29. Mai 2021

Der Dichter und Schriftsteller Frieder Schuller in der Reihe „Lebendige Worte“ (XIII)

Frieder Schuller, 1942 in Katzendorf/ Siebenbürgen geboren, studierte erst Theologie, dann Germanistik, war Kulturredakteur und Theaterdramaturg, 1978 Auswanderung. Mehrere Gedichtsammlungen, Theaterstücke und Drehbücher. 1986 Andreas-Gryphius-Preis, zweimal die Filmförderprämie des Bundesinnenministeriums, Dokumentar- und Spielfilme. Initiator des Kulturtreffens Dorfschreiber von Katzendorf.
Drei Fragen an den Autor

Gibt es nicht schon zu viele Romane über Siebenbürgen?

Langweilige bestimmt.

Wie garantieren Sie, dass Ihr Roman nicht noch langweiliger ist?

Mit der Angst vor den erzählten Geschichten. Oskar Pastior gestand, er habe Angst vor unerfundenen Geschichten. Meinem Roman haben die gelebten Geschichten aufgelauert.

Der Roman wird den Titel „Draculescu“ tragen. Ist das eine neue Heimatverbundenheit?

Ein Spiel mit alten Karten, die neu gemischt werden. Und viele Legenden aus dem Kommunismus.

Inhalt

Erst will ein tüchtiger Bestatter die verlassenen Friedhöfe in Siebenbürgen gewinnbringend ausnutzen, dann werden angebliche Antiquitäten über die Grenzen transportiert und zuletzt fahren nur noch Geschichten hin und her. Dazwischen der junge Rolf Helter, dem zweimal die Liebe entgleitet, sich dann gerne für Luminița, eine Roma, entscheidet, deren kleiner Sohn eigentlich sein Bruder ist. Das gegenwärtige Siebenbürgen in Rumänien würfelt Schicksale von früher und heute noch immer einfallsreich durcheinander.

Textauszug

Vorabdruck aus dem Roman „Draculescu“, dessen Handlung auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Zeiten vor allem in Siebenbürgen spielt. Hier ein Abschied vom Leben.

Das Hauptlied

Pfarrer Franz Ehrlicher saß in seinem Kirchengestühl wie am Lenkrad eines müden Omnibusses, den er auf abgelegener Landstraße zum fernen Ausflugsort Gott steuerte. Seine Fahrgäste waren immer die gleichen, die gebückten Dorfbewohner mit dem Gesangbuch in der Hand. Die Orgel surrte als Motor, der vom Blasebalgtreter auf Touren gehalten wurde. Hoch und tief musste dieser dabei steigen, was ihm Aussichten über die versammelten Köpfe ermöglichte, und er hatte ein scharfes Auge, denn er war auch der Totengräber der Gemeinde. Das tägliche Brot verdiente er sich als Nachtwächter auf der Kollektivwirtschaft. Ehrlicher bückte sich ebenfalls über sein Gesangbuch, das etwas größer als das der anderen vor ihm auf dem schiefen Pult lag, denn jeder Choral war zusätzlich mit der passenden Notenschrift versehen. Ja, sein Gesangbuch war eine Art Straßenkarte. Man fuhr die holprige erste Strophe des Hauptliedes entlang, und die Zahlen auf dem ausgehängten Holztäfelchen waren der Wegweiser zu weiteren elf Strophen. Die versammelten Frauen und Männer nahmen das mit Gleichmut hin, man war es gewohnt, dass Wege lang sind, ob sie nun aufs Feld, zu den Behörden oder zum lieben Gott führten. Langsam stellte man sich der frommen Last der Verse und nur beim Absingen ausgedehnter Wörter wie Barmherzigkeit oder Seelenfrieden hob man schon einmal den Blick und sah über den Brillenrand in die Runde. Alle saßen auf ererbten Plätzen, einer wusste alles über den andern, und nur weil die Zeiten verlogen und hinterhältig waren, rückten sie notgedrungen aneinander. Die Kinder durften nach der Liturgie und vor dem Hauptlied den Gottesdienst verlassen, ihr Schreien und Spielen wehte von draußen in die Pausen des trägen Gesanges.

