10. Oktober 2024
Hellmut Seilers neuer Gedichtband „Wolfsberg oder Die Tiefe der Stille“
In seinem neuen Gedichtband erweist sich Hellmut Seiler einmal mehr als Lyriker mit Freude am doppelten Boden. Hellmut Seiler ist ein Vielschreiber, ein Vieldichter, einer, der nicht nachlässt. Er schreibt das Gewesene weiter, bis es in die Gegenwart reicht. Und so führt auch sein aktueller Band „Wolfsberg oder Die Tiefe der Stille“ hin zu jenen Zonen, in denen sich das Gestern und das Heute verzahnen. Groß ist bei Seiler der Assoziationsreichtum, vielgestaltig die Erinnerung. Zum Beispiel an die Kittelschürze seiner Mutter, das Jungsein in der Tyrannei oder an den Geschmack von Dieselöl auf der Zunge, den traurigtote Bahnhöfe hinterlassen. „Donnerstag, 24.02.2022, 4 Uhr und danach“ ist das Bahnhof-Gedicht überschrieben. Das Datum markiert die Nacht, in der Russland die Ukraine angegriffen hat. Ein Angriff, der Hellmut Seiler, der 1985 im totalitären Rumänien mit einem Berufs- und Publikationsverbot belegt worden war und der das Land drei Jahre später verließ, vielleicht anders, vielleicht tiefer berührt als jene, die in den komfortablen Demokratien des Westens großgeworden sind – „Die zugigen Bahnhöfe, wie weggeblasen,/
und in Trümmern.“

Leichtes und schweres Gewicht
„Wolfsberg“ ist eine Publikation von unverwechselbarer Handschrift. Seiler hat das Buch in vier Zyklen unterteilt. Gleich der erste Zyklus zeigt seine Freude am Spiel und am doppelten Boden. „In dem Schneegebirge“ ist das einführende Gedicht überschrieben: „Um richtig jung zu bleiben/ Hätte ich alt gewesen sein müssen./ Der alte bin ich nicht mehr/ Das hieße nämlich: der junge./ Ich bin nicht alt geworden/ eher mir gleicher. (…) Wär ich Alter so jung geblieben/ wie ich es jung nie gewesen bin/ Bliebe mir das Jungsein im Alter/ Erspart.“Es gibt eine Aufnahme, darauf ist der junge Hellmut Seiler in Hermannstadt/Sibiu zu sehen, umgeben von Dichterkollegen: Richard Wagner ist darunter, Rolf und Gudrun Bossert. Auch der Literaturkritiker und Soziologe Gerhardt Csejka ist abgebildet. Das Foto zeigt die Gruppe auf der Hohen Rinne anlässlich des Abschieds von Walter Fromm vor dessen Ausreise. Es illustriert einen Podcast im Internet. „Wie auf dem Foto zu sehen, waren deutschsprachige Schriftsteller aus Rumänien in den 1980er Jahren bereits auf dem Weg“, so die Bildunterschrift. Diese Autoren, die damals mit (nicht im Wortsinn) leichtem Gepäck eine Straße hinunter gingen, suchten nicht nur den Anschluss an die deutschsprachige Gegenwartsliteratur, sie stellten auch Ausreiseanträge, um der unerträglichen Diktatur in Rumänien zu entkommen. Auch Hellmut Seiler konnte und wollte nicht bleiben. Geboren am 19. April 1953 in Reps/Rupea in Siebenbürgen, studierte er Germanistik und Anglistik in Sibiu und arbeitete als Deutschlehrer in Neumarkt (a.M.). 1988 siedelte er in die Bundesrepublik über. Zweifach beheimatet zu sein ist eines seiner Lebensthemen. Wobei der Wechsel von der einen in die andere Heimat ihm ja ohne Alternative gewesen sein muss. Im Gedicht „Eintracht“ beschreibt er, wie er beim „Spätlingsputz“ (eines der schönen Seiler-Worte) hinter Stehordnern luftleichte Hüllen findet: „des Opfers,/ eines Langbeiners, buntgeflügelt,/ und der Spinne, des Jägers./ Schließen sich in die Beine,/ für immer umeinander gelegt./ Die Briefwaage zeigt sie nicht an.“

