31. März 2021

Warum sind Siebenbürger Sachsen in Rumänien geblieben? / Von Dr. Hans Klein, Hermannstadt

Im Spätherbst des Jahres 1990 gab es eine Beratung des Hermannstädter Zentrumsforums (örtlich deckungsgleich mit dem Kirchenbezirk), wo die Frage nach der Aufgabe des Forums zu klären gesucht wurde. Es war die Zeit der Massenauswanderung. Im Sommer dieses Jahres hatten die Jugendlichen fast geschlossen das Land verlassen, die Anzeigen „Letzter Ball in…“ waren einander gefolgt. Aber nicht nur die Jugendlichen verließen das Land. Etwa die Hälfte der Siebenbürger Sachsen wanderte in den Sommermonaten nach Deutschland aus.
So war es Zeit, sich neu zu orientieren und von Seiten des Forums zu sehen, was zu tun ist. Es wurde in dieser Sitzung die Frage gestellt: „Was erwartet ihr von uns? Sollen wir euch helfen auszuwandern, sollen wir versuchen, euch in einige Gemeinden zu sammeln (die Kollektivwirtschaften waren noch nicht aufgelöst) oder, was denkt ihr, dass wir in Zukunft für euch tun können?“ Ein älterer Bauer gab die Antwort, der nicht widersprochen wurde: „Man soll uns in Ruhe lassen. Wenn wir gehen wollen, gehen wir, wenn wir bleiben wollen, bleiben wir. Auf keinen Fall wollen wir in Siebenbürgen ,gesammelt‘ werden.“ Damit war die Sache klar. Das Forum hat seine Aufgabe darin gesehen, denen beizustehen und sie nach außen zu vertreten, die in Rumänien leben und solange sie in Rumänien leben. Ebenso klar war: Die Möglichkeit eines „geordneten Rückzugs“ – die Wendung war um 1989 zum Schlagwort geworden – bestand nicht.

Erste Osterfeier nach der Wende in Hetzeldorf mit ...
Erste Osterfeier nach der Wende in Hetzeldorf mit Pfarrer Georg Schmidt, April 1990. Drei Jahre später wanderte auch der Pfarrer nach Deutschland aus und der große Exodus hatte die Reihen der Gläubigen dramatisch gelichtet. Foto: Konrad Klein
Ebenso klar war auch, dass die Siebenbürger Sachsen nicht eine homogene Gruppe sind. Man hatte jahrzehntelang zur Frage der Auswanderung die These vertreten: „Alle oder keiner.“ Man sah sich selber als Teil der Gruppe. Und es hat Fälle gegeben, in denen Nachbarschaften beschlossen: „Jetzt wandern wir aus“ (Herdentrieb). Viele haben in den Jahren vor der Wende gesagt: „Alle wollen weg.“ Und da war etwas dran. Gefragt in den 80er Jahren, warum die Deutschen aus Rumänien auswandern, meinte einer von uns: „Weil es möglich ist. Würden die Rumänen solche Möglichkeiten haben, etwa nach Frankreich oder Italien auszuwandern wie die Deutschen, würden sie auch das Land verlassen.“ Man erzählte damals die Anekdote, Nicolae Ceaușescu habe mit Ion Gheorghe Maurer gesprochen und ihm geklagt, man käme mit dem Wohnungsbau nicht nach. Da habe Maurer gesagt: „Öffne die Grenzen.“ Ceau­șescu habe erwidert: „Dann bleiben nur wir zwei.“ „Nein“, habe Mauerer geantwortet: „Nur du.“ Man hatte den Kommunismus tatsächlich satt. Wer aber mit vielen Menschen kommunizierte, wusste, dass nicht alle auswandern wollen. In der Ablehnung des Systems war man einer Meinung. In der Frage der Lebensgestaltung gingen die Vorstellungen sehr auseinander.