Franz Ehrlicher ließ das Lenkrad langsam los, denn er wollte diesmal Ernst machen, seinen Vorsatz durchführen und Klarheit in sein Leben bringen. Dies Leben zerfraßen Zweifel, nicht an Gottes Wort, sondern an der Treue seiner Karin, der jungen Pfarrfrau, die auch an diesem Sonntag dem Gottesdienst wegen Unwohlseins fernblieb. Sein Blut schoss unter dem Ornat zusammen, wenn er an sie dachte und daran, was sie vielleicht in dieser Stunde tat. Denn es war die einzige Stunde in der Woche, in der sie ungestört allein im Pfarrhaus sein konnte. Ihr Mann begab sich schon mehrmals in diesem Jahr ohne seine Frau Karin zum sonntäglichen Gottesdienst, und das sollte nun reichen. In den vier Jahren ihrer Ehe hatte er sie mit einer wohlerzogenen Liebe umgeben, war sie ihm doch ohne Zögern in dies Pfarrhaus gefolgt, irgendwohin in ein Dorf mit dem verschlafenen Namen Taterloch.
Frieder Schuller, fotografiert von seinem Sohn ...
Frieder Schuller, fotografiert von seinem Sohn Kristian
Franz Ehrlicher hatte schon mehrmals die Schritte von seinem Kirchengestühl bis zu Karins Musikzimmer gezählt. Und die Minuten und Sekunden. Nicht bis zum Schlafzimmer, dahingehend wollte er gar nicht denken. Das Musikzimmer aber, es gab darin einen abgedroschenen Flügel eines Wiener K. u. K. Hoflieferanten sowie einen tschechisch-kommunistischen Tesla-Plattenspieler, war schon immer Karins Fliehburg gewesen. Dort errichtete sie Schutzmauern von Schubert-Quartetten und Chopin-Etuden um ihre Träumereien, während er sich im Amtszimmer durch Kirchenbücher wühlte, was in Kollegenkreisen als Doktorarbeit zum Thema Siebenbürgisch-deutsche Familiennamen respektvoll die Runde machte. Diese Strecke zwischen Kirche und Pfarrhaus kannte er genau nach Schritten und Minuten. Die einzige Unbekannte war der Agronomieingenieur mit seinem entwaffnenden Lachen unter dem schwarzen Schnurrbart. Im Pfarrhaus musste er ihn bisher nur zweimal begrüßen. Einmal, weil er vor dem Schlafzimmerfenster einen Rosenstock kenntnisreich in die Erde platzierte, damit man ja nicht denke, er treibe es nur mit Zuckerrüben und Luzerne, ein andermal, als er Karin in die Stadt mitgenommen hatte, besaß er doch ein Auto, was im abgelegenen Taterloch kein Nachteil war. Seinen rumänischen Charme versprühte er trotz Missernten und unerfüllten Planziffern über Partei wie über Frauen, was bei einem in siebenbürgischen Familiennamen stochernden Dorfpfarrer nur auf Argwohn stoßen konnte. Und Karin sprach ihn schon bei seinem Vornamen an, Radu. Weiter quer durch den Garten, durch Büsche und hohes Gras, direkt vom eingerissenen Zaun bis hin zur Verandatür, und dann nur einen Atemzug bis hin zum Musikzimmer. Auf dieser Route, wo sich zwischen Apfelbäumen ein verlassenes Bienenhaus befand, in dem jetzt Heu und kein Honig gesammelt wurde, konnte das Pfarrhaus unbemerkt erreicht werden.