In „Wolfsberg“ tritt Seiler auch in den Dialog mit anderen Dichtern, mit Nicolas Born etwa, Johann Lippet oder Horst Samson. Und immer wieder mit Bossert. „Es ist nicht alles dir verbunden, bei/ Leibe nicht alles dir zu verdanken,/ Zuzuschreiben und so fort. Nur: ohne/ Dich ist vieles, so vieles gar nicht/ Einfach, sondern einfach nichts.“ „Freuden-FLOR“ ist dieses Gedicht betitelt, Flor ist das Palindrom des Vornamens Rolf. Nach seiner Ausreise in den Westen stürzte sich Rolf Bossert 1986 unter ungeklärten Umständen in den Tod.

Ein struppiger Kater ist der Abend
Seilers Verse mäandern durch die Zeiten, in ihnen summt Ironie, auch Selbstironie, oft schwebt ein Hauch von Melancholie über den Zeilen. Ihrer Ausdrucksstärke schadet dies nicht. Seilers Sätze schillern in vielen Farben und bestechen durch gekonntes Motivspiel und einen erfrischend freien Umgang mit Sujets und Sprache. Er macht sich nicht nur seinen eigenen Reim (wobei er tatsächlich kaum reimt), sondern auch seine eigenen Begrifflichkeiten. „Sesselhaftigkeit“ ist so ein Begriff, damit belegt er „die Maßgeblichen“, die sich um die Mikrofone versammeln und in die Runde talken. Die Freude am Schaden der Angeführten streichen sie später in großen Scheinen ein. Darüber lässt sich fein sinnieren. Wie auch über dieses Bonmot: „Der Brennstab Ewigkeit hat keine Halbwertzeit.“In „Wolfsberg“ gibt es ein kleines Bestiarium, Seiler fabelt, und er fabelt fabelhaft. Der Igel ist ihm ein „Knäuel voller Widersprüche“ und „beim Paaren: lautlos, immer schön: vorsichtig.“ „Ein struppiger Kater ist der Abend“, und „Chantal ist die Auster von Cancale“ (ein Goethe-Pastiche).
„Die Namen der Schürze“ heißt das Gedicht, das Seiler seiner Mutter zum Hundertsten gewidmet hat. Der Name der Mutter und der Schürzenname, sie waren untrennbar. Denn der Name der Mutter „hing wie ein hingehauchtes Banner,/ wie eine im Flüsterton vorgebrachte Beschwörungsformel,/ ein unter besonders seltener planetarischer Konstellation/ heraufbeschworener Glücksfall ein Leben lang/ am breiten, kunstvoll verzierten Saum ihrer Schürze./ Wie ihr Kind übrigens auch.“ Ob Tiere oder Textilien, immer wieder kippen die Zeilen ins Unerwartete. So auch beim „Laubbläser“, einem der wohl schönsten Gedichte im Buch („Meinen vormals traurigen Freunden nachgerufen“). Da geht einer nachts um halb zwei mit dem Laubbläser durch Berlin, hält das Gerät unter dem Arm, „die friedliche Waffe zur Verteidigung des Vergessens“ und treibt die Erinnerungen raschelnd vor sich her. „Ein Vergessen aber kehrt immer zurück:/ das an die Wohnung an der Gara de Nord,/ in der wir jetzt wieder anstoßen/ auf die Zukunft in Bukarest.“
„Kein Gedicht“ tauft Seiler ein Gedicht, das kein Gedicht, aber eine Vermisstenanzeige sei. „Gesucht wirst darin, lieber Leser, Du.“
Lasse dich, lieber Leser, liebe Leserin, finden für diese Lyrik.
Britta Lübbers
Hellmut Seiler: „Wolfsberg oder Die Tiefe der Stille“. edition offenes feld, Dortmund, 2024, 124 Seiten, 20 Euro, ISBN-13: 978-3-7583-2074-3.
Schlagwörter: Literatur, Lyrik, Gedichte, Hellmut Seiler, Besprechung
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