Fragt man sich, was die Einzelnen bestimmt hat, nach der Wende im Land zu bleiben, gibt es sehr unterschiedliche Antworten. Die Antwort auf die Frage, warum gehst du weg, war leicht: „Weil ich es satt habe. Weil ich andere Perspektiven sehe. Weil ich zu meiner Kultur und Sprache stehe.“ „Wieso bist du nicht ausgewandert?“ fragen heute Rumänen noch? Allgemein gesagt kann die Antwort nur lauten: „Weil es hier Werte gibt, die ich nicht aufgeben will.“ Das konnte in Einzelfall so aussehen:

• „Alte Bäume soll man nicht verpflanzen.“ Viele alte Menschen konnten sich nicht zur Auswanderung entscheiden. Damit blieben auch Kinder derselben hier.
• „Ich habe mehr zu verlieren, als ich dort gewinnen kann.“ Das gilt für das Haus mit Garten, für den Beruf.
• „Ich möchte meine Familie nicht noch mehr zerreißen.“ Das galt vor allem für Menschen in Mischehe.
• „Ich bin hier aufgewachsen, ich kann mich schwer in einer neuen Umwelt anpassen.“ Heimatliebe und Wissen um das Heimweh, die Verbundenheit mit der Heimat und der Umwelt waren diesen Menschen wichtig.
„Es schickt mich niemand weg, es ruft mich niemand. Dort muss ich ganz neu anfangen. Schaff ich das?“
• „Wenn der bleibt, bleibe ich auch.“ Das Vorbild bestimmte die Entscheidung.
• „Solange es noch Sachsen hier gibt, bleibe ich auch.“ Ich werde, wenn es denn sein muss, der Letzte sein, der geht.

In der Stadt, wo man nicht so sehr an die Gemeinschaft gebunden war, sind mehr Leute geblieben. Sie hatten sich an ein gewisses Einzeldasein bereits gewöhnt und empfanden das Weggehen der Freunde nicht so gravierend.
Nachbarschaftsplausch in der Hermannstädter ...
Nachbarschaftsplausch in der Hermannstädter Negoigasse: Dr. Hans Klein, der Autor unseres Beitrages, mit Frau Helga Pitters, der Ehefrau des Theologieprofessors Dr. Hermann Pitters (2011). Foto: Konrad Klein

Hilfe von außen

Für die, die geblieben sind, kamen Hilfen. Es ging gleich nach der Revolution los. Viele Transporte mit Hilfsgütern kamen nach Rumänien, sehr viele zu den Kirchengemeinden. Die Pfarrer hatten mit der Verteilung alle Hände voll zu tun. Alle erreichbaren Familien haben von diesen Hilfen einen Anteil bekommen. Das hat die Situation schon sehr verändert. Die Hilfstransporte konnten zwar den großen Exodus derer, die vorher auf gepackten Koffern saßen, nicht aufhalten, aber nach dem ersten großen Schub sind doch einige Leute nachdenklich geworden. Es kamen auch technische Mittel zur Gründung eigenständiger Kleinbetriebe. Eine Reihe von landwirtschaftlichen Vereinen konnten gegründet und mit Maschinen versehen werden. Einige wenige sind geblieben. Imkern konnte man zum Export ihres Honigs helfen. An dieser Stelle ist dem Sozialwerk der Siebenbürger Sachsen für alle unserer Gemeinschaft und ihren Gliedern zugute gekommene Hilfe herzlich zu danken.

Der deutsche Staat hat für den Bau des großen Carl Wolff Altenheims in Hermannstadt und die Versorgung der Alten darin die Mittel zur Verfügung gestellt. Das sollte einzelnen Dagebliebenen die Gewissheit geben, dass sie im Alter versorgt werden. Dies Experiment ist voll geglückt. Es kamen auch Kleinbusse zum Forum, um die Schüler aus den entlegenen Gemeinden zu befördern. Stabilisiert wurden aber dadurch die Familien kaum. Eher durch die Einrichtung des Schülerheims in Hermannstadt. Eine rasche Hilfe vonseiten des deutschen Staates war die Errichtung der Honterusdruckerei in Hermannstadt. Sie war als Hilfe für Publikationen aus den eigenen Reihen gedacht, hat sich aber ausgeweitet und ist zu einer markanten Institution geworden. Tatsächlich werden dort viele Bücher und Druckereierzeugnisse des Forums gedruckt. Das Forum Hermannstadt lässt dort jährlich etwa 15 Bücher herausbringen. Sie tragen zur Förderung unseres Gemeinwesens und zu deren Bekanntheitsgrad bei.

Gemeinschaftsförderung

Das seit 1991 in Birthälm organsierte jährliche Sachsentreffen hat in der Anfangszeit viel zur Überwindung der Vereinsamung und der damit verbundenen inneren und äußeren Schwierigkeiten beigetragen. In den letzten 15 Jahren findet es reihum in verschiedenen Ortschaften statt. Es dient nunmehr der eigenen Vergewisserung. Parallel dazu kamen in unserem Jahrhundert die Treffen der Heimatortsgemeinden in Siebenbürgen, die ihrerseits zur Heilung von Wunden beitragen, die durch die geschichtlichen Ereignisse geschlagen worden sind.