In seinem Kirchengestühl spulte Franz Ehrlicher ein letztes Mal sein Kalkül ab. O Durchbrecher aller Bande ist der geeignete Choral für diesen sonntäglich geplanten Ausbruch. Die erste Strophe verbringe ich noch am geistlichen Platz, die zweite Strophe weg in die Sakristei und rasch weiter in den Kirchhof bis hin zum Ziegentürchen in der Kirchenburg. Dann über den verlassenen Schulhof , wo die Pioniere heute kein Defilieren proben für eine vaterländische Feierlichkeit. Im flatternden Ornat möchte ich nicht gesehen werden, und sieht mich jemand, dann bin ich einer vergessenen Amtsmitteilung wegen unterwegs. Die dritte Strophe dürfte noch lange nicht zu Ende sein, wenn ich das Hoftor öffne. Schnurstracks die Freitreppe hinauf in die Diele, weiter ins Wohnzimmer und hinein ins Musikzimmer und in die vierte Strophe. Die Fünfte wird eben von der Orgel wie an den Haaren gezogen loslegen, wenn ich es endlich wissen werde, überrasche ich sie allein mit Brahms und Chopin oder zusammen mit dem Agronomen. Bevor die sechste Strophe des Durchbrechers aller Bande verebbt, weiß ich, was sie treibt, während sie mich als unabkömmlich in der Kirche wähnt. Die nachfolgende siebente und achte Strophe habe ich für verzweifeltes Enttäuschtsein oder zärtliches Wiederfinden programmiert. Laufe ich dem Agronomen in die Arme, dann soll er sehen, wie er ohne blaues Auge davonkommt. Ist er aber nicht da, dieser Spezialist für Mais und Düngemittel, dann reiße ich Karin den Morgenmantel herunter, zelebriere ein Hochamt der Lust und werde mit ihr alle Bande durchbrechen, bis ich bei der neunten Strophe wieder zum anderen Gottesdienst zurück muss. Mit der Zehnten geht es die abgezählten Schritte zurück durch Ziegentürchen und Kirchenburg, doch während der Elften wische ich letzte Schweißspuren vom Gesicht. Und wenn die zwölfte letzte Strophe mühselig zur Neige geht, dann zeige ich mich wieder meiner Gemeinde, die sich nach abgeleistetem Gesang endlich zurücklehnen kann. Steige ich die Kanzel hinauf, soll niemand merken, dass nach dem Verstummen des Hüstelns und Schneuzens ein Wissender predigt. Na dann los.

Der Gemeindebus schob sich nun in festgefahrenen Gleisen entlang, also konnte sich Franz Ehrlicher von dem Führersitz stehlen. Die Kirche lag hinter ihm, das Pfarrhaus vor ihm, und leiser werdend hängte sich der Choral an seine Fersen. Ein schlechtes Gewissen bemächtigten sich seiner, denn wann hat schon ein siebenbürgischer Pfarrer die festgefügte Ordnung eines Gottesdienstes gesprengt und sich während des Hauptliedes aus dem Staub gemacht? Ja warum wollte er der Wahrheit ins Gesicht sehen, die Ungewissheit um Karin bot immer noch eine Chance, hatte sogar ihren Reiz. Wie um seinen Entschluss zu festigen, sang er leise den Choral mit, was ihm wiederum ein berechenbares Verhältnis zur Zeit vermittelte.

Es war, als ob die Mitläufer des Chorals vor der Gartentür Halt machten, denn Franz Ehrlicher befand sich plötzlich allein in einer Stille, die ihn verunsicherte und beängstigte, als ob er ein Dieb und nicht der Bewohner dieses Hauses sei. Trotzdem schob ihn die jetzt nur noch gesummte vierte Strophe des Hauptliedes die Treppe hinauf in die Diele. Er sah die vertraute Umgebung mit dem Gefühl einer fernen Trauer, ja mit einem ersten Abschiedsschmerz. Was auch immer Karin in diesen Minuten tat, es war ungerecht, sie zu überfallen. Ehrlicher zögerte, die Hand auf die Klinke zum Musikzimmer zu legen. Auch enttäuschte ihn die Stille jenseits der Tür, kein Geräusch war zu vernehmen, nicht von Chopin und nicht von einem anderen Besucher. Kurz entschlossen öffnete er die Tür, wobei er noch während des Aufmachens rasch das Anklopfen nachholte.

Karin befand sich nicht im Zimmer. Also doch im Schlafzimmer, hörte sich Franz Ehrlich sagen, und war fast enttäuscht, weil seine Frau ihn nicht allein oder mit einem anderen Mann in dem verdächtigen Musikzimmer erwartete. Also stürzte er ins Schlafzimmer. Doch auch hier verwirrte ihn nur die Leere des ordentlich aufgeräumten Ehebettes. Schon war er nahe daran, nach seiner Frau zu rufen und zu flehen, da verfing sich seine Hand auf einer Stuhllehne in Karins verschwörerischem Morgenmantel. Er nahm ihn als Verbündeten mit auf die Suche, die ihn die Treppe hinunter in den Garten führte. Sein Ornat kämmte das hohe Gras, Vogelgezwitscher verdrängte das raunende Rollen des führerlos dahintreibenden Chorals. Sang sich die Gemeinde die sechste oder siebente Strophe entlang, ihr Pfarrer wusste es nicht, er gehorchte nur dem Morgenmantel in seiner Hand, der ihn zum Bienenhaus zog.

