, er steht vorn dran, und da stehen wir allesamt.

Georg Aescht

Schlagwörter: Rezension, Hellmut Seiler, Georg Aescht

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