Die Evangelische Kirche

Eine besondere gemeinschaftsfördernde Bedeutung kam in dieser Zeit des Umbruches und auch danach der Evangelischen Kirche, ihren Pfarrern und den vielen ehrenamtlichen Mitgliedern zu. Man hat ausgerechnet, dass heute etwa die Hälfte der Mitglieder dieser Kirche ein Ehrenamt wahrnimmt. Sie sind gebraucht und wissen sich gebraucht. Und das macht Sinn. Vor der Wende pflegte man immer wieder zu sagen: „Die Kirche ist die einzige Einrichtung, die uns zusammenhält.“ Die Pflege der Gemeinschaft und der eigenen Identität ist tatsächlich ein wichtiges Element der Kirche. Freilich geht die Eigenheit der Kirche darin nicht auf. Sie ist gerufen, Gottes Wort in die Welt zu tragen und tut es auch bei Gläubigen anderer Muttersprache als der deutschen. Aber die Amtssprache ist deutsch, und sie weiß sich dem Evangelium verpflichtet, das Martin Luther in der Zeit der ­Reformation neu ans Licht gebracht hat. Wesentlich für diese Kirche ist, dass sie sich eine ­eigene Ausbildungsstätte für werdende Pfarrer erhalten konnte. Etwa drei Viertel der Pfarrerschaft ist nach der Wende ordiniert worden. Sie hat die große Last der Erhaltung der vielen Kirchenburgen zu tragen und bewirbt sich mit Erfolg um Mittel dafür aus der EU. Ohne die vielen Mitarbeiter und Helfer, wäre diese Aufgabe nicht zu meistern. Die von der Kirche gegründete Stiftung Kirchenburgen, deren Schirmherrschaft die Staatspräsidenten Deutschlands und Rumäniens übernommen haben, hat hier eine ganz besondere Bedeutung.
Zwei frühe Rückwanderer und zwei „Sommersachsen“: ...
Zwei frühe Rückwanderer und zwei „Sommersachsen“: der 2018 verstorbene Theologe Dr. Paul Philippi (Mitbegründer und Vorsitzender des Demokratischen Forums der Deutschen in Rumänien) mit Ehefrau Irmele zu Besuch bei der Schriftstellerin Karin Gündisch und ihrem Mann im Michelsberger Sommerhaus (August 2015). Foto: Konrad Klein

Das Forum

Das noch im Dezember 1989 gegründete „Demokratische Forum der Deutschen in Rumänien“ konnte und kann diese gemeinschaftsbildende Aufgabe nicht in derselben Weise vornehmen. Aber es konnte und kann den Menschen in vielen Problemen helfen. So hat es in der Anfangszeit mitgeholfen, dass unsere Mitglieder ein Reisevisum nach Deutschland leichter erhalten, es hat um ein Gesetz gerungen, wodurch die Russlanddeportierten eine Entschädigung erhalten, und die entsprechenden Akten gesucht und bearbeitet. Der Abgeordnete des Forums hat sich an zentraler Stelle und auch im Land für die Rückgabe der enteigneten Güter eingesetzt und viele Fälle lösen können. Das geschah auf lokaler Ebene von den Ortsforen gleicherweise.
Eine wichtige Aufgabe sah das Forum in der Erhaltung der deutschen Schulen und der Zeitungen. Beides war nach der Wende gar nicht einfach. Die Schulen helfen unsere Sprache zu erhalten, die Zeitungen sind ein ganz wichtiges Band für die Erhaltung der Gemeinschaft. Auch das Deutsche Theater in Temeswar und die deutsche Abteilung des Staatstheaters in Hermannstadt, das Puppentheater eingeschlossen, konnten erhalten bleiben. Es sind wichtige Bausteine unserer Identität. Für die Jugend wurden von Anfang an Tanzgruppen gegründet, die bis heute bestehen und regelmäßig zur Freude der Zuschauer ihre Auftritte haben.