Der Geruch von altem Wachs und frischer Mahd vermischte sich mit einem Parfumschleier. Ein hellrotes Sommerkleid leuchtete im grauen Grün des Heus, doch schwarz an einem Balkennagel hing der Sonntagsanzug des Agronomen. Karin sah ihren Mann mehr bewundernd als ängstlich an. Es war kein Gefühl der Bedrohung sondern das einer Befreiung, welches sie erglühen ließ. Zwei schüchterne Fragen ergaben sich von selbst:

Franz, du hier?
Karin, du das?
Der Agronom, gewohnt das schlechte Gewissen rasch in einem Vorwurf zu verbergen, sah auf seine Armbanduhr, denn hier hatte sich offensichtlich einer in der Zeit geirrt, der aufrecht dastehende Mann oder er im Heu. In diesem Moment musste sich die ferne Organistin an einer falschen Taste vergriffen haben, denn ein verstörter Orgelton huschte vorbei und rief den Pfarrer in seine Sonntagszeit zurück. Wie ein Flüchtender kam Ehrlicher in der Sakristei an, vernahm das Präludieren der Orgel nach dem ausgestandenen Hauptlied, atmete tief durch und bemerkte erst jetzt, dass er Karins Morgenmantel bis hierher mitgebracht hatte. Demütig aber mit erhobenem Haupt betrat er den Kirchenraum, vergaß die Bibel sowie die Predigtnotizen an sich zu nehmen, stieg aber mit neuem Wissen beseelt hinauf zur Kanzel.

Silvester begann als sonniger Tag, der sich am Nachmittag vom Himmel bis zur Erde in Schnee hüllte, denn es schneite und schneite, als wollte sich das alte Jahr unter einem Totentuch verbergen. Franz Ehrlicher stand am Fenster seines Wohnzimmers, sah auf die tiefer liegenden Häuser und dachte an den Jahresbericht, den er nächste Woche in der Pastoralkonferenz abzugeben hatte. Aber vielleicht versank bis dann sein Dorf endgültig im Schnee, man konnte nicht in die Stadt fahren, oder es gab wieder einmal kein Benzin, der Strom würde sowieso über die Feiertage ausfallen. Holz könne er im Kachelofen nachlegen, ging es dem Pfarrer durch den Kopf, aber besser gefiel ihm der nachfolgende Gedanke, das Feuer könne ruhig ausgehen, vereinte dieses Wort doch zwei Gegensätze, das Verlöschen und gleichzeitig das irgendwohin Aufbrechen. Dabei kam er unwiderstehlich beim Namen seines Dorfes an, welcher nun einmal einer Jahrhundertlaune zufolge Taterloch lautete. In einer Stunde wird er die obligate Silvesterandacht hinter sich bringen, seinen Landsleuten alles Gute für das Neue Jahr wünschen und seine Gemeinde wird wie das ganze Land das Schlechte des verflossenen Jahres dem verhassten Staat in die Schuhe schieben. Vorbereitung verlangte dieser kleine Gottesdienst keine, obwohl diesmal vieles anders war als sonst. Auch in diese Abgeschiedenheit waren Nachrichten aus den wild gewordenen Hauptstädten Osteuropas gedrungen, wo die festgefahrenen kommunistischen Regierungen plötzlich den Bach hinunter gingen, ja in der eigenen Hauptstadt Bukarest gab es keinen Diktator mehr, er wurde samt Ehegenossin an die Wand gestellt. Allerdings riet der Dorfmilizionär, der vorsichtshalber lieber eine Pelzmütze als kommunistische Hoheitszeichen auf dem Kopf trug, es vor dem Altar nur bei einem neutralen Gebet zu belassen, noch seien die Würfel nicht endgültig gefallen. Die ein paar Leute, die sich zur Abendvesper einfinden werden, erwarteten von ihrem Pfarrer auch keinen politischen Aufruf, ein bisschen Besinnung mit wohltuenden Seufzern waren ihnen lieber. Und nachher der Schweinsbraten. In seiner Gemeinde wurde geschlachtet und gebacken, er konnte sich hinter seine dicken Wände noch so sehr zurückziehen, immer wieder kam ein Kind oder eine Großmutter mit einem Korb vorbei. Die Besucher blieben nicht lange, hatten nachher auch wenig Neues über ihren Pfarrer zu berichten. Manchmal überhörte er das Klopfen an der Tür, vernahm plötzlich zögernde Frauenschritte in der Diele, und sein Blut raste in den Adern, aber nur vorübergehend, denn wieder war es nur die Tochter des Kirchenvaters oder die Frau des Waldhüters.

Franz Ehrlicher hatte es innerhalb eines halben Jahres geschafft, das Schweigen zu seinem Markenzeichen zu machen. Die sonntägliche Predigt war nun einmal ans Reden gebunden, aber auch die konnte knapp gehalten werden, was für die Kirchenbesucher nicht unbedingt zum Nachteil ausfiel. Zwar schwärmten diese immer noch von einer Predigt im Sommer, mit der ihrem jungen Pfarrer etwas gelungen war, wovon Propagandasekretäre in Parteisitzungen nur träumen konnten, man hörte nämlich hingerissen zu. Worüber er gepredigt hatte, das konnte keiner so genau wiedergeben, denn es gab keinen Bibeltext, der als Ausgangspunkt hergehalten hätte, aber die Worte schlugen ein wie ein Junigewitter, und der leuchtende Blitz war für alle verständlich und sichtbar die Liebe. Nicht die unterkühlte zu Gott, sondern die heiße Liebe zur Frau, sogar Ehefrau.

Das saß, jeder konnte sich seinen Teil nach Hause mitnehmen.

Nach Hause hatte an jenem Junisonntag Franz Ehrlich den Morgenmantel seiner Karin mitgenommen. Dort sollte er bleiben, denn der Hausherr ahnte, den Rest seines Lebens würde er mit diesem letzten Zeichen von Karin verbringen. Im Dorf zerrissen sie sich eine Zeit lang in rumänischer und deutscher Sprache den Mund über die abgehauene Pfarrersfrau, doch alle Dreckschleudern, Schimpfworte und Flüche zerschellten weniger an den Pfarrhausmauern, als vielmehr an der bestens vorgespielten Gleichgültigkeit des Mannes zwischen diesen Mauern.

Nur einmal traf ihn ein namenloser Brief in die Magengegend, der dem Poststempel nach eine viertägige Reise aus der Kreisstadt hinter sich hatte. Wer will, kann deine Hur jetzt haben in der Stadt, war die Nachricht in dem Brief, doch für Ehrlicher war es eine Nachricht wie aus einem Liebesbrief. Das anonyme Papier lag auf dem Schreibtisch seines Amtszimmers, und anstatt die ausgegrabenen Familiennamen seines Völkchens nahm er jetzt jede Silbe des lapidaren Brieftextes auseinander. In seinem Vaterland waren geschriebene Sätze zur Prüderie verdammt, und so schürten diese unzensierten Worte in Franz Ehrlicher eine erotische Glut. Auch wusste er nicht, wie rasch die aufgeflackerte Liebe zum Agronomen für Karin in einer bitteren Enttäuschung endete. In den sieben Monaten seines Alleinseins steigerte sich die Sehnsucht nach Karin in dem Maße, in welchem die Gewissheit zunahm, er werde sie nie wieder umarmen. Das Bienenhaus verklärte er demzufolge zur Kapelle seiner Begierde und gleichzeitigen Trauer, und er spürte, wie beides ihn mit einer zunehmenden Glückseligkeit erfüllte.

Jetzt aber schneite es. Das Feuer war im Kachelofen weg, also ausgegangen, und Franz Ehrlich suchte seine Kirchenrequisiten zusammen, denn die Glocke mahnte ihn zur Arbeit. Die Kälte hatte nachgelassen wie immer, wenn die Flocken unendlich fielen. Franz Ehrlicher ging zum offenen Wandschrank und überlegte, ob er diesmal vielleicht das mit mehreren Füchsen ausgelegte Winterornat anziehen sollte. Nein, er blieb beim Sommerornat, fühlte er sich doch in diesem seiner unter strahlender Sonne abhanden gekommenen Frau am nächsten. Aber geschieden sind wir nicht, sagte er halblaut und mit einem langen Gedankenstrich. Denn eine Scheidung dehnte sich in seinem Vaterland qualvoll in die Länge, weil sich der atheistische Staat und Gott einmal einig waren, was von wem immer zusammengefügt worden war, soll der Mensch nicht wieder trennen.