Überraschend ist für das Hermannstädter Forum die Wahl von Klaus Johannis zum Bürgermeister im Jahr 2000 gekommen. Er hat die Stadt aus dem Dornröschenschlaf geweckt. Die deutsche Minderheit bekam in dieser Zeit eine ungeahnte Bedeutung: Zweidrittelmehrheit im Stadtrat. Mittlerweile ist die Überraschung gestiegen, als Klaus Johannes 2014 zum Staatspräsidenten gewählt wurde. Das ist etwas sehr Neues in unserer langen Geschichte und verlangt auch unsererseits eine Umstellung. Aber wir bleiben dankbar, dass uns die rumänische Bevölkerung immer noch sehr viel Vertrauen entgegenbringt, sodass wir heute noch eine große Anzahl von Stadträten in Hermannstadt haben und vor allem, dass Bürgermeisterin Astrid Fodor die große Verantwortung für die Stadt trägt. Zuwanderung?
Treffunkt Kultur: Gäste bei der Eröffnung einer ...
Treffunkt Kultur: Gäste bei der Eröffnung einer Ausstellung über siebenbürgische Künstlerinnen im Teutsch-Haus 2013. Vorn, v.l.n.r.: das Verlegerehepaar Dr. Maria Roth-Höppner und Dr. Wolfgang Höppner (1994 hatte Roth den Einwandererverein Arche Noah gegründet) und Biologielehrer und Autor Kurt Klemens. Hinter Frau Roth die Sprachforscherin Dr. Sigrid Haldenwang, hinter Dr. Höppner Pfarrer Dr. Gerhard Schullerus mit Altbischof Dr. Christoph Klein (r.). Foto Konrad Klein
Seit 1990 kommen vereinzelt Menschen hinzu. Es sind Rückwanderer, Unternehmer und von Siebenbürgen bewegte Menschen verschiedener Art. Einige bleiben längere Zeit, einige kürzere. Es gibt auch die sogenannten „Sommersachsen“, Menschen, die teilweise ihr Haus noch behalten oder Grund zuckerstattet bekommen haben und die hier eine längere Zeit des Jahres, vor allem im Sommer in ihrer alten Heimat zubringen. Einige von ihnen sind Mitglieder der jeweiligen Kirchengemeinde geworden und helfen mit, unsere Gemeinschaft farbiger zu gestalten. Die Integration dieser Menschen ist nicht einfach. Die Rückkehrer müssen damit zurechtkommen, dass nicht nur die äußeren Gegebenheiten, sondern auch die Menschen, ihre alten Bekannten, und damit auch deren Lebensführung, sich verändert haben. Und die Neuen finden eine Gemeinschaft vor, die anders ist als die gewohnte und somit attraktiv wirkt, aber auch Umstellungen erwartet. Die heutigen Möglichkeiten nötigen nicht mehr zum Zusammenhalt in der Weise früherer Zeiten. Es gibt keinen äußeren Druck, der einen solchen nötig macht. Aber es gibt die gemeinsame Geschichte, es gibt gemeinsame Interessen und Aufgaben, die uns mit den Rückkehrern verbinden.

Die „Neuen“ sind zum Mitmachen eingeladen. Das Zugehen aufeinander ist zuweilen anregend und aufregend zugleich und somit ab und zu auch schwierig. Dieser Prozess kann zum Segen führen, wenn wir uns um Verständigung bemühen und wir uns alle zusammen auf die neue Zeit einstellen. Bei dem großen Sachsentreffen 2017 hat ein Vertreter des Forums in größerem Kreis den Gedanken ausgesprochen, dass man sich in der globalisierten Welt mit Hilfe der neuen technischen Möglichkeiten (Social Media) näher kommen und die Gemeinschaft der Siebenbürger Sachsen auf diese wieder gefestigt werden kann. Er konnte nicht ahnen, dass so bald durch die Pandemie Online-Gottesdienstes in Siebenbürgen nun auch in Deutschland gesehen werden und auf diese Weise etwas ganz Neues entsteht, dessen Folgen nicht übersehbar sind. Wir können diesen Entwicklungen dankbar entgegensehen.


Lesen Sie dazu auch: Aufruf an Zeitzeugen in Siebenbürgen

Schlagwörter: Exodus, Geschichte, Siebenbürgen, Kirche, EKR, Hans Klein, Demokratisches Forum, Hermannstadt, Paul Philippi

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  • 01.04.2021, 12:24 Uhr von gogesch: "Wir haben, als Volk, Siebenbürgen aufgegeben" Leider spricht mir dieser Satz aus der Seele und ich ... [weiter]
  • 31.03.2021, 23:14 Uhr von Peter Otto Wolff: Eine sehr zutreffende Beschreibung einer Zerreisprobe der Siebenbürger Gemeinschaft. Es gab keine ... [weiter]

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