Er ging aus dem Haus, ohne die Tür abzusperren, konnte er sich doch der sinnlosen Hoffnung nicht verschließen, dass gerade in dieser Stunde, während sich wieder ein Hauptlied in der Kirche dahinschleppte, Karin zu ihm zurückkehrte. In dieselbe Richtung formulierte auch die Organistin ihre Anteilnahme, Herr Pfarrer, die Frau kommt wieder, wenn nicht diese dann eine andere. Dabei war sie nicht einmal eine richtige Organistin. Nach ihrer Pensionierung als Kellnerin hatte sie sich aufs Dorf zurückgezogen, war aber vorher schon von ihrem verstorbenen Mann, einem Stehgeiger, in die Geheimnisse der Klaviatur eingeweiht worden. Zum Nutzen aller fand sie sich auch an der Orgel zurecht, weshalb sie bald den Anspruch erhob, eine Vertraulichkeit mit dem Pfarrer aufkommen zu lassen. Dieser ließ ihren Trost ins Leere laufen, meine Frau ging weg, eine andere erwarte ich nicht.

In die Silvesterandacht brachte der Blasebalgtreter einen Pflaumenschnaps mit. Die Organistin, besorgt jeden Augenblick könnte das Licht abgeschaltet werden, füllte auf dem Notenpult der Orgel ein Passgesuchsformular aus. Zwischendurch stieß sie im Schutz der Empore mit dem Totengräber auf das neue Jahr an, auf eine Revolte im ganzen Land und auf eine neue Pfarrfrau in ihrem Dorf.

Wieder in seinem Haus deckte Franz Ehrlicher den Tisch. Er deckte für zwei Personen, obwohl auf dem Stuhl neben ihm nur ein Morgenmantel lag. Er stellte zwei Gläser auf den Tisch, räumte sie wieder weg, weil er zwei andere, kostbare Kristallgläser aus ererbtem Familienbesitz in dieser Stunde für angebracht hielt. Er aß ohne Hast, trank einige Gläser Wein, legte seine sauber getippte Dissertation über die Funde in siebenbürgischen Kirchenbüchern in den Archivschrank, denn alle wissenschaftlich aufgereihten Familiennamen verhedderten sich doch nur in dem Eigennamen Karin. Er zündete zwei Kerzen an, stellte sie rechts und links vom Plattenspieler, so wie sie auf dem Altar rechts und links von der zerfledderten Dorfbibel standen, und suchte in den zurückgelassenen Schallplatten seiner Frau nach einer angemessenen Musik. Im Osten nichts Neues, also Beethovens Neunte, der vierte Satz. Der Teslaplattenspieler drehte sich mit den letzten Minuten des Jahres um die Wette, während draußen junge Männer besoffen vor Freiheit grölten und in Ermangelung von Knallkörpern Flaschen an die Mauern schmissen. Die Neujahrsglocke überschlug sich vor Freude im Turmgebälk, Grenzen zerrissen, auch Karin befand sich ein zweites Mal auf der Flucht, diesmal in den Westen. Ehrlicher ahnte es, ein ganzes politisches System veränderte sich nur darum, damit seine Frau ihn endlich für immer verlassen kann. Also blieb er seinem Namen treu, nahm das Messer vom zweiten Besteck und schnitt sich die Adern auf, langsam, um dem Tod nicht mit der Tür ins Haus zu fallen.

Als der Nachtwächter der Kollektivwirtschaft den Toten tags darauf fand, war er überzeugt, einen lächelnden Franz Ehrlicher anzutreffen. Auch im Dorf wurde es so erzählt. Die Schallplatte habe sich noch ununterbrochen gedreht. Nur die Nadel sei kaputt gewesen, es war eben ein kommunistischer Plattenspieler. Leider war ihr Pfarrer nun auch ausgewandert.



homeoffice h-moll

meine gedanken spielen fernbedienung
es mauschelt der datenschutz im herzen
vogelscheuchen winken durchs engenthalfenster
fernen mädchen mit dem handy am ohr
sie rufen nicht an
doch ich höre ihr hundertbücheln
schmecke den dunklen zucker der mahala
und erwarte die spiegelfechterei der ahnen
auch wegwarten steckt sich der tod
vorübergehend an den hut
wenn wir ein wiedersehen
im gegenverkehr feiern
längst weiterfahren in leeren personenzügen
gezogen von einer gestickten lokomotive
aus deren schornstein alte melodien steigen
geküsste namen von einst
erstarren als passwort von heute


transilvanian brunch

die kirchenburg wird aufgetragen
ohne den speck des turmes
ohne die zwiebel der kanzel
ohne den wein der orgel
ohne das brot des altars


komm herr nachbar
sei unser gast
und segne was
du eingekauft hast

Frieder Schuller

Schlagwörter: Lebendige Worte, Frieder Schuller, Literatur, Katzendorf, Dorfschreiber

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